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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Philosophischer Dogmatismus

etwas fast Zweckloses, philosophische Bücher als eine sehr überflüssige Ware
erscheinen.

Aber wer ein Recht hat, so zu urteilen, der kann dieses Recht sich nur
erworben haben durch eingehende Kenntnis der philosophischen Untersuchungen
aller Zeiten, und diese Beschäftigung mit den scharfsinnigsten Gedanken ist weder
leicht abzuschließen, noch gibt sie leicht den Menschen wieder frei, der sich mit
wissenschaftlichem Ernst ihr einmal hingegeben hat. Wer bestritte z. B., daß
ihm fortgesetztes geduldiges Studium vielleicht einen Gedankenkreis aufschließen
könnte, in welchem er eine in sich harmonische, fest begründete Weltanschauung
fände. Und übertrieben ist es sicher, wenn alles in Frage gestellt wird. Es
gibt Lehren, die völlig gesichert sind, wie z. B. die aristotelische Logik; es gibt
seit Cartesius, Locke und Kant keinen Zweifel mehr über den einzig richtigen
Ausgangspunkt für die philosophische Forschung, nämlich das empfindende und
denkende Subjekt selber; es gibt serner unter den philosophischen Parteirichtungen
keine mehr, die nicht in den sicheren Resultaten der positiven Wissenschaften
eine gemeinsame Basis anerkennt. Und endlich, wenn auch die metaphysischen
Probleme bis jetzt nicht in allgemein befriedigender Weise gelöst sind, wie sollten
trotzdem ernstere Gemüter es unterlassen, nachzudenken über das nicht Sinnen-
sällige, über Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt in Raum und Zeit, über
das Wesen des Materiellen, über die Natur der Seele, über den Zweck der
Weltbegebenheiten und ihre Leitung? Die Fragen sind gewaltig, denn sie
berühren zum großen Teil unser Innerstes.

Tatsächlich kennen die sittlich ernsten und philosophisch tief erregten Naturen
nichts, was ihnen mehr am Herzen läge als die wissenschaftlich befriedigende
Lösung dieser metaphysischen Fragen. Sie haben nachgedacht, gezweifelt, Kämpfe
durchgekämpft und doch den Frieden nicht gefunden, doch durch ihre Schlüsse
Gott und die Unsterblichkeit nicht gewonnen; und viele müssen für ihr Denken
beides haben, ihr Leben hängt daran, daß sie es finden. Wer aber um jeden
Preis, auch um den der Klarheit, Gedankenreihen, die zu dogmatischen Philo-
sophemen führen, finden will, findet sie sicherlich. Das Einmaleins der Begriffe
ist gefälliger als das der Zahlen. So ersticken sie mit aller Kraft die Zweifel
des Verstandes und nehmen die Forderungen des Herzens als Wahrheiten an,
nur weil sie so ungestüm und nicht zu beschwichtigen sind. Und das einfache,
inbrünstige Ja, das sie dem widerstrebenden Verstände abgezwungen haben,
gestalten sie dann zu ausführlichen, allerdings in sich widerspruchsvollen Kon¬
struktionen. Diese stützen sie mit demselben Denkvermögen, das freilich nun
gebunden und gefesselt ist, von ihnen aber als ein intuitives oder erleuchtetes
bezeichnet wird. Und doch war früher gerade ihr Denken so hell, daß ihnen
die Augen schmerzten und sie den Glanz nicht zu ertragen vermochten. Sie
hätten gern die lichte Sonne; aber leider spendet diese keine Wärme, wie die
wirkliche Sonne am Himmel. Daher flüchten sie aus ihren Strahlen in die
stillen, behaglichen Räume, vom Kaminfeuer freundlich erwärmt und trübe


Grenzboten IV 1910 76
Philosophischer Dogmatismus

etwas fast Zweckloses, philosophische Bücher als eine sehr überflüssige Ware
erscheinen.

Aber wer ein Recht hat, so zu urteilen, der kann dieses Recht sich nur
erworben haben durch eingehende Kenntnis der philosophischen Untersuchungen
aller Zeiten, und diese Beschäftigung mit den scharfsinnigsten Gedanken ist weder
leicht abzuschließen, noch gibt sie leicht den Menschen wieder frei, der sich mit
wissenschaftlichem Ernst ihr einmal hingegeben hat. Wer bestritte z. B., daß
ihm fortgesetztes geduldiges Studium vielleicht einen Gedankenkreis aufschließen
könnte, in welchem er eine in sich harmonische, fest begründete Weltanschauung
fände. Und übertrieben ist es sicher, wenn alles in Frage gestellt wird. Es
gibt Lehren, die völlig gesichert sind, wie z. B. die aristotelische Logik; es gibt
seit Cartesius, Locke und Kant keinen Zweifel mehr über den einzig richtigen
Ausgangspunkt für die philosophische Forschung, nämlich das empfindende und
denkende Subjekt selber; es gibt serner unter den philosophischen Parteirichtungen
keine mehr, die nicht in den sicheren Resultaten der positiven Wissenschaften
eine gemeinsame Basis anerkennt. Und endlich, wenn auch die metaphysischen
Probleme bis jetzt nicht in allgemein befriedigender Weise gelöst sind, wie sollten
trotzdem ernstere Gemüter es unterlassen, nachzudenken über das nicht Sinnen-
sällige, über Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt in Raum und Zeit, über
das Wesen des Materiellen, über die Natur der Seele, über den Zweck der
Weltbegebenheiten und ihre Leitung? Die Fragen sind gewaltig, denn sie
berühren zum großen Teil unser Innerstes.

