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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Ivilbelm Rnabe und Lorlix

liebes Zauberreich ein -- aber daheim ist kaum je einer von ihnen in dem
großen Steingefängnis. Und mit ihren Augen sieht auch der Dichter selbst in
die bunte lärmende Welt, mit Augen, die immer wieder an fernen Himmels¬
rändern nach einer friedlichen Herzensheimat suchen.

So ist gleich Raabes erstes Buch aus der Stille sinnenden Betrachtens
und tief innerlichen Verarbeitens hervorgewachsen: er eilt seinen Jahren weit
voraus bis an die Schwelle des Alters und schaut mit stillen, klugen, gütigen
Augen aus seiner Studierzelle in der alten Spreegasse, der Sperlingsgasse,
wennn in das vielgestaltige Leben der Menschen neben und unter ihm, lebt
ihre Schicksale treu nachbarlich mit. Eine kleine trauliche Gasseuwinkelwelt baut
sich da inmitten der Großstadt eng zusammen, und wo sonst sich jeder an dem
anderen rasch und fremd vorübertreibt, da ist auf einmal einer dem anderen in
alle Lebens- und Herzensuähe gerückt.

Die Chronik war ein Scheidegruß Raabes an seine Studienzeit. Seine
Wege führten ihn nun für lange Jahre immer weiter von ihr weg: im deutschen
Süden hat er sich ja zuerst seinen Herd gegründet. Und wandeln in der nächsten
Zeit wenigstens die Gestalten seiner großen Romane, hin und wieder einmal
über den Boden Berlins, so könnten sie doch immer, was ihnen dort begegnet,
auch anderswo gerade so gut erleben.

Erst in den achtziger Jahren -- Raabe ist indessen um die Zeit des großen
Krieges in die nordische Heimat zurückgekehrt -- haust wieder ein Chronist
eines Raabeschen Buches in der großen Stadt lebenslänglich zur Miete. Er
ist ein naher Verwandter des Johannes Wachholder aus der Sperlingsgasse.
Zwischen den Folianten der Königlichen Bibliothek tut er im Durchspüren mittel¬
alterlicher Historie bedachtsame, unscheinbare Arbeit, anderen zunutze, die sie im
Lärm des politischen Treibens geräuschvoll verwerte:". In nachdenklichen Stunden
sitzt er am Fenster seiner "Stube in der großen Stadt Berlin".

"Über meine Gasse hinweg habe ich die Aussicht in eine andere. Hunderten,
ja Tausenden von Menschen kann ich ins Gesicht sehen, wenn ihr Weg so führt,
und wenn es nur Vergnügen macht. Ein Vergnügen macht es nur jedoch selten.
Aber eine gewisse Regelmäßigkeit des Verkehrs macht sich auch hier geltend.
Es kommt immer zur gegebenen Stunde alles wieder, wie es von seinem Geschick
geleitet wird . . . Aber nur ein einziges immer heiteres, lachendes, glückliches
Gesicht kenne ich darunter, und das ist das eines blinden Knaben. . . Das
einzige glückliche Gesicht unter den Hunderttausenden!"

Die Heimat aber, in der des stillen Betrachters innerstes Sinnen lebt,
liegt weit, weit hinter den Bergen, in den Zaubermäldern eines traumhaft hellen
Lebensmorgens. Für jeden der Jugendgenossen hat der volle Mittag ein
dauerndes Glück heraufgeführt -- für ihn allein war keines übrig, und doch
kommt seinem einsamen Hinaltern alles Licht und alle Wärme aus dem hin¬
gebenden Nacherleben der "süßen und sonnigen, wälderrauschenden, ewige
Frühlings- und Erntefeste feiernden Zeit". Seine Jugendwelt liegt in ewigem


Ivilbelm Rnabe und Lorlix

liebes Zauberreich ein — aber daheim ist kaum je einer von ihnen in dem
großen Steingefängnis. Und mit ihren Augen sieht auch der Dichter selbst in
die bunte lärmende Welt, mit Augen, die immer wieder an fernen Himmels¬
rändern nach einer friedlichen Herzensheimat suchen.

So ist gleich Raabes erstes Buch aus der Stille sinnenden Betrachtens
und tief innerlichen Verarbeitens hervorgewachsen: er eilt seinen Jahren weit
voraus bis an die Schwelle des Alters und schaut mit stillen, klugen, gütigen
Augen aus seiner Studierzelle in der alten Spreegasse, der Sperlingsgasse,
wennn in das vielgestaltige Leben der Menschen neben und unter ihm, lebt
ihre Schicksale treu nachbarlich mit. Eine kleine trauliche Gasseuwinkelwelt baut
sich da inmitten der Großstadt eng zusammen, und wo sonst sich jeder an dem
anderen rasch und fremd vorübertreibt, da ist auf einmal einer dem anderen in
alle Lebens- und Herzensuähe gerückt.

Die Chronik war ein Scheidegruß Raabes an seine Studienzeit. Seine
Wege führten ihn nun für lange Jahre immer weiter von ihr weg: im deutschen
Süden hat er sich ja zuerst seinen Herd gegründet. Und wandeln in der nächsten
Zeit wenigstens die Gestalten seiner großen Romane, hin und wieder einmal
über den Boden Berlins, so könnten sie doch immer, was ihnen dort begegnet,
auch anderswo gerade so gut erleben.

