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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Im Flecken

Der Kaufmann sah die Tochter mit einem eigentümlichen Blick an. Es lag
Spott und Vorwurf in dem Blick. Er sagte nichts, aber Marja verstand, was
er über ihre Vernachlässigung der Freundin im Unglück dachte. Sie zog die
Brauen in die Höhe und lehnte sich an die Ofenkante.

Olga überwand erst einige Verlegenheit und bat dann mit kurzen Worten
um die Stelle der Hilfslehrerin an der Mädchenschule, welche noch unbesetzt sei,
wie sie gehört habe.

Botscharow schwieg einen Augenblick, nachdem sie geredet hatte. Er betrachtete
sie nachdenklich.

"Und das ist alles!" meinte er dann. "Ich habe dir freilich einmal im
Scherz selbst davon gesprochen. Weißt du aber auch, wieviel dafür gezahlt wird?"

Sie nickte zustimmend.

"Einhundertachtzig Rubel im Jahr, nicht mehr."
"

"Ja, sagte sie.

"Du mußt dafür der alten Lehrerin einen Teil des Unterrichts abnehmen,
und wenn sie krank ist, ganz ihre Stelle vertreten."

"Ja, ich weiß, wie Herr Okolitsch in der Knabenschule."

"Ja. Und du denkst, daß das ein vorteilhafter Handel sei?"

Sie lächelte.

"Es ist doch immer etwas, und ich tue es gern. Ich wollte schon damals,
aber Papa erlaubte es nicht."

"Was sagt er jetzt?"

"Er wollte wieder nicht. Zuletzt gab er nach, als ich ihn drängte."

"Ich bitte sehr darum, Tit Grigorjewitsch," fuhr sie fort, als er schwieg. "Ich
wäre Ihnen so dankbar, und ich werde gewissenhaft und fleißig sein."

"Ja, ja," sprach er bereitwillig, "wenn du es verlangst, hast du die Stelle.
Du magst, wenn du es wünschest, noch heute anfangen. Mit dem Schulinspektor
werde ich die Sache ins reine bringen. Aber, aber --"

Er schüttelte den Kopf.

"Ich danke Ihnen von ganzem Herzen," sagte sie aufstehend und reichte ihm
die Hand.

Er begleitete sie in das Vorzimmer, half ihr selbst das Müntelchen um¬
legen und reichte ihr den Schirm. Marja drückte ihr mit verlegener Miene einen
Kuß auf die Lippen, und hinaus war sie.

Botscharow brummte etwas vor sich hin, während er in das Kabinett zurück¬
kehrte. Verstehen konnte Marja es nicht, aber es klang unfreundlich.

"Papa, ich habe die Stelle!" rief Olga freudig, als sie zu Hause ankam, und
fiel dem Vater um den Hals. "Tit Grigorjewitsch war so liebenswürdig! Du
kannst es dir gar nicht denken. Papa."

Er seufzte gedrückt.




Sie wanderte nun jeden Morgen mit ihren Heften oder Büchern unter dem
Arme zur Schule, und da sie pünktlich war wie ein Uhrwerk, traf sie gewöhnlich
mit Okolitsch zusammen, der ebenso genau die Zeit einhielt und stets um dieselbe
Minute aus seiner Haustür trat, begleitet von Bol, wie sie vom Vater begleitet


Grenzboten IV 1910 73
Im Flecken

Der Kaufmann sah die Tochter mit einem eigentümlichen Blick an. Es lag
Spott und Vorwurf in dem Blick. Er sagte nichts, aber Marja verstand, was
er über ihre Vernachlässigung der Freundin im Unglück dachte. Sie zog die
Brauen in die Höhe und lehnte sich an die Ofenkante.

Olga überwand erst einige Verlegenheit und bat dann mit kurzen Worten
um die Stelle der Hilfslehrerin an der Mädchenschule, welche noch unbesetzt sei,
wie sie gehört habe.

Botscharow schwieg einen Augenblick, nachdem sie geredet hatte. Er betrachtete
sie nachdenklich.

„Und das ist alles!" meinte er dann. „Ich habe dir freilich einmal im
Scherz selbst davon gesprochen. Weißt du aber auch, wieviel dafür gezahlt wird?"

Sie nickte zustimmend.

„Einhundertachtzig Rubel im Jahr, nicht mehr."
"

„Ja, sagte sie.

„Du mußt dafür der alten Lehrerin einen Teil des Unterrichts abnehmen,
und wenn sie krank ist, ganz ihre Stelle vertreten."

„Ja, ich weiß, wie Herr Okolitsch in der Knabenschule."

„Ja. Und du denkst, daß das ein vorteilhafter Handel sei?"

Sie lächelte.

„Es ist doch immer etwas, und ich tue es gern. Ich wollte schon damals,
aber Papa erlaubte es nicht."

„Was sagt er jetzt?"

„Er wollte wieder nicht. Zuletzt gab er nach, als ich ihn drängte."