Tatsächlich kennen die sittlich ernsten und philosophisch tief erregten Naturen
nichts, was ihnen mehr am Herzen läge als die wissenschaftlich befriedigende
Lösung dieser metaphysischen Fragen. Sie haben nachgedacht, gezweifelt, Kämpfe
durchgekämpft und doch den Frieden nicht gefunden, doch durch ihre Schlüsse
Gott und die Unsterblichkeit nicht gewonnen; und viele müssen für ihr Denken
beides haben, ihr Leben hängt daran, daß sie es finden. Wer aber um jeden
Preis, auch um den der Klarheit, Gedankenreihen, die zu dogmatischen Philo-
sophemen führen, finden will, findet sie sicherlich. Das Einmaleins der Begriffe
ist gefälliger als das der Zahlen. So ersticken sie mit aller Kraft die Zweifel
des Verstandes und nehmen die Forderungen des Herzens als Wahrheiten an,
nur weil sie so ungestüm und nicht zu beschwichtigen sind. Und das einfache,
inbrünstige Ja, das sie dem widerstrebenden Verstände abgezwungen haben,
gestalten sie dann zu ausführlichen, allerdings in sich widerspruchsvollen Kon¬
struktionen. Diese stützen sie mit demselben Denkvermögen, das freilich nun
gebunden und gefesselt ist, von ihnen aber als ein intuitives oder erleuchtetes
bezeichnet wird. Und doch war früher gerade ihr Denken so hell, daß ihnen
die Augen schmerzten und sie den Glanz nicht zu ertragen vermochten. Sie
hätten gern die lichte Sonne; aber leider spendet diese keine Wärme, wie die
wirkliche Sonne am Himmel. Daher flüchten sie aus ihren Strahlen in die
stillen, behaglichen Räume, vom Kaminfeuer freundlich erwärmt und trübe


Grenzboten IV 1910 76
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[0613] Philosophischer Dogmatismus etwas fast Zweckloses, philosophische Bücher als eine sehr überflüssige Ware erscheinen. Aber wer ein Recht hat, so zu urteilen, der kann dieses Recht sich nur erworben haben durch eingehende Kenntnis der philosophischen Untersuchungen aller Zeiten, und diese Beschäftigung mit den scharfsinnigsten Gedanken ist weder leicht abzuschließen, noch gibt sie leicht den Menschen wieder frei, der sich mit wissenschaftlichem Ernst ihr einmal hingegeben hat. Wer bestritte z. B., daß ihm fortgesetztes geduldiges Studium vielleicht einen Gedankenkreis aufschließen könnte, in welchem er eine in sich harmonische, fest begründete Weltanschauung fände. Und übertrieben ist es sicher, wenn alles in Frage gestellt wird. Es gibt Lehren, die völlig gesichert sind, wie z. B. die aristotelische Logik; es gibt seit Cartesius, Locke und Kant keinen Zweifel mehr über den einzig richtigen Ausgangspunkt für die philosophische Forschung, nämlich das empfindende und denkende Subjekt selber; es gibt serner unter den philosophischen Parteirichtungen keine mehr, die nicht in den sicheren Resultaten der positiven Wissenschaften eine gemeinsame Basis anerkennt. Und endlich, wenn auch die metaphysischen Probleme bis jetzt nicht in allgemein befriedigender Weise gelöst sind, wie sollten trotzdem ernstere Gemüter es unterlassen, nachzudenken über das nicht Sinnen- sällige, über Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt in Raum und Zeit, über das Wesen des Materiellen, über die Natur der Seele, über den Zweck der Weltbegebenheiten und ihre Leitung? Die Fragen sind gewaltig, denn sie berühren zum großen Teil unser Innerstes. Tatsächlich kennen die sittlich ernsten und philosophisch tief erregten Naturen nichts, was ihnen mehr am Herzen läge als die wissenschaftlich befriedigende Lösung dieser metaphysischen Fragen. Sie haben nachgedacht, gezweifelt, Kämpfe durchgekämpft und doch den Frieden nicht gefunden, doch durch ihre Schlüsse Gott und die Unsterblichkeit nicht gewonnen; und viele müssen für ihr Denken beides haben, ihr Leben hängt daran, daß sie es finden. Wer aber um jeden Preis, auch um den der Klarheit, Gedankenreihen, die zu dogmatischen Philo- sophemen führen, finden will, findet sie sicherlich. Das Einmaleins der Begriffe ist gefälliger als das der Zahlen. So ersticken sie mit aller Kraft die Zweifel des Verstandes und nehmen die Forderungen des Herzens als Wahrheiten an, nur weil sie so ungestüm und nicht zu beschwichtigen sind. Und das einfache, inbrünstige Ja, das sie dem widerstrebenden Verstände abgezwungen haben, gestalten sie dann zu ausführlichen, allerdings in sich widerspruchsvollen Kon¬ struktionen. Diese stützen sie mit demselben Denkvermögen, das freilich nun gebunden und gefesselt ist, von ihnen aber als ein intuitives oder erleuchtetes bezeichnet wird. Und doch war früher gerade ihr Denken so hell, daß ihnen die Augen schmerzten und sie den Glanz nicht zu ertragen vermochten. Sie hätten gern die lichte Sonne; aber leider spendet diese keine Wärme, wie die wirkliche Sonne am Himmel. Daher flüchten sie aus ihren Strahlen in die stillen, behaglichen Räume, vom Kaminfeuer freundlich erwärmt und trübe Grenzboten IV 1910 76

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/613>, abgerufen am 26.05.2024.