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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Dmitri Mereshkowsky

lichen Anstoß zu nehmen, war leicht. Viel schwieriger erschien es dagegen,
diesem Werk ein zweites an die Seite zu stellen, das von ganz anderen Vor¬
aussetzungen ausgeht und zu ungleich breiteren Schichten des Publikums spricht.

Für das, was Oskar Wilde in seinem erwähnten Gespräch als Kritik
bezeichnet und als gleichberechtigte Kunst im System des Schönen verherrlicht,
sehlt es unserm Sprachgebrauch an einem bestimmten, charakteristischen Wort.
Aber die Sache selbst ist völlig klar und Mereshkowsky hat dafür mit seinem
Buch über Leonardo ein vollendetes Beispiel geliefert. Die Bezeichnung, die
er ihm selbst gegeben hat: "Historischer Roman aus der Wende des fünfzehnten
Jahrhunderts", führt einigermaßen abseits und erinnert an jene künstlerischen
Fehlgeburten, bei denen eine Messerspitze voll tatsächlicher Überlieferung in einer
Schale voll fabulierender Phantasterei aufgelöst wird. Der Russe unterscheidet
sich von solcher billigen Marktware dadurch, daß er die Zeit, die er schildert,
zur unmittelbaren Gegenwart umzaubert und die Quellen, die er erschlossen
hat, aus einem langen Wege immer frischer aufsprudeln und schließlich sich zu
einem breiten Fluß vereinigen läßt. Seine Beschreibungen des öffentlichen und
häuslichen, des staatlichen und kirchlichen Lebens setzen sich aus zahllosen
Einzelheiten zusammen wie auf Mosaikgemälden, die beim Zurücktreten nicht
als einzelne Steinchen, sondern als Widerschein des unmittelbaren Lebens
wirken. Darin liegt eine Kunst der Malerer, die sich am Größten bewährt,
während ihr gleichzeitig auch das Kleinste nicht zu gering ist. Wie in einem
großen Rhythmus von heranrauschenden, zurückweichenden und wiederkehrenden
breiten Wellen tritt uns der Inhalt dieser Zeit entgegen, in der ebenso für
die höchsten Errungenschaften des Geistes und die idealsten Gebilde der Kunst
wie für Ketzerverbrennungen und wildeste Ausschweifungen Platz war. Wir
begleiten Leonardo durch das letzte Vierteljahrhundert seines Lebens, in dem er
sich innerlich verzehrt in der Glut seines Schaffens, als ob er mit eisernen
Fäusten die Schranken, die der menschlichen Erkenntnis gezogen sind, einreißen
wollte, eine Fnustnatur, für die es keinen Verjüngungstrank gibt, die einsam
und unverstanden durch die Welt schreitet, ihr unfaßlich, unheimlich und gefährlich
erscheint und als Zielscheibe für Neid, Unverstand und Bosheit dient. Das
Tragische einer solchen Persönlichkeit hat Mereshkowsky mit feinem Geschick
dadurch zum Ausdruck gebracht, daß er ihn: in Giovanni Boltraffio einen
Schüler zur Seite stellt, der zu dein Meister zwar in höchster Bewunderung
emporblickt, aber zugleich vor seiner ihm unfaßlichen Größe einen unabweisbaren
geheimen Schreck empfindet, als ob er sich im Bann des Antichrist fühle. In
dem Kampf und Zwiespalt, der seine Seele erfüllt, drückt sich nicht allein der
Unterschied einzelner Persönlichkeiten, sondern der Widerspruch verschiedener
Weltanschauungen und Zeitalter aus. In dem Eröffner solcher weiten geistigen
Perspektiven liegt recht eigentlich die Stärke von Mereshkowsky und die Genug¬
tuung, die der Leser beim Studium seiner Bücher empfindet. Bevor er sein
großes Kulturbild aus der Blüte der italienischen Renaissance veröffentlichte,


Dmitri Mereshkowsky

lichen Anstoß zu nehmen, war leicht. Viel schwieriger erschien es dagegen,
diesem Werk ein zweites an die Seite zu stellen, das von ganz anderen Vor¬
aussetzungen ausgeht und zu ungleich breiteren Schichten des Publikums spricht.

