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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Vskcir Jäger

gebend, getan hat. In diesem Sinne denkende Betrachtung zu üben, verschmähte
Jäger nicht; niemand verstand es besser als er. So ist es kein Zufall, daß
fast alles, was er über unsern Beruf geschrieben hat, der Zeit des höheren
Alters angehört, wo er zwar noch selbst in der Arbeit steht, doch auf eine
Fülle von Erfolgen und Erfahrungen zurückblickt und nun von dem, was erstrebt
wurde und was erreicht worden ist, sich und anderen Rechenschaft gibt.

Wenn er dabei immer wieder und mit aller Entschiedenheit Wissenschaft
als die Grundlage, Erziehung zu wissenschaftlichem Denken als die eigentliche
Aufgabe hinstellte, so ließ er doch ebensowenig darüber einen Zweifel, daß
auf der Schule dies alles nicht um seiner selbst willen gepflegt werden soll,
fondern im Hinblick auf die Dienste, welche die zurzeit Lernenden einst als
Männer in: öffentlichen Leben zu leisten haben. Den Vorschlag, daß dem
Gymnasium "Bürgerkunde" als ein besonderes Lehrfach hinzugefügt werde,
hätte Oskar Jäger belächelt. Sein ganzes Wirken war durchtränkt mit staats¬
bürgerlicher Gesinnung. Unwillkürlich floß sie in seinen Unterricht mit ein,
wie in die Gedanken, die er vom Rednerpult seiner Aula bei festlichem Anlaß
der Schulgemeinde ans Herz legte. Es konnte nicht anders sein, weil er
außerhalb des Amtes, im politischen Leben, selbst seinen Mann zu stehen
gewohnt war. Der Ansporn zu patriotischem Denken und Handeln, den ihm
die Studentenzeit gegeben hatte, wirkte fort. Nach wie vor freilich war ihm
der Begriff "patriotisch" nicht gleichbedeutend mit "gouvernemental", doch auch
nicht beschränkt durch die Formeln einer Partei. Jäger gehörte am Rhein zu
den Führern der Nationalliberalen; und doch mochte durch seine Würdigung
politischer Ereignisse, durch sein ruhiges Abwägen streitender Interessen auch
der sich erheben und belehren lassen, der dem Programm dieser Partei nicht
zustimmte oder doch die Auffassung und Anwendung nicht mitmachen wollte,
die es in den besonderen Verhältnissen des westdeutschen Industriegebietes
gefunden hat.

Unter allen politischen Fragen mußten den Schulmann diejenigen am
stärksten zur Teilnahme drängen, die sich auf die Aufgaben bezogen,
welche die Schule im Gesamtleben der Nation zu erfüllen hat. Durch die
tiefgehenden Anregungen, die er in der Jugend empfangen, wie durch die
ausgebreitete Erfahrung, die er als Lehrer gewonnen hatte, war Jäger ein
überzeugter Anhänger des Gymnasiums und mußte in jedem Bestreben, dessen
Lehrplan zu ändern und dem ursprünglichen Sinne zu entfremden, eine Gefahr
für das öffentliche Wohl erblicken. Auf diesen Streitpunkt aber stellte sich leider
der schulpolitische Gegensatz ein. Ob es allgemein der menschlichen Natur
entsprach oder ob Tradition und Eigenart des preußischen Staates daran schuld
war, jedenfalls geschah es so: fast alle die, welche Durchbrechung des Bannes
forderten, den die ererbte äußere Vorherrschaft des Gymnasiums ausübte, meinten
keine wirkliche Freiheit, sondern wünschten im Grunde nichts anderes, als daß
ein neuer, ihrer Ansicht nach zeitgemäßer Lehrplan hergestellt und von der für-


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gebend, getan hat. In diesem Sinne denkende Betrachtung zu üben, verschmähte
Jäger nicht; niemand verstand es besser als er. So ist es kein Zufall, daß
fast alles, was er über unsern Beruf geschrieben hat, der Zeit des höheren
Alters angehört, wo er zwar noch selbst in der Arbeit steht, doch auf eine
Fülle von Erfolgen und Erfahrungen zurückblickt und nun von dem, was erstrebt
wurde und was erreicht worden ist, sich und anderen Rechenschaft gibt.

Wenn er dabei immer wieder und mit aller Entschiedenheit Wissenschaft
als die Grundlage, Erziehung zu wissenschaftlichem Denken als die eigentliche
Aufgabe hinstellte, so ließ er doch ebensowenig darüber einen Zweifel, daß
auf der Schule dies alles nicht um seiner selbst willen gepflegt werden soll,
fondern im Hinblick auf die Dienste, welche die zurzeit Lernenden einst als
Männer in: öffentlichen Leben zu leisten haben. Den Vorschlag, daß dem
Gymnasium „Bürgerkunde" als ein besonderes Lehrfach hinzugefügt werde,
hätte Oskar Jäger belächelt. Sein ganzes Wirken war durchtränkt mit staats¬
bürgerlicher Gesinnung. Unwillkürlich floß sie in seinen Unterricht mit ein,
wie in die Gedanken, die er vom Rednerpult seiner Aula bei festlichem Anlaß
der Schulgemeinde ans Herz legte. Es konnte nicht anders sein, weil er
außerhalb des Amtes, im politischen Leben, selbst seinen Mann zu stehen
gewohnt war. Der Ansporn zu patriotischem Denken und Handeln, den ihm
die Studentenzeit gegeben hatte, wirkte fort. Nach wie vor freilich war ihm
der Begriff „patriotisch" nicht gleichbedeutend mit „gouvernemental", doch auch
nicht beschränkt durch die Formeln einer Partei. Jäger gehörte am Rhein zu
den Führern der Nationalliberalen; und doch mochte durch seine Würdigung
politischer Ereignisse, durch sein ruhiges Abwägen streitender Interessen auch
der sich erheben und belehren lassen, der dem Programm dieser Partei nicht
zustimmte oder doch die Auffassung und Anwendung nicht mitmachen wollte,
die es in den besonderen Verhältnissen des westdeutschen Industriegebietes
gefunden hat.

Unter allen politischen Fragen mußten den Schulmann diejenigen am
stärksten zur Teilnahme drängen, die sich auf die Aufgaben bezogen,
welche die Schule im Gesamtleben der Nation zu erfüllen hat. Durch die
tiefgehenden Anregungen, die er in der Jugend empfangen, wie durch die
ausgebreitete Erfahrung, die er als Lehrer gewonnen hatte, war Jäger ein
überzeugter Anhänger des Gymnasiums und mußte in jedem Bestreben, dessen
Lehrplan zu ändern und dem ursprünglichen Sinne zu entfremden, eine Gefahr
für das öffentliche Wohl erblicken. Auf diesen Streitpunkt aber stellte sich leider
der schulpolitische Gegensatz ein. Ob es allgemein der menschlichen Natur
entsprach oder ob Tradition und Eigenart des preußischen Staates daran schuld
war, jedenfalls geschah es so: fast alle die, welche Durchbrechung des Bannes
forderten, den die ererbte äußere Vorherrschaft des Gymnasiums ausübte, meinten
keine wirkliche Freiheit, sondern wünschten im Grunde nichts anderes, als daß
ein neuer, ihrer Ansicht nach zeitgemäßer Lehrplan hergestellt und von der für-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/71>, abgerufen am 29.05.2024.