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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches mit Unmaßgebliches

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tiefmig seiner Rechtskcnntnisse nicht runder als
wichtige Beiträge für die wissenschaftliche For¬
schung, Letzteres gilt hauptsachlich von den
Erkenntnissen unseres Reichsgerichts, die viel¬
fach eine Weiterbildung des Rechts bedeuten
und wissenschaftlich schon des öfteren so weite
Perspektiven auf neue Rechtsgedanken und
Gebiete gegeben haben, daß es zweifelhaft
erscheinen kann, ob in diesen Fällen die alther¬
gebrachte juristische Zweiteilung von "Doktrin
und Praxis" noch Berechtigung hat.

Nun versteht es sich von selber, daß ins¬
besondere untergeordnetere Gerichte den Takt
haben werden, in ihren Urteilen nicht von
Rechtsgrundsätzen abzuweichen, die in längerer
Judikatur bereits festgelegt und somit Gemein¬
gut geworden sind, wenn sie nicht gerade
glauben, durch Hervorhebung neuer Gesichts¬
punkte und bessere Begründung ihrer eigenen,
abweichenden Auffassung vielleicht durchWcmdel
in der Rechtsprechung dauernde Geltung ver¬
schaffen zu können. Darauf beruht ja die von
allen Kreisen als Jdealzustand herbeigesehnte
möglichste Gleichmäßigkeit in der deutschen
Rechtsprechung, Diesem Zwecke dient die Ver¬
öffentlichung der Entscheidungen der obersten
Gerichte, und es gibt Wohl keinen Juristen,
der nicht jedem neu erscheinenden Bande der
Entscheidungen des Reichsgerichts eine Fülle
von Belehrung und Anregung verdankt.

Wer gerade diese Veröffentlichung der
Urteile der Gerichte, d. h, neben dem Reichs¬
gericht auch der Oberlandesgerichte und wo¬
möglich sogar noch vereinzelter Erkenntnisse
der zahllosen Landgerichte birgt Gefahren
schwerster Art in sich. Die Veröffentlichung
von Gerichtsentscheidungen in Fachzeitschriften,
Vierteljahrsschriften, Archiven u, a, hat in den
letzten Jahren einen geradezu ungeheuerlichen
Umfang angenommen. Neben Wesentlichen
und Brauchbaren findet sich eine große Menge
von Urteilen, die außer den betroffenen Par¬
teien wirklich leinen Menschen interessieren
können und die zum Teil auch noch -- wils
bei der Masse nicht wundernehmen kann --
völlig wertlos sind. Dazu kommen dann
noch die systematischen Sammlungen in Jahr¬
büchern u. ni. Bei diesen: Präjudizienwust ist
es für jemand, der sich nicht gerade ausschlie߬
lich damit beschäftigt, fast unmöglich, sich in
Kürze so weit zu orientieren, daß er dasBrnuch-

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bare herausfindet. Nun soll keineswegs ver¬
kannt werden, daß diese jährliche Aufsammlung
von Tausenden von Entscheidungen ihr Gutes
hat. Dem Forscher und Schriftsteller ist damit
viel Stoff gegeben und die Arbeit erleichtert,
und der noch so beschäftigte Praktiker ist in
der Lage, sich an der Hand der systematischen
Zusammenstellungen schnell über die Recht¬
sprechung in Einzelfragen zu unterrichten.
Eine solche Orientierung ist in vielen Fällen
auch ganz unerläßlich. Anderseits aber be¬
deutet diese massenhafte Veröffentlichung zum
Teil wertloser Präjudizien, wie gesagt, eine
außerordentliche Gefahr, und sie führt zu dem,
was man Präjudizienkultus nennt. Und wir
sind in Deutschland wie in keinem anderen
Lande -- mit Ausnahme vielleicht von Ru߬
land, dessen Rechtsprechung mit der kultivierter
Länder kaum zusammen erwähnt werden kann --
auf dein besten Wege, immer mehr diesem
Übel des Präjudizienkults zu verfallen.

Es gibt heutzutage Juristen, sogenannte
"gebildete" Juristen, die auf die Frage, wie¬
viel 2X2 ist, antworten: Nach den Ent¬
scheidungen des Reichsgerichts in Bd, XIII
S. soundsoviel, Bd. XXXVII S, soundsoviel
und neuerdings Bd. I>XIX S. soundsoviel
sowie nach den Entschei dungen des Oberlandes¬
gerichts X. in der Rechtsprechung Bd. V
S. soundsoviel und des Oberlandesgerichts U.
Bd. XII S. soundsoviel, dem sich auch das
Landgericht Z, angeschlossen hat, ist 2 X 2 7
weniger 31 Hierbei finde ich folgendes zu
bemängeln: erstens "ist" "nach" irgendeiner
Entscheidung nie etwas soundso, sondern es
kann höchstens in einer Entscheidung ein be¬
achtenswerter Rechtsgrundsatz ausgesprochen
sein, der mir vielleicht für die Lösung eines
Falls bedeutungsvoll erscheinen kann, und
zweitens scheint es nicht durchaus notwendig,
drei Entscheidungen des Reichsgerichts durch
Zitat zu entwürdigen, um herauszubekommen,
daß 2X2 immer noch 4 ist. Mit anderen
Worten: eS gibt heutzutage Juristen, Richter
und andere, die so träge sind und anderseits
so ängstlich und subaltern, daß sie freudig
verzichten auf selbsterarbeitete Gründe, das Ge¬
fühl der eigenen Verantwortlichkeit bei Aus-
spruch eigener Denkresultate gerne preisgeben
und bei dein simpelsten Rechtsfall keine Ent¬
scheidung wagen, bis sie nicht nach tage-

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Grenzboten II 191117
Maßgebliches mit Unmaßgebliches

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tiefmig seiner Rechtskcnntnisse nicht runder als
wichtige Beiträge für die wissenschaftliche For¬
schung, Letzteres gilt hauptsachlich von den
Erkenntnissen unseres Reichsgerichts, die viel¬
fach eine Weiterbildung des Rechts bedeuten
und wissenschaftlich schon des öfteren so weite
Perspektiven auf neue Rechtsgedanken und
Gebiete gegeben haben, daß es zweifelhaft
erscheinen kann, ob in diesen Fällen die alther¬
gebrachte juristische Zweiteilung von „Doktrin
und Praxis" noch Berechtigung hat.

