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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Gskar Jäger

sorgenden Regierung als der nunmehr gültige eingeführt werde. Daß, wo
jeder nach seiner eignen Fasson soll selig werden können, auch jeder das Recht
haben müßte, sich die ihm gemäße Bildung selbst zu suchen, daran dachte
niemand. Der erlösende Gedanke, den drei vorhandenen höheren Schulen die
gleichen äußeren Rechte zu geben, damit eine jede durch die Tat bewähre, was
sie vermöge, dieser Vorschlag, den zuerst Gallenkamp 1873 auf der Oktober-
Konferenz gemacht hat, wurde kaum beachtet, ja völlig wieder vergessen. Wer
für die Realschule eintrat, stritt gegen das Gymnasium; wer den bildenden
Wert der neueren Sprachen nachweisen wollte, meinte den der alten herab¬
setzen zu müssen. Und dem Angriff entsprach die Abwehr. In diesen Kämpfen
hat auch Oskar Jäger eine kräftige Klinge geschlagen. Und das Gute haben
sie doch gehabt, daß auf jeder Seite das, worin das Wesen und die Lebens¬
kraft der eigenen Schule beruhte, deutlich herausgearbeitet wurde.

Hilflos stand die Unterrichtsverwaltung dem Streite der Meinungen gegen¬
über. Zwar ein Stück richtiger Erkenntnis hat der feinsinnige Gelehrte, der
damals ihr Berater war, besessen und ausgesprochen; aber zu entschlossenem
Handeln war Bonitz nicht der Mann. Als zu Ostern 1882 eine Neuordnung
erfolgte, brachte sie nicht äußere Gleichstellung bei ausgeprägter innerer Ver¬
schiedenheit, sondern den unglücklichen Versuch, durch gegenseitiges Nachgeben
die Lehrpläne einander ähnlicher zu machen und so dem Ziel einer "Einheits¬
schule" entgegenzuführen. Am Realgymnasium, wie die Realschule I. Ordnung
von jetzt ab hieß, wurde das Latein verstärkt, das dort ein Nebenfach gewesen
war, am Gymnasium wurde es erheblich geschwächt. Auch das Griechische
erlitt eine Einbuße. Daß mit dieser Art von Ausgleich keine der streitenden
Gruppen zufrieden war, konnte nicht wundernehmen. Vom Gymnasium aus
hat Oskar Jäger mit scharfem Blick und treffendem Worte das Urteil gesprochen:
Letsrum censeo linZuam I^tuam S8LS restituenäam. Auf der anderen
Seite wurden die Stimmen immer lauter und dringender, die für die modernen
Wissenschaften vermehrten Anteil an der Bildungsarbeit verlangten. Mit sicherem
Gefühl, daß unser höheres Schulwesen nicht wohl geordnet sei und daß geholfen
werden müsse, ließ der junge Kaiser die Konferenz berufen, die im Dezember 1890
in Berlin tagte. Aber sie fand keine befreiende Antwort auf die Fragen, die
ihr gestellt waren. Und die Unterrichtsverwaltung glaubte nichts Besseres tun
zu können, als aufs neue zu vermitteln. Die Lehrpläne von 1891 waren nur
ein weiterer Schritt auf der abschüssigen Bahn, die man neun Jahre vorher
betreten hatte. Gymnasium und Realgymnasium wurden einander noch ähn¬
licher gemacht, und das bedeutete für beide: die Nebensachen wurden noch mehr
hervorgehoben, die Hauptsachen mehr noch herabgedrückt.

