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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Im Flecken

Die alte Frau hörte aufmerksam zu, und bei den Anerbietungen des Staats-
anwalts verklärte ein Ausdruck mütterlichen Stolzes ihr Gesicht. Als er geendet
hatte, seufzte sie tief auf und faltete sinnend die Hände. Dann sagte sie gefaßt:

"Borenka, mein Junge, du weißt, wie sehr ich dich vermissen werde. Aber
sieh, du bist jung, dein ganzes Leben liegt vor dir, und um einer alten Frau
willen sollst du deine Zukunft nicht aufs Spiel setzen. Gäbe Gott, du hättest Glück,
und wir könnten dann bald wieder zusammenleben. Ich werde alle Tage mit
Olenka von dir sprechen, und Bol wird uns Gesellschaft leisten. Armes Tier, nun
sind deine Waldspaziergänge auch für ein Weilchen vorbei."

Sie hatte sich hinabgebeugt, um den Hund, der neben ihr herging, zu
streicheln, und wischte sich dabei eine Träne fort, die ungewollt über ihre Wange
rollte und von Boris nicht gesehen werden sollte. Als sie sich wieder aufrichtete,
war ihr Gesicht wieder ruhig wie vorher, und uur im Auge glänzte es noch
verräterisch.

Boris bemerkte es und schlang, ohne ein Wort zu sprechen, den Arm um sie.
Er küßte sie herzlich aus den Mund und drückte ihr je einen langen Kuß auf
beide Hände.

Sie blickte in sein gequältes Gesicht und wußte, was er bei dem Gedanken
an eine Trennung von ihr litt. Aber sie wollte nicht noch mehr Schmerz auf
thu häufen, und deshalb klang ihre Stimme ruhig, als sie seinen Erwägungen
beipflichtete und schließlich sein Vorhaben billigte.

Sie gingen noch eine Zeitlang im Garten auf und ab und besprachen gemeinsam
alles Mögliche und Nötige für die Zukunft. Boris widmete sich mit Geduld und
Zartheit den eingehenden Fragen und Erwägungen der alten Frau. Nur eine
ihrer Fragen, was wohl Schejins zu seinein Plane sagen würden, überging er ganz.

Die Dämmerung senkte sich dichter um das kleine Gartenstückchen, und Mutter
und Sohn schritten langsam ihrem Häuschen zu. Im Begriff hineinzugehen,
bemerkten sie zur Seite den Hauptmann, der eben von der Chaussee her einkehrte
und in das kleine Vorgärtchen treten wollte, das ihr Häuschen von der Land¬
straße trennte.

"Schönen guten Abend, Nachbarin, guten Abend, junger Freund", rief er
ihnen schon von weitem zu, und die Angerufenen gingen ihm einige Schritte
entgegen, während Vol mit großen Sätzen an dem Hauptmann emporsprang.
Schejin küßte Mutter Okolitsch die Hand und klopfte Boris vertraulich auf die
Schulter:

"Nun was, Boris Stepanowitsch, wie geht es? Noch immer so viel Arbeit
und keine Zeit für einen alten Mann? Sagen Sie mir, was ist das mit Ihnen?
Man sieht sie immer seltener, und auch Olenka kommt den Schulweg oft allein
gegangen. Was? Wie?"'

Er sah Okolitsch freundlich forschendein, und unter lebhaftem Wortwechsel
traten alle drei ins Hans. Boris murmelte eine undeutliche Entschuldigung, während
die Mutter gleich die dampfende Teemaschine brachte, um die sie sich setzten.

Frau Okolitsch nahm hier wieder die Unterhaltung auf und sagte mit etwas
wichtiger Miene zu Schejin gewandt:

"Denken Sie sich, Andres Fonütsch, mein Boris will fort, ganz fort in die
Gouvernementsstadt."


Im Flecken

Die alte Frau hörte aufmerksam zu, und bei den Anerbietungen des Staats-
anwalts verklärte ein Ausdruck mütterlichen Stolzes ihr Gesicht. Als er geendet
hatte, seufzte sie tief auf und faltete sinnend die Hände. Dann sagte sie gefaßt:

„Borenka, mein Junge, du weißt, wie sehr ich dich vermissen werde. Aber
sieh, du bist jung, dein ganzes Leben liegt vor dir, und um einer alten Frau
willen sollst du deine Zukunft nicht aufs Spiel setzen. Gäbe Gott, du hättest Glück,
und wir könnten dann bald wieder zusammenleben. Ich werde alle Tage mit
Olenka von dir sprechen, und Bol wird uns Gesellschaft leisten. Armes Tier, nun
sind deine Waldspaziergänge auch für ein Weilchen vorbei."

Sie hatte sich hinabgebeugt, um den Hund, der neben ihr herging, zu
streicheln, und wischte sich dabei eine Träne fort, die ungewollt über ihre Wange
rollte und von Boris nicht gesehen werden sollte. Als sie sich wieder aufrichtete,
war ihr Gesicht wieder ruhig wie vorher, und uur im Auge glänzte es noch
verräterisch.

Boris bemerkte es und schlang, ohne ein Wort zu sprechen, den Arm um sie.
Er küßte sie herzlich aus den Mund und drückte ihr je einen langen Kuß auf
beide Hände.

Sie blickte in sein gequältes Gesicht und wußte, was er bei dem Gedanken
an eine Trennung von ihr litt. Aber sie wollte nicht noch mehr Schmerz auf
thu häufen, und deshalb klang ihre Stimme ruhig, als sie seinen Erwägungen
beipflichtete und schließlich sein Vorhaben billigte.