Für das, was Oskar Wilde in seinem erwähnten Gespräch als Kritik
bezeichnet und als gleichberechtigte Kunst im System des Schönen verherrlicht,
sehlt es unserm Sprachgebrauch an einem bestimmten, charakteristischen Wort.
Aber die Sache selbst ist völlig klar und Mereshkowsky hat dafür mit seinem
Buch über Leonardo ein vollendetes Beispiel geliefert. Die Bezeichnung, die
er ihm selbst gegeben hat: „Historischer Roman aus der Wende des fünfzehnten
Jahrhunderts", führt einigermaßen abseits und erinnert an jene künstlerischen
Fehlgeburten, bei denen eine Messerspitze voll tatsächlicher Überlieferung in einer
Schale voll fabulierender Phantasterei aufgelöst wird. Der Russe unterscheidet
sich von solcher billigen Marktware dadurch, daß er die Zeit, die er schildert,
zur unmittelbaren Gegenwart umzaubert und die Quellen, die er erschlossen
hat, aus einem langen Wege immer frischer aufsprudeln und schließlich sich zu
einem breiten Fluß vereinigen läßt. Seine Beschreibungen des öffentlichen und
häuslichen, des staatlichen und kirchlichen Lebens setzen sich aus zahllosen
Einzelheiten zusammen wie auf Mosaikgemälden, die beim Zurücktreten nicht
als einzelne Steinchen, sondern als Widerschein des unmittelbaren Lebens
wirken. Darin liegt eine Kunst der Malerer, die sich am Größten bewährt,
während ihr gleichzeitig auch das Kleinste nicht zu gering ist. Wie in einem
großen Rhythmus von heranrauschenden, zurückweichenden und wiederkehrenden
breiten Wellen tritt uns der Inhalt dieser Zeit entgegen, in der ebenso für
die höchsten Errungenschaften des Geistes und die idealsten Gebilde der Kunst
wie für Ketzerverbrennungen und wildeste Ausschweifungen Platz war. Wir
begleiten Leonardo durch das letzte Vierteljahrhundert seines Lebens, in dem er
sich innerlich verzehrt in der Glut seines Schaffens, als ob er mit eisernen
Fäusten die Schranken, die der menschlichen Erkenntnis gezogen sind, einreißen
wollte, eine Fnustnatur, für die es keinen Verjüngungstrank gibt, die einsam
und unverstanden durch die Welt schreitet, ihr unfaßlich, unheimlich und gefährlich
erscheint und als Zielscheibe für Neid, Unverstand und Bosheit dient. Das
Tragische einer solchen Persönlichkeit hat Mereshkowsky mit feinem Geschick
dadurch zum Ausdruck gebracht, daß er ihn: in Giovanni Boltraffio einen
Schüler zur Seite stellt, der zu dein Meister zwar in höchster Bewunderung
emporblickt, aber zugleich vor seiner ihm unfaßlichen Größe einen unabweisbaren
geheimen Schreck empfindet, als ob er sich im Bann des Antichrist fühle. In
dem Kampf und Zwiespalt, der seine Seele erfüllt, drückt sich nicht allein der
Unterschied einzelner Persönlichkeiten, sondern der Widerspruch verschiedener
Weltanschauungen und Zeitalter aus. In dem Eröffner solcher weiten geistigen
Perspektiven liegt recht eigentlich die Stärke von Mereshkowsky und die Genug¬
tuung, die der Leser beim Studium seiner Bücher empfindet. Bevor er sein
großes Kulturbild aus der Blüte der italienischen Renaissance veröffentlichte,


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[0046] Dmitri Mereshkowsky lichen Anstoß zu nehmen, war leicht. Viel schwieriger erschien es dagegen, diesem Werk ein zweites an die Seite zu stellen, das von ganz anderen Vor¬ aussetzungen ausgeht und zu ungleich breiteren Schichten des Publikums spricht. Für das, was Oskar Wilde in seinem erwähnten Gespräch als Kritik bezeichnet und als gleichberechtigte Kunst im System des Schönen verherrlicht, sehlt es unserm Sprachgebrauch an einem bestimmten, charakteristischen Wort. Aber die Sache selbst ist völlig klar und Mereshkowsky hat dafür mit seinem Buch über Leonardo ein vollendetes Beispiel geliefert. Die Bezeichnung, die er ihm selbst gegeben hat: „Historischer Roman aus der Wende des fünfzehnten Jahrhunderts", führt einigermaßen abseits und erinnert an jene künstlerischen Fehlgeburten, bei denen eine Messerspitze voll tatsächlicher Überlieferung in einer Schale voll fabulierender Phantasterei aufgelöst wird. Der Russe unterscheidet sich von solcher billigen Marktware dadurch, daß er die Zeit, die er schildert, zur unmittelbaren Gegenwart umzaubert und die Quellen, die er erschlossen hat, aus einem langen Wege immer frischer aufsprudeln und schließlich sich zu einem breiten Fluß vereinigen läßt. Seine Beschreibungen des öffentlichen und häuslichen, des staatlichen und kirchlichen Lebens setzen sich aus zahllosen Einzelheiten zusammen wie auf Mosaikgemälden, die beim Zurücktreten nicht als einzelne Steinchen, sondern als Widerschein des unmittelbaren Lebens wirken. Darin liegt eine Kunst der Malerer, die sich am Größten bewährt, während ihr gleichzeitig auch das Kleinste nicht zu gering ist. Wie in einem großen Rhythmus von heranrauschenden, zurückweichenden und wiederkehrenden breiten Wellen tritt uns der Inhalt dieser Zeit entgegen, in der ebenso für die höchsten Errungenschaften des Geistes und die idealsten Gebilde der Kunst wie für Ketzerverbrennungen und wildeste Ausschweifungen Platz war. Wir begleiten Leonardo durch das letzte Vierteljahrhundert seines Lebens, in dem er sich innerlich verzehrt in der Glut seines Schaffens, als ob er mit eisernen Fäusten die Schranken, die der menschlichen Erkenntnis gezogen sind, einreißen wollte, eine Fnustnatur, für die es keinen Verjüngungstrank gibt, die einsam und unverstanden durch die Welt schreitet, ihr unfaßlich, unheimlich und gefährlich erscheint und als Zielscheibe für Neid, Unverstand und Bosheit dient. Das Tragische einer solchen Persönlichkeit hat Mereshkowsky mit feinem Geschick dadurch zum Ausdruck gebracht, daß er ihn: in Giovanni Boltraffio einen Schüler zur Seite stellt, der zu dein Meister zwar in höchster Bewunderung emporblickt, aber zugleich vor seiner ihm unfaßlichen Größe einen unabweisbaren geheimen Schreck empfindet, als ob er sich im Bann des Antichrist fühle. In dem Kampf und Zwiespalt, der seine Seele erfüllt, drückt sich nicht allein der Unterschied einzelner Persönlichkeiten, sondern der Widerspruch verschiedener Weltanschauungen und Zeitalter aus. In dem Eröffner solcher weiten geistigen Perspektiven liegt recht eigentlich die Stärke von Mereshkowsky und die Genug¬ tuung, die der Leser beim Studium seiner Bücher empfindet. Bevor er sein großes Kulturbild aus der Blüte der italienischen Renaissance veröffentlichte,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/46>, abgerufen am 16.05.2024.