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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Dmitri Mereshkowsky

gewesen, in diese ungeheure Schatzkammer Licht und Ordnung hineinzubringen,
denn hinter jeder neuen Entdeckung verbirgt sich wie hinter einer schwer zu
durchdringenden Mauer ein anderes Wunder und vieles von dem, was er
geschaffen hat, ist unkenntlich entstellt, unwiderbringlich zerstört oder vergessen
worden. Seine Dichtungen und, Improvisationen, mit denen er seine Zeitgenossen
entzückte, haben keine Spuren hinterlassen. Seine Zeichnungen und Entwürfe,
seine physikalischen und mathematischen Schriften mit einer Fülle von Illustrationen
werden in den Bibliotheken von Mailand und Venedig, Paris, London und
Wien wie Heiligtümer behütet. Leonardo war nicht nur einer der größten
Maler, Architekten und Bildhauer, der mit der Frage über die Echtheit seiner
Werke in die europäische Kunstforschung unserer Tage wahre Feuerbrände hinein¬
schleudert, sondern auch ein Erfinder und Ingenieur, der die Geheimnisse des
Vogelflugs zu ergründen und als Vorbild der modernen Aviatiker die Eroberung
der Luft auszuführen versuchte. Einen solchen Gewaltigen in allen Verzweigungen
seines Wesens zu verstehen und ihn künstlerisch zu gestalten, erschien Mereshkowsky
nicht nur als eine im höchsten Maße lockende und lohnende Aufgabe, sondern
als eigentliches Lebenswerk bei dem Ausbau einer ganz bestimmten Welt¬
anschauung, deren Mittelpunkt dieser eine Mann bilden sollte.

Die Gestaltung dieses Themas lag gewissermaßen in der Luft, denn schon
hatte ein anderer unter den kritischen Idealisten Rußlands seine Blicke nach
Italien gewendet und Leonardo da Vinci ein literarisches Denkmal errichtet.
Es ist der temperament- und geistvolle Wolinskij, der sich mit den Großmeistern der
deutschen Philosophie als Übersetzer und Erklärer aufs innigste vertraut fühlt und
von dem Alexander Bruckner in seiner russischen Literaturgeschichte mit Recht sagt,
daß er wirkliche Muster jener ästhetischen Kritik liefere, die den Intentionen des
Künstlers wie der Bedeutung seiner Schöpfungen gerecht wird. Wolinskij hatte
vor zehn Jahren der Kunstwissenschaft den wunderschön ausgestatteten Lexikon¬
band einer erschöpfenden Biographie über Leonardo da Vinci auf den Tisch
gelegt, wie sie in solcher Ausführlichkeit auch in der westeuropäischen Literatur
nicht existierte. Selbst die ein Jahr vorher bei Hachette in Paris erschienene Lebens¬
beschreibung des genialen Meisters der Renaissance von Müntz ist an Illustrationen
und Kupferdrucken bei weitem nicht so reich, obwohl sie fast doppelt so teuer ist
als dieses russische Werk. Die ganze Kritik über den Ursprung der Bilder Leonardos
wird darin auf eine neue wissenschaftliche Grundlage gestellt. Schon an den Händen
erkennt man deutlich, wo seine Arbeit auf den Gemälden aufhört und die seiner
Schiller und Zeitgenossen anfängt. Ebenso interessant ist es, aus dem Abdruck
der Textproben zu ersehen, daß der Künstler alles mit umgekehrten Buchstaben
von rechts nach links schrieb und die Entzifferung seiner Schrift nur durch das
Vorhalten eines Spiegels möglich ist. Wolinskij hat alles, was er über die
Schöpfungen Leonardos sagen will, in die Form eines weit ausgesponnenen
Dialogs zwischen ihm und einem Kunstfreunde gekleidet, dem er auf seinen
Wanderungen begegnet. An dieser Methode als einer nicht streng wisseuschaft-


