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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Philosophischer Dogmatismus

beleuchtet. Das ist ein besserer Ort, und hier findet sich eine bequemere
Gelegenheit, allerlei Schattenbilder beim flackernden Schein anzustaunen, die in
ihr Nichts verschwinden würden, wenn volles Tageslicht hineinströmte.

Wir rechten nicht mit ihnen; sind es doch tiefste Herzensbedürfnisse gewesen,
die sie durch langes Grübeln, durch bange Zweifel zu ihren philosophischen
Dogmen geführt haben, Herzensbedürfnisse, von denen jedes ernste Menschen¬
gemüt erfüllt ist, ohne sie freilich immer zur Grundlage eines dogmatischen
Wissens zu machen. Aussichtslos ist es ja, mit Verstandesgründen gegen
Meinungen anzukämpfen, die nicht sowohl im Verstände als im Willen ihr
unerschütterliches Fundament haben. Cartestus hat nur zu richtig geurteilt,
wenn er in seiner vierten Meditation sagt: "Die Ursache aller meiner Irrtümer
liegt darin, daß meine Willenskraft weiter reicht als meine Einsicht und ich
die Anwendung jener nicht so einschränke, wie das Maß meiner Einsicht es
fordert, sondern auch über das, was ich nicht einsehe, statt mich des Urteils
zu enthalten, ein Urteil zu fällen mir anmaße." Goldene Worte! Doch hat
sie weder Cartestus in seinen metaphysischen Spekulationen beherzigt, noch irgend¬
ein dogmatischer Philosoph. Denn könnte man die Befolgung dieser Vorschrift
von dem Ganzen eines Systems rühmen, so hätte man in ihm die volle, lautere
Wahrheit; das große Welträtsel wäre der Hauptsache nach gelöst, und die weitere
philosophische Arbeit bestände nur noch in einem Weiterbauen und Ausdauer
auf durchaus sicherem Fundament. Davon aber sind wir weit entfernt -- wie
weit, das wird am besten einleuchten, wenn wir uns nur ein wichtiges philo¬
sophisches Problem und seine Lösungen vergegenwärtigen, ein kosmologisches:
die Frage nach der Substanz aller Dinge.

Woraus besteht die Welt? Das ist die erste Frage, welche die abend¬
ländische Philosophie aufgeworfen und nach mehr als zwei Jahrtausende langem
angestrengten Denken noch nicht so beantwortet hat, daß eine Antwort darauf
als gesichertes philosophisches Dogma gelten könnte. Bestimmt man die Frage
genauer als aus die Menge des Bestehenden gerichtet, so fallen die Antworten
sehr verschieden aus, je nachdem der Philosoph sich zum Monismus, zum
Dualismus oder zum Pluralismus bekennt. Meint man in der Frage die
Qualität des Bestehenden, so erscheint in der Antwort wieder der monistische
oder der dualistische Standpunkt, oder mit Leugnung des Materiellen der
Spiritualismus, mit Leugnung des Immateriellen der Materialismus.

Wenn wir nun mit der Betrachtung der beiden letzten Antworten den
Anfang machen, so ist von der spiritualistischen Weltauffassung zu sagen, daß
sie in der Geschichte der Philosophie als ein fast ganz "einsamer Standpunkt"
erscheint, vertreten durch den englischen Bischof Berkeley im Anfang des acht¬
zehnten Jahrhunderts. Für nicht streng erweisbar hatte die Körperwelt schon
vor ihm Locke, ja schon Augustinus erklärt, für unrichtig aber hielt Berkeley
den Schluß aus unseren Vorstellungen (denn nur diese sind uns unmittelbar
gegeben) auf körperliche Existenzen besonders deshalb, weil ein Zusammenwirken


Philosophischer Dogmatismus

beleuchtet. Das ist ein besserer Ort, und hier findet sich eine bequemere
Gelegenheit, allerlei Schattenbilder beim flackernden Schein anzustaunen, die in
ihr Nichts verschwinden würden, wenn volles Tageslicht hineinströmte.

Wir rechten nicht mit ihnen; sind es doch tiefste Herzensbedürfnisse gewesen,
die sie durch langes Grübeln, durch bange Zweifel zu ihren philosophischen
Dogmen geführt haben, Herzensbedürfnisse, von denen jedes ernste Menschen¬
gemüt erfüllt ist, ohne sie freilich immer zur Grundlage eines dogmatischen
Wissens zu machen. Aussichtslos ist es ja, mit Verstandesgründen gegen
Meinungen anzukämpfen, die nicht sowohl im Verstände als im Willen ihr
unerschütterliches Fundament haben. Cartestus hat nur zu richtig geurteilt,
wenn er in seiner vierten Meditation sagt: „Die Ursache aller meiner Irrtümer
liegt darin, daß meine Willenskraft weiter reicht als meine Einsicht und ich
die Anwendung jener nicht so einschränke, wie das Maß meiner Einsicht es
fordert, sondern auch über das, was ich nicht einsehe, statt mich des Urteils
zu enthalten, ein Urteil zu fällen mir anmaße." Goldene Worte! Doch hat
sie weder Cartestus in seinen metaphysischen Spekulationen beherzigt, noch irgend¬
ein dogmatischer Philosoph. Denn könnte man die Befolgung dieser Vorschrift
von dem Ganzen eines Systems rühmen, so hätte man in ihm die volle, lautere
Wahrheit; das große Welträtsel wäre der Hauptsache nach gelöst, und die weitere
philosophische Arbeit bestände nur noch in einem Weiterbauen und Ausdauer
auf durchaus sicherem Fundament. Davon aber sind wir weit entfernt — wie
weit, das wird am besten einleuchten, wenn wir uns nur ein wichtiges philo¬
sophisches Problem und seine Lösungen vergegenwärtigen, ein kosmologisches:
die Frage nach der Substanz aller Dinge.

