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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Der arme Mann im Tockenburg

"Seht, meine LiebenI Das ist meine Geschichte bis ans den heutigen Tag.
Künftig, so der Herr will und ich lebe, ein Mehrers. Es ist ein Wirrwar -- aber
eben meine Geschichte." -- Ich weiß nicht, warum der Text der neuen bei Meyer
und Jessen in Berlin erschienenen Ausgabe, begleitet von der feurigen Huldigung
Wilbrandts, dieser Schlußworte entbehrt. Es ist kein Zweifel, daß Fueßli diese nicht
"hinzugedichtet" hat. Auch sonst könnten Nörgler die Textgestaltung von Willkürlich¬
keiten nicht freisprechen. Doch philologischer Argwohn ist, wenn man von einem
Geiste wie Brciker spricht, deplaciert. Vor einem solchen dichterischen Exponenten
des Volkstums erblaßt klügelnder Buchstabengeist. Eines weiß ich. Es ist unstatt¬
haft, von einer in der Schweiz so sichtbar werdenden aufsteigenden Entwicklung
volkstümlicher Dichtung von Pestalozzi zu Gotthelf und zu Keller zu reden, ohne
an den Anfang den Namen Ali Bräkers zu stellen, der als Künstler und Dichter
Pestalozzi weit hinter sich läßt und vor Gotthelf voraus hat, daß er nicht schulmeistert.

"Als ich dies Büchlein zu schreiben anfing, dacht' ich Wunder, welch eine
herrlich' Geschicht' voll seltsamer Abenteuer es absetzen würde. Ich Tor! Und
doch -- bei besserem Nachdenken -- was soll ich mich selbst tadeln? Wäre das
nickt Narrheit auf Narrheit gehäuft? Mir ist's, als wenn mir jemand die Hand
zurückzöge." -- Dieser Jemand kann zweifellos nur die gerecht wägende Literatur¬
geschichte sein, in der ich einleitend Sie bat nachzuschauen. Haben Sie das Kapitel
über "den armen Mann im Toggenburg" gefunden? Nein! Aber ein friedliches
Winkelchen mit einer respektvollen Grabinschrift! Nein. Trotz Freytag, trotzdem
E. Götzinger vor zwanzig Jahren schon den Toggenburger feierte. Verehrter!
Die Literaturgeschichte ist eine ehrwürdige Tante! So sauer es ihr wird, sie muß
einen Namen viel geläufiger sprechen lernen. Nicht bloß das. Wenn sie einem
gewissen Ali Bräker aus Toggenburg begegnet, dann hat sie den Hut zu lüften.
Und wenn der ungelenke Toggenburger, was er zwar nicht würde getan haben,
nach seinem Platze auf dem Parnaß fragte, dann hätte sie ihn zu dem Häuflein
derjenigen aus dem achtzehnten Jahrhundert zu führen, die heute leben sollen im
Andenken der Geister. Der Toggenburger ist nun, trotzdem sein Leben oft auf¬
gelegt, immer wieder vergessen worden. Jetzt aber prägt er sich uns mit drei¬
maliger Kraft ein: Er war ein Dichter -- ein Dichter -- ein Dichter.


Dr. <Ld, Aorrod
Veramwortllcher Redakteur: George Tleinow in Berlin-Schöneberg. Verlag: Verlag der Grenzboten G.in.b.H.
in Berlin 8^,11,
Druck! "Der Reichsbote" G, in. b, H, in Berlin LV, 11, Dessau-r Strafe 37.
Der arme Mann im Tockenburg

„Seht, meine LiebenI Das ist meine Geschichte bis ans den heutigen Tag.
Künftig, so der Herr will und ich lebe, ein Mehrers. Es ist ein Wirrwar — aber
eben meine Geschichte." — Ich weiß nicht, warum der Text der neuen bei Meyer
und Jessen in Berlin erschienenen Ausgabe, begleitet von der feurigen Huldigung
Wilbrandts, dieser Schlußworte entbehrt. Es ist kein Zweifel, daß Fueßli diese nicht
„hinzugedichtet" hat. Auch sonst könnten Nörgler die Textgestaltung von Willkürlich¬
keiten nicht freisprechen. Doch philologischer Argwohn ist, wenn man von einem
Geiste wie Brciker spricht, deplaciert. Vor einem solchen dichterischen Exponenten
des Volkstums erblaßt klügelnder Buchstabengeist. Eines weiß ich. Es ist unstatt¬
haft, von einer in der Schweiz so sichtbar werdenden aufsteigenden Entwicklung
volkstümlicher Dichtung von Pestalozzi zu Gotthelf und zu Keller zu reden, ohne
an den Anfang den Namen Ali Bräkers zu stellen, der als Künstler und Dichter
Pestalozzi weit hinter sich läßt und vor Gotthelf voraus hat, daß er nicht schulmeistert.