Erst in den achtziger Jahren — Raabe ist indessen um die Zeit des großen
Krieges in die nordische Heimat zurückgekehrt — haust wieder ein Chronist
eines Raabeschen Buches in der großen Stadt lebenslänglich zur Miete. Er
ist ein naher Verwandter des Johannes Wachholder aus der Sperlingsgasse.
Zwischen den Folianten der Königlichen Bibliothek tut er im Durchspüren mittel¬
alterlicher Historie bedachtsame, unscheinbare Arbeit, anderen zunutze, die sie im
Lärm des politischen Treibens geräuschvoll verwerte:«. In nachdenklichen Stunden
sitzt er am Fenster seiner „Stube in der großen Stadt Berlin".

„Über meine Gasse hinweg habe ich die Aussicht in eine andere. Hunderten,
ja Tausenden von Menschen kann ich ins Gesicht sehen, wenn ihr Weg so führt,
und wenn es nur Vergnügen macht. Ein Vergnügen macht es nur jedoch selten.
Aber eine gewisse Regelmäßigkeit des Verkehrs macht sich auch hier geltend.
Es kommt immer zur gegebenen Stunde alles wieder, wie es von seinem Geschick
geleitet wird . . . Aber nur ein einziges immer heiteres, lachendes, glückliches
Gesicht kenne ich darunter, und das ist das eines blinden Knaben. . . Das
einzige glückliche Gesicht unter den Hunderttausenden!"

Die Heimat aber, in der des stillen Betrachters innerstes Sinnen lebt,
liegt weit, weit hinter den Bergen, in den Zaubermäldern eines traumhaft hellen
Lebensmorgens. Für jeden der Jugendgenossen hat der volle Mittag ein
dauerndes Glück heraufgeführt — für ihn allein war keines übrig, und doch
kommt seinem einsamen Hinaltern alles Licht und alle Wärme aus dem hin¬
gebenden Nacherleben der „süßen und sonnigen, wälderrauschenden, ewige
Frühlings- und Erntefeste feiernden Zeit". Seine Jugendwelt liegt in ewigem


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[0424] Ivilbelm Rnabe und Lorlix liebes Zauberreich ein — aber daheim ist kaum je einer von ihnen in dem großen Steingefängnis. Und mit ihren Augen sieht auch der Dichter selbst in die bunte lärmende Welt, mit Augen, die immer wieder an fernen Himmels¬ rändern nach einer friedlichen Herzensheimat suchen. So ist gleich Raabes erstes Buch aus der Stille sinnenden Betrachtens und tief innerlichen Verarbeitens hervorgewachsen: er eilt seinen Jahren weit voraus bis an die Schwelle des Alters und schaut mit stillen, klugen, gütigen Augen aus seiner Studierzelle in der alten Spreegasse, der Sperlingsgasse, wennn in das vielgestaltige Leben der Menschen neben und unter ihm, lebt ihre Schicksale treu nachbarlich mit. Eine kleine trauliche Gasseuwinkelwelt baut sich da inmitten der Großstadt eng zusammen, und wo sonst sich jeder an dem anderen rasch und fremd vorübertreibt, da ist auf einmal einer dem anderen in alle Lebens- und Herzensuähe gerückt. Die Chronik war ein Scheidegruß Raabes an seine Studienzeit. Seine Wege führten ihn nun für lange Jahre immer weiter von ihr weg: im deutschen Süden hat er sich ja zuerst seinen Herd gegründet. Und wandeln in der nächsten Zeit wenigstens die Gestalten seiner großen Romane, hin und wieder einmal über den Boden Berlins, so könnten sie doch immer, was ihnen dort begegnet, auch anderswo gerade so gut erleben. Erst in den achtziger Jahren — Raabe ist indessen um die Zeit des großen Krieges in die nordische Heimat zurückgekehrt — haust wieder ein Chronist eines Raabeschen Buches in der großen Stadt lebenslänglich zur Miete. Er ist ein naher Verwandter des Johannes Wachholder aus der Sperlingsgasse. Zwischen den Folianten der Königlichen Bibliothek tut er im Durchspüren mittel¬ alterlicher Historie bedachtsame, unscheinbare Arbeit, anderen zunutze, die sie im Lärm des politischen Treibens geräuschvoll verwerte:«. In nachdenklichen Stunden sitzt er am Fenster seiner „Stube in der großen Stadt Berlin". „Über meine Gasse hinweg habe ich die Aussicht in eine andere. Hunderten, ja Tausenden von Menschen kann ich ins Gesicht sehen, wenn ihr Weg so führt, und wenn es nur Vergnügen macht. Ein Vergnügen macht es nur jedoch selten. Aber eine gewisse Regelmäßigkeit des Verkehrs macht sich auch hier geltend. Es kommt immer zur gegebenen Stunde alles wieder, wie es von seinem Geschick geleitet wird . . . Aber nur ein einziges immer heiteres, lachendes, glückliches Gesicht kenne ich darunter, und das ist das eines blinden Knaben. . . Das einzige glückliche Gesicht unter den Hunderttausenden!" Die Heimat aber, in der des stillen Betrachters innerstes Sinnen lebt, liegt weit, weit hinter den Bergen, in den Zaubermäldern eines traumhaft hellen Lebensmorgens. Für jeden der Jugendgenossen hat der volle Mittag ein dauerndes Glück heraufgeführt — für ihn allein war keines übrig, und doch kommt seinem einsamen Hinaltern alles Licht und alle Wärme aus dem hin¬ gebenden Nacherleben der „süßen und sonnigen, wälderrauschenden, ewige Frühlings- und Erntefeste feiernden Zeit". Seine Jugendwelt liegt in ewigem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/424>, abgerufen am 10.06.2024.