Grenzbotcn IV 1910 S
Dmitri Mereshkowsky

gewesen, in diese ungeheure Schatzkammer Licht und Ordnung hineinzubringen,
denn hinter jeder neuen Entdeckung verbirgt sich wie hinter einer schwer zu
durchdringenden Mauer ein anderes Wunder und vieles von dem, was er
geschaffen hat, ist unkenntlich entstellt, unwiderbringlich zerstört oder vergessen
worden. Seine Dichtungen und, Improvisationen, mit denen er seine Zeitgenossen
entzückte, haben keine Spuren hinterlassen. Seine Zeichnungen und Entwürfe,
seine physikalischen und mathematischen Schriften mit einer Fülle von Illustrationen
werden in den Bibliotheken von Mailand und Venedig, Paris, London und
Wien wie Heiligtümer behütet. Leonardo war nicht nur einer der größten
Maler, Architekten und Bildhauer, der mit der Frage über die Echtheit seiner
Werke in die europäische Kunstforschung unserer Tage wahre Feuerbrände hinein¬
schleudert, sondern auch ein Erfinder und Ingenieur, der die Geheimnisse des
Vogelflugs zu ergründen und als Vorbild der modernen Aviatiker die Eroberung
der Luft auszuführen versuchte. Einen solchen Gewaltigen in allen Verzweigungen
seines Wesens zu verstehen und ihn künstlerisch zu gestalten, erschien Mereshkowsky
nicht nur als eine im höchsten Maße lockende und lohnende Aufgabe, sondern
als eigentliches Lebenswerk bei dem Ausbau einer ganz bestimmten Welt¬
anschauung, deren Mittelpunkt dieser eine Mann bilden sollte.

Die Gestaltung dieses Themas lag gewissermaßen in der Luft, denn schon
hatte ein anderer unter den kritischen Idealisten Rußlands seine Blicke nach
Italien gewendet und Leonardo da Vinci ein literarisches Denkmal errichtet.
Es ist der temperament- und geistvolle Wolinskij, der sich mit den Großmeistern der
deutschen Philosophie als Übersetzer und Erklärer aufs innigste vertraut fühlt und
von dem Alexander Bruckner in seiner russischen Literaturgeschichte mit Recht sagt,
daß er wirkliche Muster jener ästhetischen Kritik liefere, die den Intentionen des
Künstlers wie der Bedeutung seiner Schöpfungen gerecht wird. Wolinskij hatte
vor zehn Jahren der Kunstwissenschaft den wunderschön ausgestatteten Lexikon¬
band einer erschöpfenden Biographie über Leonardo da Vinci auf den Tisch
gelegt, wie sie in solcher Ausführlichkeit auch in der westeuropäischen Literatur
nicht existierte. Selbst die ein Jahr vorher bei Hachette in Paris erschienene Lebens¬
beschreibung des genialen Meisters der Renaissance von Müntz ist an Illustrationen
und Kupferdrucken bei weitem nicht so reich, obwohl sie fast doppelt so teuer ist
als dieses russische Werk. Die ganze Kritik über den Ursprung der Bilder Leonardos
wird darin auf eine neue wissenschaftliche Grundlage gestellt. Schon an den Händen
erkennt man deutlich, wo seine Arbeit auf den Gemälden aufhört und die seiner
Schiller und Zeitgenossen anfängt. Ebenso interessant ist es, aus dem Abdruck
der Textproben zu ersehen, daß der Künstler alles mit umgekehrten Buchstaben
von rechts nach links schrieb und die Entzifferung seiner Schrift nur durch das
Vorhalten eines Spiegels möglich ist. Wolinskij hat alles, was er über die
Schöpfungen Leonardos sagen will, in die Form eines weit ausgesponnenen
Dialogs zwischen ihm und einem Kunstfreunde gekleidet, dem er auf seinen
Wanderungen begegnet. An dieser Methode als einer nicht streng wisseuschaft-


Grenzbotcn IV 1910 S
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/45>, abgerufen am 16.05.2024.