Doch dieser verschärfte Notstand trug den Antrieb zur Abhilfe in sich
selbst. Auch dem Kurzsichtigsten konnte die Tatsache nicht entgehen, daß da,
wo Vielerlei und Oberflächlichkeit herrschten, die besten Kräfte gefesselt waren.
Insbesondere war das beschränkte Maß von lateinischen und griechischem


Gskar Jäger

sorgenden Regierung als der nunmehr gültige eingeführt werde. Daß, wo
jeder nach seiner eignen Fasson soll selig werden können, auch jeder das Recht
haben müßte, sich die ihm gemäße Bildung selbst zu suchen, daran dachte
niemand. Der erlösende Gedanke, den drei vorhandenen höheren Schulen die
gleichen äußeren Rechte zu geben, damit eine jede durch die Tat bewähre, was
sie vermöge, dieser Vorschlag, den zuerst Gallenkamp 1873 auf der Oktober-
Konferenz gemacht hat, wurde kaum beachtet, ja völlig wieder vergessen. Wer
für die Realschule eintrat, stritt gegen das Gymnasium; wer den bildenden
Wert der neueren Sprachen nachweisen wollte, meinte den der alten herab¬
setzen zu müssen. Und dem Angriff entsprach die Abwehr. In diesen Kämpfen
hat auch Oskar Jäger eine kräftige Klinge geschlagen. Und das Gute haben
sie doch gehabt, daß auf jeder Seite das, worin das Wesen und die Lebens¬
kraft der eigenen Schule beruhte, deutlich herausgearbeitet wurde.

Hilflos stand die Unterrichtsverwaltung dem Streite der Meinungen gegen¬
über. Zwar ein Stück richtiger Erkenntnis hat der feinsinnige Gelehrte, der
damals ihr Berater war, besessen und ausgesprochen; aber zu entschlossenem
Handeln war Bonitz nicht der Mann. Als zu Ostern 1882 eine Neuordnung
erfolgte, brachte sie nicht äußere Gleichstellung bei ausgeprägter innerer Ver¬
schiedenheit, sondern den unglücklichen Versuch, durch gegenseitiges Nachgeben
die Lehrpläne einander ähnlicher zu machen und so dem Ziel einer „Einheits¬
schule" entgegenzuführen. Am Realgymnasium, wie die Realschule I. Ordnung
von jetzt ab hieß, wurde das Latein verstärkt, das dort ein Nebenfach gewesen
war, am Gymnasium wurde es erheblich geschwächt. Auch das Griechische
erlitt eine Einbuße. Daß mit dieser Art von Ausgleich keine der streitenden
Gruppen zufrieden war, konnte nicht wundernehmen. Vom Gymnasium aus
hat Oskar Jäger mit scharfem Blick und treffendem Worte das Urteil gesprochen:
Letsrum censeo linZuam I^tuam S8LS restituenäam. Auf der anderen
Seite wurden die Stimmen immer lauter und dringender, die für die modernen
Wissenschaften vermehrten Anteil an der Bildungsarbeit verlangten. Mit sicherem
Gefühl, daß unser höheres Schulwesen nicht wohl geordnet sei und daß geholfen
werden müsse, ließ der junge Kaiser die Konferenz berufen, die im Dezember 1890
in Berlin tagte. Aber sie fand keine befreiende Antwort auf die Fragen, die
ihr gestellt waren. Und die Unterrichtsverwaltung glaubte nichts Besseres tun
zu können, als aufs neue zu vermitteln. Die Lehrpläne von 1891 waren nur
ein weiterer Schritt auf der abschüssigen Bahn, die man neun Jahre vorher
betreten hatte. Gymnasium und Realgymnasium wurden einander noch ähn¬
licher gemacht, und das bedeutete für beide: die Nebensachen wurden noch mehr
hervorgehoben, die Hauptsachen mehr noch herabgedrückt.

Doch dieser verschärfte Notstand trug den Antrieb zur Abhilfe in sich
selbst. Auch dem Kurzsichtigsten konnte die Tatsache nicht entgehen, daß da,
wo Vielerlei und Oberflächlichkeit herrschten, die besten Kräfte gefesselt waren.
Insbesondere war das beschränkte Maß von lateinischen und griechischem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/72>, abgerufen am 29.05.2024.