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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Avitische Aufsätze

Meineid als qualifizierten Betrug. Mag diese Rechtsauffassung auch vor der
heutigen Wissenschaft nicht mehr bestehen können, so bleibt die bahnbrechende
Neuerung Josephs des Zweiten, daß nicht mehr der Meineid, sondern die falsche
Beweisaussage im Prozeß bestraft wird. War damit auch der Bann des alten
Prinzips gebrochen und folgte die Strafgesetzgebung der Napoleonischen Zeit in
der Auffassung, daß der Meineid kein Religionsvergehen mehr sei, so sind wir
hundert Jahre später bei Schaffung des Deutschen Reichsstrafgesetzbuchs, wie
oben gezeigt, wieder zur Bestrafung des Meineids als Neligionsdeliktes zurück¬
gekehrt. Der Vorentwurf bringt nun freilich, wie ebenfalls schon bemerkt, den
Meineid unter den Verbrechen in Beziehung auf die Rechtspflege, aber der
Vorentwurf der Strafprozeßordnung hat an der Zeugennorm des Zeugeneides,
welche der Richter künftig vorspricht:

"Sie schwören bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß Sie
nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt, nichts verschwiegen und
nichts hinzugesetzt haben"

und an der Eidesformel, welche der Zeuge nachspricht:

"Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe"

nichts geändert. Auch die am 1. April d. Is. in Kraft getretene Novelle zur
Zivilprozeßordnuug hat für Parteien wie Zeugen den alten Eid unter Anrufung
Gottes beibehalten. Nun ließe sich freilich noch denken, daß man die religiöse
Eidesform gewahrt habe, daß man aber in Meineide nicht die Verletzung der
Religion, sondern nur die Verletzung der Sicherheit der Rechtspflege ahnde.
Allein dem steht die verschiedene Bestrafung der falschen eidlichen und der falschen
uneidlichen Aussage entgegen. Es ist gewiß mit Genugtuung zu begrüßen, daß
endlich auch Zeugen und Sachverständige, welche, vor einer zu ihrer eidlichen Ver¬
nehmung zuständigen Behörde uneidlich vernommen, wissentlich falsch ausgesagt
haben, hierfür bestraft werden. Das dreiste Anlügen des Ermittelungsrichters
und Untersuchungsrichters, welches bisher genügend rechtskundige Personen bei
ihrer uneidlichen Vernehmung gewagt haben, muß dringend ein Ende finden.
Indessen, wie ist es rechtsphilosophisch und rechtstechnisch zu bewerten, wenn der
wissentliche Meineid mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren und bei mildernden
Umständen mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft wird, die falsche
uneidliche Aussage aber mit Gefängnis von einem Tage bis zu drei Jahren,
bei mildernden Umständen sogar nur mit Haft bis zu einem Jahre? Käme die
Verletzung des im Eide liegenden religiösen Moments bei ersterer Bestrafung
nicht in Betracht, so wäre nicht einzusehen, warum eine Verschiedenheit der
Bestrafung existieren soll. Die Intensität des auf Irreführung der staatlichen
Rechtspflege gerichteten Willens ist bei dem vor dem Untersuchungsrichter falsch
Aussagenden die gleiche wie bei dem Zeugen der Hauptverhandlung; auch hat
der Staat schon in jenem Stadium die gleiche Pflicht der Wahrheitserforschung
wie in diesen:: wem das Betreten der Anklagebank erspart werden kann, dein
soll es auch erspart werden. Ist also der Eid ein stärkeres Mittel zur Erforschung


Avitische Aufsätze

Meineid als qualifizierten Betrug. Mag diese Rechtsauffassung auch vor der
heutigen Wissenschaft nicht mehr bestehen können, so bleibt die bahnbrechende
Neuerung Josephs des Zweiten, daß nicht mehr der Meineid, sondern die falsche
Beweisaussage im Prozeß bestraft wird. War damit auch der Bann des alten
Prinzips gebrochen und folgte die Strafgesetzgebung der Napoleonischen Zeit in
der Auffassung, daß der Meineid kein Religionsvergehen mehr sei, so sind wir
hundert Jahre später bei Schaffung des Deutschen Reichsstrafgesetzbuchs, wie
oben gezeigt, wieder zur Bestrafung des Meineids als Neligionsdeliktes zurück¬
gekehrt. Der Vorentwurf bringt nun freilich, wie ebenfalls schon bemerkt, den
Meineid unter den Verbrechen in Beziehung auf die Rechtspflege, aber der
Vorentwurf der Strafprozeßordnung hat an der Zeugennorm des Zeugeneides,
welche der Richter künftig vorspricht:

„Sie schwören bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß Sie
nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt, nichts verschwiegen und
nichts hinzugesetzt haben"

und an der Eidesformel, welche der Zeuge nachspricht:

„Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe"

nichts geändert. Auch die am 1. April d. Is. in Kraft getretene Novelle zur
Zivilprozeßordnuug hat für Parteien wie Zeugen den alten Eid unter Anrufung
Gottes beibehalten. Nun ließe sich freilich noch denken, daß man die religiöse
Eidesform gewahrt habe, daß man aber in Meineide nicht die Verletzung der
Religion, sondern nur die Verletzung der Sicherheit der Rechtspflege ahnde.
Allein dem steht die verschiedene Bestrafung der falschen eidlichen und der falschen
uneidlichen Aussage entgegen. Es ist gewiß mit Genugtuung zu begrüßen, daß
endlich auch Zeugen und Sachverständige, welche, vor einer zu ihrer eidlichen Ver¬
nehmung zuständigen Behörde uneidlich vernommen, wissentlich falsch ausgesagt
haben, hierfür bestraft werden. Das dreiste Anlügen des Ermittelungsrichters
und Untersuchungsrichters, welches bisher genügend rechtskundige Personen bei
ihrer uneidlichen Vernehmung gewagt haben, muß dringend ein Ende finden.
Indessen, wie ist es rechtsphilosophisch und rechtstechnisch zu bewerten, wenn der
wissentliche Meineid mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren und bei mildernden
Umständen mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft wird, die falsche
uneidliche Aussage aber mit Gefängnis von einem Tage bis zu drei Jahren,
bei mildernden Umständen sogar nur mit Haft bis zu einem Jahre? Käme die
Verletzung des im Eide liegenden religiösen Moments bei ersterer Bestrafung
nicht in Betracht, so wäre nicht einzusehen, warum eine Verschiedenheit der
Bestrafung existieren soll. Die Intensität des auf Irreführung der staatlichen
Rechtspflege gerichteten Willens ist bei dem vor dem Untersuchungsrichter falsch
Aussagenden die gleiche wie bei dem Zeugen der Hauptverhandlung; auch hat
der Staat schon in jenem Stadium die gleiche Pflicht der Wahrheitserforschung
wie in diesen:: wem das Betreten der Anklagebank erspart werden kann, dein
soll es auch erspart werden. Ist also der Eid ein stärkeres Mittel zur Erforschung


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[0481] Avitische Aufsätze Meineid als qualifizierten Betrug. Mag diese Rechtsauffassung auch vor der heutigen Wissenschaft nicht mehr bestehen können, so bleibt die bahnbrechende Neuerung Josephs des Zweiten, daß nicht mehr der Meineid, sondern die falsche Beweisaussage im Prozeß bestraft wird. War damit auch der Bann des alten Prinzips gebrochen und folgte die Strafgesetzgebung der Napoleonischen Zeit in der Auffassung, daß der Meineid kein Religionsvergehen mehr sei, so sind wir hundert Jahre später bei Schaffung des Deutschen Reichsstrafgesetzbuchs, wie oben gezeigt, wieder zur Bestrafung des Meineids als Neligionsdeliktes zurück¬ gekehrt. Der Vorentwurf bringt nun freilich, wie ebenfalls schon bemerkt, den Meineid unter den Verbrechen in Beziehung auf die Rechtspflege, aber der Vorentwurf der Strafprozeßordnung hat an der Zeugennorm des Zeugeneides, welche der Richter künftig vorspricht: „Sie schwören bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß Sie nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt, nichts verschwiegen und nichts hinzugesetzt haben" und an der Eidesformel, welche der Zeuge nachspricht: „Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe" nichts geändert. Auch die am 1. April d. Is. in Kraft getretene Novelle zur Zivilprozeßordnuug hat für Parteien wie Zeugen den alten Eid unter Anrufung Gottes beibehalten. Nun ließe sich freilich noch denken, daß man die religiöse Eidesform gewahrt habe, daß man aber in Meineide nicht die Verletzung der Religion, sondern nur die Verletzung der Sicherheit der Rechtspflege ahnde. Allein dem steht die verschiedene Bestrafung der falschen eidlichen und der falschen uneidlichen Aussage entgegen. Es ist gewiß mit Genugtuung zu begrüßen, daß endlich auch Zeugen und Sachverständige, welche, vor einer zu ihrer eidlichen Ver¬ nehmung zuständigen Behörde uneidlich vernommen, wissentlich falsch ausgesagt haben, hierfür bestraft werden. Das dreiste Anlügen des Ermittelungsrichters und Untersuchungsrichters, welches bisher genügend rechtskundige Personen bei ihrer uneidlichen Vernehmung gewagt haben, muß dringend ein Ende finden. Indessen, wie ist es rechtsphilosophisch und rechtstechnisch zu bewerten, wenn der wissentliche Meineid mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren und bei mildernden Umständen mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft wird, die falsche uneidliche Aussage aber mit Gefängnis von einem Tage bis zu drei Jahren, bei mildernden Umständen sogar nur mit Haft bis zu einem Jahre? Käme die Verletzung des im Eide liegenden religiösen Moments bei ersterer Bestrafung nicht in Betracht, so wäre nicht einzusehen, warum eine Verschiedenheit der Bestrafung existieren soll. Die Intensität des auf Irreführung der staatlichen Rechtspflege gerichteten Willens ist bei dem vor dem Untersuchungsrichter falsch Aussagenden die gleiche wie bei dem Zeugen der Hauptverhandlung; auch hat der Staat schon in jenem Stadium die gleiche Pflicht der Wahrheitserforschung wie in diesen:: wem das Betreten der Anklagebank erspart werden kann, dein soll es auch erspart werden. Ist also der Eid ein stärkeres Mittel zur Erforschung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/481>, abgerufen am 05.06.2024.