„Als ich dies Büchlein zu schreiben anfing, dacht' ich Wunder, welch eine
herrlich' Geschicht' voll seltsamer Abenteuer es absetzen würde. Ich Tor! Und
doch — bei besserem Nachdenken — was soll ich mich selbst tadeln? Wäre das
nickt Narrheit auf Narrheit gehäuft? Mir ist's, als wenn mir jemand die Hand
zurückzöge." — Dieser Jemand kann zweifellos nur die gerecht wägende Literatur¬
geschichte sein, in der ich einleitend Sie bat nachzuschauen. Haben Sie das Kapitel
über „den armen Mann im Toggenburg" gefunden? Nein! Aber ein friedliches
Winkelchen mit einer respektvollen Grabinschrift! Nein. Trotz Freytag, trotzdem
E. Götzinger vor zwanzig Jahren schon den Toggenburger feierte. Verehrter!
Die Literaturgeschichte ist eine ehrwürdige Tante! So sauer es ihr wird, sie muß
einen Namen viel geläufiger sprechen lernen. Nicht bloß das. Wenn sie einem
gewissen Ali Bräker aus Toggenburg begegnet, dann hat sie den Hut zu lüften.
Und wenn der ungelenke Toggenburger, was er zwar nicht würde getan haben,
nach seinem Platze auf dem Parnaß fragte, dann hätte sie ihn zu dem Häuflein
derjenigen aus dem achtzehnten Jahrhundert zu führen, die heute leben sollen im
Andenken der Geister. Der Toggenburger ist nun, trotzdem sein Leben oft auf¬
gelegt, immer wieder vergessen worden. Jetzt aber prägt er sich uns mit drei¬
maliger Kraft ein: Er war ein Dichter — ein Dichter — ein Dichter.


Dr. <Ld, Aorrod
Veramwortllcher Redakteur: George Tleinow in Berlin-Schöneberg. Verlag: Verlag der Grenzboten G.in.b.H.
in Berlin 8^,11,
Druck! „Der Reichsbote" G, in. b, H, in Berlin LV, 11, Dessau-r Strafe 37.
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[0652] Der arme Mann im Tockenburg „Seht, meine LiebenI Das ist meine Geschichte bis ans den heutigen Tag. Künftig, so der Herr will und ich lebe, ein Mehrers. Es ist ein Wirrwar — aber eben meine Geschichte." — Ich weiß nicht, warum der Text der neuen bei Meyer und Jessen in Berlin erschienenen Ausgabe, begleitet von der feurigen Huldigung Wilbrandts, dieser Schlußworte entbehrt. Es ist kein Zweifel, daß Fueßli diese nicht „hinzugedichtet" hat. Auch sonst könnten Nörgler die Textgestaltung von Willkürlich¬ keiten nicht freisprechen. Doch philologischer Argwohn ist, wenn man von einem Geiste wie Brciker spricht, deplaciert. Vor einem solchen dichterischen Exponenten des Volkstums erblaßt klügelnder Buchstabengeist. Eines weiß ich. Es ist unstatt¬ haft, von einer in der Schweiz so sichtbar werdenden aufsteigenden Entwicklung volkstümlicher Dichtung von Pestalozzi zu Gotthelf und zu Keller zu reden, ohne an den Anfang den Namen Ali Bräkers zu stellen, der als Künstler und Dichter Pestalozzi weit hinter sich läßt und vor Gotthelf voraus hat, daß er nicht schulmeistert. „Als ich dies Büchlein zu schreiben anfing, dacht' ich Wunder, welch eine herrlich' Geschicht' voll seltsamer Abenteuer es absetzen würde. Ich Tor! Und doch — bei besserem Nachdenken — was soll ich mich selbst tadeln? Wäre das nickt Narrheit auf Narrheit gehäuft? Mir ist's, als wenn mir jemand die Hand zurückzöge." — Dieser Jemand kann zweifellos nur die gerecht wägende Literatur¬ geschichte sein, in der ich einleitend Sie bat nachzuschauen. Haben Sie das Kapitel über „den armen Mann im Toggenburg" gefunden? Nein! Aber ein friedliches Winkelchen mit einer respektvollen Grabinschrift! Nein. Trotz Freytag, trotzdem E. Götzinger vor zwanzig Jahren schon den Toggenburger feierte. Verehrter! Die Literaturgeschichte ist eine ehrwürdige Tante! So sauer es ihr wird, sie muß einen Namen viel geläufiger sprechen lernen. Nicht bloß das. Wenn sie einem gewissen Ali Bräker aus Toggenburg begegnet, dann hat sie den Hut zu lüften. Und wenn der ungelenke Toggenburger, was er zwar nicht würde getan haben, nach seinem Platze auf dem Parnaß fragte, dann hätte sie ihn zu dem Häuflein derjenigen aus dem achtzehnten Jahrhundert zu führen, die heute leben sollen im Andenken der Geister. Der Toggenburger ist nun, trotzdem sein Leben oft auf¬ gelegt, immer wieder vergessen worden. Jetzt aber prägt er sich uns mit drei¬ maliger Kraft ein: Er war ein Dichter — ein Dichter — ein Dichter. Dr. <Ld, Aorrod Veramwortllcher Redakteur: George Tleinow in Berlin-Schöneberg. Verlag: Verlag der Grenzboten G.in.b.H. in Berlin 8^,11, Druck! „Der Reichsbote" G, in. b, H, in Berlin LV, 11, Dessau-r Strafe 37.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/652>, abgerufen am 09.06.2024.