„Ich bitte sehr darum, Tit Grigorjewitsch," fuhr sie fort, als er schwieg. „Ich
wäre Ihnen so dankbar, und ich werde gewissenhaft und fleißig sein."

„Ja, ja," sprach er bereitwillig, „wenn du es verlangst, hast du die Stelle.
Du magst, wenn du es wünschest, noch heute anfangen. Mit dem Schulinspektor
werde ich die Sache ins reine bringen. Aber, aber —"

Er schüttelte den Kopf.

„Ich danke Ihnen von ganzem Herzen," sagte sie aufstehend und reichte ihm
die Hand.

Er begleitete sie in das Vorzimmer, half ihr selbst das Müntelchen um¬
legen und reichte ihr den Schirm. Marja drückte ihr mit verlegener Miene einen
Kuß auf die Lippen, und hinaus war sie.

Botscharow brummte etwas vor sich hin, während er in das Kabinett zurück¬
kehrte. Verstehen konnte Marja es nicht, aber es klang unfreundlich.

„Papa, ich habe die Stelle!" rief Olga freudig, als sie zu Hause ankam, und
fiel dem Vater um den Hals. „Tit Grigorjewitsch war so liebenswürdig! Du
kannst es dir gar nicht denken. Papa."

Er seufzte gedrückt.




Sie wanderte nun jeden Morgen mit ihren Heften oder Büchern unter dem
Arme zur Schule, und da sie pünktlich war wie ein Uhrwerk, traf sie gewöhnlich
mit Okolitsch zusammen, der ebenso genau die Zeit einhielt und stets um dieselbe
Minute aus seiner Haustür trat, begleitet von Bol, wie sie vom Vater begleitet


Grenzboten IV 1910 73
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[0589] Im Flecken Der Kaufmann sah die Tochter mit einem eigentümlichen Blick an. Es lag Spott und Vorwurf in dem Blick. Er sagte nichts, aber Marja verstand, was er über ihre Vernachlässigung der Freundin im Unglück dachte. Sie zog die Brauen in die Höhe und lehnte sich an die Ofenkante. Olga überwand erst einige Verlegenheit und bat dann mit kurzen Worten um die Stelle der Hilfslehrerin an der Mädchenschule, welche noch unbesetzt sei, wie sie gehört habe. Botscharow schwieg einen Augenblick, nachdem sie geredet hatte. Er betrachtete sie nachdenklich. „Und das ist alles!" meinte er dann. „Ich habe dir freilich einmal im Scherz selbst davon gesprochen. Weißt du aber auch, wieviel dafür gezahlt wird?" Sie nickte zustimmend. „Einhundertachtzig Rubel im Jahr, nicht mehr." " „Ja, sagte sie. „Du mußt dafür der alten Lehrerin einen Teil des Unterrichts abnehmen, und wenn sie krank ist, ganz ihre Stelle vertreten." „Ja, ich weiß, wie Herr Okolitsch in der Knabenschule." „Ja. Und du denkst, daß das ein vorteilhafter Handel sei?" Sie lächelte. „Es ist doch immer etwas, und ich tue es gern. Ich wollte schon damals, aber Papa erlaubte es nicht." „Was sagt er jetzt?" „Er wollte wieder nicht. Zuletzt gab er nach, als ich ihn drängte." „Ich bitte sehr darum, Tit Grigorjewitsch," fuhr sie fort, als er schwieg. „Ich wäre Ihnen so dankbar, und ich werde gewissenhaft und fleißig sein." „Ja, ja," sprach er bereitwillig, „wenn du es verlangst, hast du die Stelle. Du magst, wenn du es wünschest, noch heute anfangen. Mit dem Schulinspektor werde ich die Sache ins reine bringen. Aber, aber —" Er schüttelte den Kopf. „Ich danke Ihnen von ganzem Herzen," sagte sie aufstehend und reichte ihm die Hand. Er begleitete sie in das Vorzimmer, half ihr selbst das Müntelchen um¬ legen und reichte ihr den Schirm. Marja drückte ihr mit verlegener Miene einen Kuß auf die Lippen, und hinaus war sie. Botscharow brummte etwas vor sich hin, während er in das Kabinett zurück¬ kehrte. Verstehen konnte Marja es nicht, aber es klang unfreundlich. „Papa, ich habe die Stelle!" rief Olga freudig, als sie zu Hause ankam, und fiel dem Vater um den Hals. „Tit Grigorjewitsch war so liebenswürdig! Du kannst es dir gar nicht denken. Papa." Er seufzte gedrückt. Sie wanderte nun jeden Morgen mit ihren Heften oder Büchern unter dem Arme zur Schule, und da sie pünktlich war wie ein Uhrwerk, traf sie gewöhnlich mit Okolitsch zusammen, der ebenso genau die Zeit einhielt und stets um dieselbe Minute aus seiner Haustür trat, begleitet von Bol, wie sie vom Vater begleitet Grenzboten IV 1910 73

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/589>, abgerufen am 29.05.2024.