Sie gingen noch eine Zeitlang im Garten auf und ab und besprachen gemeinsam
alles Mögliche und Nötige für die Zukunft. Boris widmete sich mit Geduld und
Zartheit den eingehenden Fragen und Erwägungen der alten Frau. Nur eine
ihrer Fragen, was wohl Schejins zu seinein Plane sagen würden, überging er ganz.

Die Dämmerung senkte sich dichter um das kleine Gartenstückchen, und Mutter
und Sohn schritten langsam ihrem Häuschen zu. Im Begriff hineinzugehen,
bemerkten sie zur Seite den Hauptmann, der eben von der Chaussee her einkehrte
und in das kleine Vorgärtchen treten wollte, das ihr Häuschen von der Land¬
straße trennte.

„Schönen guten Abend, Nachbarin, guten Abend, junger Freund", rief er
ihnen schon von weitem zu, und die Angerufenen gingen ihm einige Schritte
entgegen, während Vol mit großen Sätzen an dem Hauptmann emporsprang.
Schejin küßte Mutter Okolitsch die Hand und klopfte Boris vertraulich auf die
Schulter:

„Nun was, Boris Stepanowitsch, wie geht es? Noch immer so viel Arbeit
und keine Zeit für einen alten Mann? Sagen Sie mir, was ist das mit Ihnen?
Man sieht sie immer seltener, und auch Olenka kommt den Schulweg oft allein
gegangen. Was? Wie?"'

Er sah Okolitsch freundlich forschendein, und unter lebhaftem Wortwechsel
traten alle drei ins Hans. Boris murmelte eine undeutliche Entschuldigung, während
die Mutter gleich die dampfende Teemaschine brachte, um die sie sich setzten.

Frau Okolitsch nahm hier wieder die Unterhaltung auf und sagte mit etwas
wichtiger Miene zu Schejin gewandt:

„Denken Sie sich, Andres Fonütsch, mein Boris will fort, ganz fort in die
Gouvernementsstadt."


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[0298] Im Flecken Die alte Frau hörte aufmerksam zu, und bei den Anerbietungen des Staats- anwalts verklärte ein Ausdruck mütterlichen Stolzes ihr Gesicht. Als er geendet hatte, seufzte sie tief auf und faltete sinnend die Hände. Dann sagte sie gefaßt: „Borenka, mein Junge, du weißt, wie sehr ich dich vermissen werde. Aber sieh, du bist jung, dein ganzes Leben liegt vor dir, und um einer alten Frau willen sollst du deine Zukunft nicht aufs Spiel setzen. Gäbe Gott, du hättest Glück, und wir könnten dann bald wieder zusammenleben. Ich werde alle Tage mit Olenka von dir sprechen, und Bol wird uns Gesellschaft leisten. Armes Tier, nun sind deine Waldspaziergänge auch für ein Weilchen vorbei." Sie hatte sich hinabgebeugt, um den Hund, der neben ihr herging, zu streicheln, und wischte sich dabei eine Träne fort, die ungewollt über ihre Wange rollte und von Boris nicht gesehen werden sollte. Als sie sich wieder aufrichtete, war ihr Gesicht wieder ruhig wie vorher, und uur im Auge glänzte es noch verräterisch. Boris bemerkte es und schlang, ohne ein Wort zu sprechen, den Arm um sie. Er küßte sie herzlich aus den Mund und drückte ihr je einen langen Kuß auf beide Hände. Sie blickte in sein gequältes Gesicht und wußte, was er bei dem Gedanken an eine Trennung von ihr litt. Aber sie wollte nicht noch mehr Schmerz auf thu häufen, und deshalb klang ihre Stimme ruhig, als sie seinen Erwägungen beipflichtete und schließlich sein Vorhaben billigte. Sie gingen noch eine Zeitlang im Garten auf und ab und besprachen gemeinsam alles Mögliche und Nötige für die Zukunft. Boris widmete sich mit Geduld und Zartheit den eingehenden Fragen und Erwägungen der alten Frau. Nur eine ihrer Fragen, was wohl Schejins zu seinein Plane sagen würden, überging er ganz. Die Dämmerung senkte sich dichter um das kleine Gartenstückchen, und Mutter und Sohn schritten langsam ihrem Häuschen zu. Im Begriff hineinzugehen, bemerkten sie zur Seite den Hauptmann, der eben von der Chaussee her einkehrte und in das kleine Vorgärtchen treten wollte, das ihr Häuschen von der Land¬ straße trennte. „Schönen guten Abend, Nachbarin, guten Abend, junger Freund", rief er ihnen schon von weitem zu, und die Angerufenen gingen ihm einige Schritte entgegen, während Vol mit großen Sätzen an dem Hauptmann emporsprang. Schejin küßte Mutter Okolitsch die Hand und klopfte Boris vertraulich auf die Schulter: „Nun was, Boris Stepanowitsch, wie geht es? Noch immer so viel Arbeit und keine Zeit für einen alten Mann? Sagen Sie mir, was ist das mit Ihnen? Man sieht sie immer seltener, und auch Olenka kommt den Schulweg oft allein gegangen. Was? Wie?"' Er sah Okolitsch freundlich forschendein, und unter lebhaftem Wortwechsel traten alle drei ins Hans. Boris murmelte eine undeutliche Entschuldigung, während die Mutter gleich die dampfende Teemaschine brachte, um die sie sich setzten. Frau Okolitsch nahm hier wieder die Unterhaltung auf und sagte mit etwas wichtiger Miene zu Schejin gewandt: „Denken Sie sich, Andres Fonütsch, mein Boris will fort, ganz fort in die Gouvernementsstadt."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/298>, abgerufen am 15.06.2024.