Nun versteht es sich von selber, daß ins¬
besondere untergeordnetere Gerichte den Takt
haben werden, in ihren Urteilen nicht von
Rechtsgrundsätzen abzuweichen, die in längerer
Judikatur bereits festgelegt und somit Gemein¬
gut geworden sind, wenn sie nicht gerade
glauben, durch Hervorhebung neuer Gesichts¬
punkte und bessere Begründung ihrer eigenen,
abweichenden Auffassung vielleicht durchWcmdel
in der Rechtsprechung dauernde Geltung ver¬
schaffen zu können. Darauf beruht ja die von
allen Kreisen als Jdealzustand herbeigesehnte
möglichste Gleichmäßigkeit in der deutschen
Rechtsprechung, Diesem Zwecke dient die Ver¬
öffentlichung der Entscheidungen der obersten
Gerichte, und es gibt Wohl keinen Juristen,
der nicht jedem neu erscheinenden Bande der
Entscheidungen des Reichsgerichts eine Fülle
von Belehrung und Anregung verdankt.

Wer gerade diese Veröffentlichung der
Urteile der Gerichte, d. h, neben dem Reichs¬
gericht auch der Oberlandesgerichte und wo¬
möglich sogar noch vereinzelter Erkenntnisse
der zahllosen Landgerichte birgt Gefahren
schwerster Art in sich. Die Veröffentlichung
von Gerichtsentscheidungen in Fachzeitschriften,
Vierteljahrsschriften, Archiven u, a, hat in den
letzten Jahren einen geradezu ungeheuerlichen
Umfang angenommen. Neben Wesentlichen
und Brauchbaren findet sich eine große Menge
von Urteilen, die außer den betroffenen Par¬
teien wirklich leinen Menschen interessieren
können und die zum Teil auch noch — wils
bei der Masse nicht wundernehmen kann —
völlig wertlos sind. Dazu kommen dann
noch die systematischen Sammlungen in Jahr¬
büchern u. ni. Bei diesen: Präjudizienwust ist
es für jemand, der sich nicht gerade ausschlie߬
lich damit beschäftigt, fast unmöglich, sich in
Kürze so weit zu orientieren, daß er dasBrnuch-

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bare herausfindet. Nun soll keineswegs ver¬
kannt werden, daß diese jährliche Aufsammlung
von Tausenden von Entscheidungen ihr Gutes
hat. Dem Forscher und Schriftsteller ist damit
viel Stoff gegeben und die Arbeit erleichtert,
und der noch so beschäftigte Praktiker ist in
der Lage, sich an der Hand der systematischen
Zusammenstellungen schnell über die Recht¬
sprechung in Einzelfragen zu unterrichten.
Eine solche Orientierung ist in vielen Fällen
auch ganz unerläßlich. Anderseits aber be¬
deutet diese massenhafte Veröffentlichung zum
Teil wertloser Präjudizien, wie gesagt, eine
außerordentliche Gefahr, und sie führt zu dem,
was man Präjudizienkultus nennt. Und wir
sind in Deutschland wie in keinem anderen
Lande — mit Ausnahme vielleicht von Ru߬
land, dessen Rechtsprechung mit der kultivierter
Länder kaum zusammen erwähnt werden kann —
auf dein besten Wege, immer mehr diesem
Übel des Präjudizienkults zu verfallen.

Es gibt heutzutage Juristen, sogenannte
„gebildete" Juristen, die auf die Frage, wie¬
viel 2X2 ist, antworten: Nach den Ent¬
scheidungen des Reichsgerichts in Bd, XIII
S. soundsoviel, Bd. XXXVII S, soundsoviel
und neuerdings Bd. I>XIX S. soundsoviel
sowie nach den Entschei dungen des Oberlandes¬
gerichts X. in der Rechtsprechung Bd. V
S. soundsoviel und des Oberlandesgerichts U.
Bd. XII S. soundsoviel, dem sich auch das
Landgericht Z, angeschlossen hat, ist 2 X 2 7
weniger 31 Hierbei finde ich folgendes zu
bemängeln: erstens „ist" „nach" irgendeiner
Entscheidung nie etwas soundso, sondern es
kann höchstens in einer Entscheidung ein be¬
achtenswerter Rechtsgrundsatz ausgesprochen
sein, der mir vielleicht für die Lösung eines
Falls bedeutungsvoll erscheinen kann, und
zweitens scheint es nicht durchaus notwendig,
drei Entscheidungen des Reichsgerichts durch
Zitat zu entwürdigen, um herauszubekommen,
daß 2X2 immer noch 4 ist. Mit anderen
Worten: eS gibt heutzutage Juristen, Richter
und andere, die so träge sind und anderseits
so ängstlich und subaltern, daß sie freudig
verzichten auf selbsterarbeitete Gründe, das Ge¬
fühl der eigenen Verantwortlichkeit bei Aus-
spruch eigener Denkresultate gerne preisgeben
und bei dein simpelsten Rechtsfall keine Ent¬
scheidung wagen, bis sie nicht nach tage-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/141>, abgerufen am 17.06.2024.