Woraus besteht die Welt? Das ist die erste Frage, welche die abend¬
ländische Philosophie aufgeworfen und nach mehr als zwei Jahrtausende langem
angestrengten Denken noch nicht so beantwortet hat, daß eine Antwort darauf
als gesichertes philosophisches Dogma gelten könnte. Bestimmt man die Frage
genauer als aus die Menge des Bestehenden gerichtet, so fallen die Antworten
sehr verschieden aus, je nachdem der Philosoph sich zum Monismus, zum
Dualismus oder zum Pluralismus bekennt. Meint man in der Frage die
Qualität des Bestehenden, so erscheint in der Antwort wieder der monistische
oder der dualistische Standpunkt, oder mit Leugnung des Materiellen der
Spiritualismus, mit Leugnung des Immateriellen der Materialismus.

Wenn wir nun mit der Betrachtung der beiden letzten Antworten den
Anfang machen, so ist von der spiritualistischen Weltauffassung zu sagen, daß
sie in der Geschichte der Philosophie als ein fast ganz „einsamer Standpunkt"
erscheint, vertreten durch den englischen Bischof Berkeley im Anfang des acht¬
zehnten Jahrhunderts. Für nicht streng erweisbar hatte die Körperwelt schon
vor ihm Locke, ja schon Augustinus erklärt, für unrichtig aber hielt Berkeley
den Schluß aus unseren Vorstellungen (denn nur diese sind uns unmittelbar
gegeben) auf körperliche Existenzen besonders deshalb, weil ein Zusammenwirken


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[0614] Philosophischer Dogmatismus beleuchtet. Das ist ein besserer Ort, und hier findet sich eine bequemere Gelegenheit, allerlei Schattenbilder beim flackernden Schein anzustaunen, die in ihr Nichts verschwinden würden, wenn volles Tageslicht hineinströmte. Wir rechten nicht mit ihnen; sind es doch tiefste Herzensbedürfnisse gewesen, die sie durch langes Grübeln, durch bange Zweifel zu ihren philosophischen Dogmen geführt haben, Herzensbedürfnisse, von denen jedes ernste Menschen¬ gemüt erfüllt ist, ohne sie freilich immer zur Grundlage eines dogmatischen Wissens zu machen. Aussichtslos ist es ja, mit Verstandesgründen gegen Meinungen anzukämpfen, die nicht sowohl im Verstände als im Willen ihr unerschütterliches Fundament haben. Cartestus hat nur zu richtig geurteilt, wenn er in seiner vierten Meditation sagt: „Die Ursache aller meiner Irrtümer liegt darin, daß meine Willenskraft weiter reicht als meine Einsicht und ich die Anwendung jener nicht so einschränke, wie das Maß meiner Einsicht es fordert, sondern auch über das, was ich nicht einsehe, statt mich des Urteils zu enthalten, ein Urteil zu fällen mir anmaße." Goldene Worte! Doch hat sie weder Cartestus in seinen metaphysischen Spekulationen beherzigt, noch irgend¬ ein dogmatischer Philosoph. Denn könnte man die Befolgung dieser Vorschrift von dem Ganzen eines Systems rühmen, so hätte man in ihm die volle, lautere Wahrheit; das große Welträtsel wäre der Hauptsache nach gelöst, und die weitere philosophische Arbeit bestände nur noch in einem Weiterbauen und Ausdauer auf durchaus sicherem Fundament. Davon aber sind wir weit entfernt — wie weit, das wird am besten einleuchten, wenn wir uns nur ein wichtiges philo¬ sophisches Problem und seine Lösungen vergegenwärtigen, ein kosmologisches: die Frage nach der Substanz aller Dinge. Woraus besteht die Welt? Das ist die erste Frage, welche die abend¬ ländische Philosophie aufgeworfen und nach mehr als zwei Jahrtausende langem angestrengten Denken noch nicht so beantwortet hat, daß eine Antwort darauf als gesichertes philosophisches Dogma gelten könnte. Bestimmt man die Frage genauer als aus die Menge des Bestehenden gerichtet, so fallen die Antworten sehr verschieden aus, je nachdem der Philosoph sich zum Monismus, zum Dualismus oder zum Pluralismus bekennt. Meint man in der Frage die Qualität des Bestehenden, so erscheint in der Antwort wieder der monistische oder der dualistische Standpunkt, oder mit Leugnung des Materiellen der Spiritualismus, mit Leugnung des Immateriellen der Materialismus. Wenn wir nun mit der Betrachtung der beiden letzten Antworten den Anfang machen, so ist von der spiritualistischen Weltauffassung zu sagen, daß sie in der Geschichte der Philosophie als ein fast ganz „einsamer Standpunkt" erscheint, vertreten durch den englischen Bischof Berkeley im Anfang des acht¬ zehnten Jahrhunderts. Für nicht streng erweisbar hatte die Körperwelt schon vor ihm Locke, ja schon Augustinus erklärt, für unrichtig aber hielt Berkeley den Schluß aus unseren Vorstellungen (denn nur diese sind uns unmittelbar gegeben) auf körperliche Existenzen besonders deshalb, weil ein Zusammenwirken

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/614>, abgerufen am 17.06.2024.