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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Erziehung in den Vereinigten Staaten

siebzehnjähriges Mädchen von einer Rauch in Kalifornien konnte mir mehr
aus Vergils Aenaeis vordeklamieren, als ich seinerzeit auf dem Gymnasium
gewußt habe.

Soweit es sich nun nicht um die sogenannte höhere Bildung handelt, ist
das in der gauzen Union gleichartige Institut zur Verbreitung der Volksbildung
die Public School, die etwa unseren Elementarschulen entspricht. Sie wird
durchweg von den Gemeinden geleitet und erhalten und von den Einzelstaaten
beaufsichtigt. Im einzelnen sind die Verhältnisse nach den lokalen Bedürfnissen
sehr verschieden. Der Unterricht ist gänzlich kostenfrei und meist auch die Lehr¬
mittel. Die Kosten werden in den älteren Staaten durch Steuern, in den
jungen aus sogenannten Schulfonds bestritten. Allerorts nehmen aber die Aus¬
gaben für das Schulwesen einen großen Umfang ein; so hat hierfür die Stadt
New York im Jahre 1906 84134309 Dollars, d. i. 22 Prozent der Gesamt¬
ausgaben aufgebracht.

Die Common School ist jener große Kessel, in dem die Eingewanderten
schnell amerikanisiert, die verschiedenartigen Elemente verschmolzen und von der
typisch amerikanisch-demokratischen Gesinnung durchzogen werden. Diese Wirkung
ist so groß und allgemein, weil fast alle Kinder, auch die der wohlhabenden
Leute, die Common School besuchen. Die Zahl der in Privatschulen erzogenen
Kinder ist sehr gering und die oft recht unamerikanischen Gebräuche der Millionäre
und Milliardäre können bei der Betrachtung allgemeiner amerikanischer Ver¬
hältnisse nicht in Betracht gezogen werden.

In diesen Schulen erlernen die Kinder auch bereits die das gesamte öffent¬
liche Leben eines demokratischen Staats beherrschenden parlamentarischen Formen.
Nicht durch die unter dem Titel "Civics" gegebene Verwaltungskunde, sondern
mehr durch die ganze Art des Lebens in der Schule, insbesondere durch die
Gewöhnung der Kinder daran, alles aus ihrer Mitte gemeinsam zu machen. So
sieht man die kleinen Kerlchen bereits, sei es daß es sich um die Arrangierung
von Spielen oder um sonstige harmlose Sachen handelt, gleich ihre Komitees, Vor¬
sitzenden usw. mit einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit wählen, die einem
Ausländer komisch vorkommt, aber schließlich nur die logische Folge eines
demokratischen Staates ist.

Hierhin gehört auch der pädagogische Gesichtspunkt, daß man auf das
Betragen der Kinder nicht so sehr durch strenge Disziplin von oben herab ein¬
wirkt, sondern sie der gegenseitigen Selbsterziehung überläßt. Dies kann natür¬
lich erst in den obersten Klassen bezw. in den höheren Schulen im größeren
Maßstabe eingeführt werden; dort ist es aber sehr beachtenswert. Ich bin in
einem Mädchenkolleg mit 1287 Pensionärinnen gewesen, in dem es den
Lehrerinnen streng verboten war, den Mädchen das Geringste über ihr Betragen
zu sagen, und die Lehrerinnen, die zum Teil früher bereits in Europa tätig
waren, haben mir übereinstimmend versichert, daß das Betragen der jungen
Mädchen tadelfrei sei.


Erziehung in den Vereinigten Staaten

siebzehnjähriges Mädchen von einer Rauch in Kalifornien konnte mir mehr
aus Vergils Aenaeis vordeklamieren, als ich seinerzeit auf dem Gymnasium
gewußt habe.

Soweit es sich nun nicht um die sogenannte höhere Bildung handelt, ist
das in der gauzen Union gleichartige Institut zur Verbreitung der Volksbildung
die Public School, die etwa unseren Elementarschulen entspricht. Sie wird
durchweg von den Gemeinden geleitet und erhalten und von den Einzelstaaten
beaufsichtigt. Im einzelnen sind die Verhältnisse nach den lokalen Bedürfnissen
sehr verschieden. Der Unterricht ist gänzlich kostenfrei und meist auch die Lehr¬
mittel. Die Kosten werden in den älteren Staaten durch Steuern, in den
jungen aus sogenannten Schulfonds bestritten. Allerorts nehmen aber die Aus¬
gaben für das Schulwesen einen großen Umfang ein; so hat hierfür die Stadt
New York im Jahre 1906 84134309 Dollars, d. i. 22 Prozent der Gesamt¬
ausgaben aufgebracht.

Die Common School ist jener große Kessel, in dem die Eingewanderten
schnell amerikanisiert, die verschiedenartigen Elemente verschmolzen und von der
typisch amerikanisch-demokratischen Gesinnung durchzogen werden. Diese Wirkung
ist so groß und allgemein, weil fast alle Kinder, auch die der wohlhabenden
Leute, die Common School besuchen. Die Zahl der in Privatschulen erzogenen
Kinder ist sehr gering und die oft recht unamerikanischen Gebräuche der Millionäre
und Milliardäre können bei der Betrachtung allgemeiner amerikanischer Ver¬
hältnisse nicht in Betracht gezogen werden.

In diesen Schulen erlernen die Kinder auch bereits die das gesamte öffent¬
liche Leben eines demokratischen Staats beherrschenden parlamentarischen Formen.
Nicht durch die unter dem Titel „Civics" gegebene Verwaltungskunde, sondern
mehr durch die ganze Art des Lebens in der Schule, insbesondere durch die
Gewöhnung der Kinder daran, alles aus ihrer Mitte gemeinsam zu machen. So
sieht man die kleinen Kerlchen bereits, sei es daß es sich um die Arrangierung
von Spielen oder um sonstige harmlose Sachen handelt, gleich ihre Komitees, Vor¬
sitzenden usw. mit einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit wählen, die einem
Ausländer komisch vorkommt, aber schließlich nur die logische Folge eines
demokratischen Staates ist.

Hierhin gehört auch der pädagogische Gesichtspunkt, daß man auf das
Betragen der Kinder nicht so sehr durch strenge Disziplin von oben herab ein¬
wirkt, sondern sie der gegenseitigen Selbsterziehung überläßt. Dies kann natür¬
lich erst in den obersten Klassen bezw. in den höheren Schulen im größeren
Maßstabe eingeführt werden; dort ist es aber sehr beachtenswert. Ich bin in
einem Mädchenkolleg mit 1287 Pensionärinnen gewesen, in dem es den
Lehrerinnen streng verboten war, den Mädchen das Geringste über ihr Betragen
zu sagen, und die Lehrerinnen, die zum Teil früher bereits in Europa tätig
waren, haben mir übereinstimmend versichert, daß das Betragen der jungen
Mädchen tadelfrei sei.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/81>, abgerufen am 29.05.2024.