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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Medizinische Psychologie

Mauchart, das nicht mehr eine Zusammenfassung mit einem geschlossenen System
darbietet, sondern sich zurückhaltend "Materialien zu einer künftigen Seelenlehre"
nennt. Er gibt nur "Phänomene der menschlichen Seele", deren Bearbeitung er
einer späteren und glücklicheren Zeit überlassen will. Da tauchte sogar der Gedanke
an eine Experimental-Seelenlehre auf in dem Buch vou Krüger aus dem Jahre
1756, das auch insofern bemerkenswert ist, als im Titel dieses Buches zum
erstenmal überhaupt jene beiden Worte zu einem Begriffe zusammengefaßt wurden,
die später als Name und Programm einer neuen psychologischen Richtung auftraten.
Da entsann man sich denn auch "der schwesterlichen Verbindung mit der Arzney-
gelahrtheit", und daß den Freunden beider Wissenschaften zu wenig bekannt sei,
wie sehr sie zu beider Nutzen zusammenarbeiten könnten (Snell). Man erinnerte
sich auch, daß die Wahrnehmungen der Arzneygelehrten den Psychologen solche
Begebenheiten an die Hand gäben, die man gewissermaßen als von der Natur
selbst angestellte psychologische Experimente ansehen dürfe. Auch das vom Jahre
1782 an erscheinende große Sammelwerk für die damalige psychologische Literatur,
das von Moritz herausgegebene "Magazin der Erfahrungsseelenlehre", ist in dieser
Hinsicht beachtenswert; nach dem Vorschlag Mendelsohns wurde es nach der in
der damaligen Arzneygelahrtheit üblichen Art in Seelennaturkunde, Seelenkrank¬
heitskunde, Seelenzeichenkunde, Seelendiätetik, Seelentherapie eingeteilt.

Daneben hatte sich eine medizinische Seelenlehre selbständig gemacht, Metzger
hatte diesen Begriff in seiner medizinisch-philosophischen Anthropologie 1790 auf¬
gestellt, und Nudow übernahm ihn als Titel seines 1791 erschienenen Werkes, in
dem er die Psychologie aus den "Wüsteneien der Metaphysik" erretten und der
Medizin eingliedern wollte. Und bereits 1777 hatte Hißmann -- ganz modern
^ erklärt: Seele ohne Gehirn gibt es nicht. Der Psychologe solle mehr
Physiologe als Philosoph sein und vor allem Hirnanatomie studieren.

Die Geister, die man so allgemein rief, traten dann zunächst in Gall zu
einer ziemlich massiven Erscheinung zusammen, um von den folgenden medizinischen
Generationen überwunden, verändert und fortgebildet zu werden in einer Ent¬
wicklung, die, wie man sah, kurz vor unseren Tagen endet. Diese Entwicklung
führte zwar nicht zu dem einst erwarteten Ziele, bedeutete aber eine der folgen¬
reichsten und fruchtbarsten Strömungen im Werdegang der modernen Psychologie
und trug ganz wesentlich dazu bei, jene Erniedrigung der Psychologie zu einem
Zweige der Biologie zu vollziehen, von der die Philosophie so schmerzlich spricht,
ohne die aber doch eine neue Psychologie nicht hätte entstehen können. Die Medizin
von heute bekennt sich unumwunden zu dem Standpunkt "bedingungsloser Ab¬
lehnung", ihrerseits psychologische Folgerungen aus anatomischen und pathologischen
Befunden zu ziehen. Sie hat alle Hände voll mit anderen Dingen zu tun; sie
überläßt die Regelung dieser Fragen der Erkenntnistheorie und der kritischen
Psychologie.




Medizinische Psychologie

Mauchart, das nicht mehr eine Zusammenfassung mit einem geschlossenen System
darbietet, sondern sich zurückhaltend „Materialien zu einer künftigen Seelenlehre"
nennt. Er gibt nur „Phänomene der menschlichen Seele", deren Bearbeitung er
einer späteren und glücklicheren Zeit überlassen will. Da tauchte sogar der Gedanke
an eine Experimental-Seelenlehre auf in dem Buch vou Krüger aus dem Jahre
1756, das auch insofern bemerkenswert ist, als im Titel dieses Buches zum
erstenmal überhaupt jene beiden Worte zu einem Begriffe zusammengefaßt wurden,
die später als Name und Programm einer neuen psychologischen Richtung auftraten.
Da entsann man sich denn auch „der schwesterlichen Verbindung mit der Arzney-
gelahrtheit", und daß den Freunden beider Wissenschaften zu wenig bekannt sei,
wie sehr sie zu beider Nutzen zusammenarbeiten könnten (Snell). Man erinnerte
sich auch, daß die Wahrnehmungen der Arzneygelehrten den Psychologen solche
Begebenheiten an die Hand gäben, die man gewissermaßen als von der Natur
selbst angestellte psychologische Experimente ansehen dürfe. Auch das vom Jahre
1782 an erscheinende große Sammelwerk für die damalige psychologische Literatur,
das von Moritz herausgegebene „Magazin der Erfahrungsseelenlehre", ist in dieser
Hinsicht beachtenswert; nach dem Vorschlag Mendelsohns wurde es nach der in
der damaligen Arzneygelahrtheit üblichen Art in Seelennaturkunde, Seelenkrank¬
heitskunde, Seelenzeichenkunde, Seelendiätetik, Seelentherapie eingeteilt.

Daneben hatte sich eine medizinische Seelenlehre selbständig gemacht, Metzger
hatte diesen Begriff in seiner medizinisch-philosophischen Anthropologie 1790 auf¬
gestellt, und Nudow übernahm ihn als Titel seines 1791 erschienenen Werkes, in
dem er die Psychologie aus den „Wüsteneien der Metaphysik" erretten und der
Medizin eingliedern wollte. Und bereits 1777 hatte Hißmann — ganz modern
^ erklärt: Seele ohne Gehirn gibt es nicht. Der Psychologe solle mehr
Physiologe als Philosoph sein und vor allem Hirnanatomie studieren.

Die Geister, die man so allgemein rief, traten dann zunächst in Gall zu
einer ziemlich massiven Erscheinung zusammen, um von den folgenden medizinischen
Generationen überwunden, verändert und fortgebildet zu werden in einer Ent¬
wicklung, die, wie man sah, kurz vor unseren Tagen endet. Diese Entwicklung
führte zwar nicht zu dem einst erwarteten Ziele, bedeutete aber eine der folgen¬
reichsten und fruchtbarsten Strömungen im Werdegang der modernen Psychologie
und trug ganz wesentlich dazu bei, jene Erniedrigung der Psychologie zu einem
Zweige der Biologie zu vollziehen, von der die Philosophie so schmerzlich spricht,
ohne die aber doch eine neue Psychologie nicht hätte entstehen können. Die Medizin
von heute bekennt sich unumwunden zu dem Standpunkt „bedingungsloser Ab¬
lehnung", ihrerseits psychologische Folgerungen aus anatomischen und pathologischen
Befunden zu ziehen. Sie hat alle Hände voll mit anderen Dingen zu tun; sie
überläßt die Regelung dieser Fragen der Erkenntnistheorie und der kritischen
Psychologie.




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[0595] Medizinische Psychologie Mauchart, das nicht mehr eine Zusammenfassung mit einem geschlossenen System darbietet, sondern sich zurückhaltend „Materialien zu einer künftigen Seelenlehre" nennt. Er gibt nur „Phänomene der menschlichen Seele", deren Bearbeitung er einer späteren und glücklicheren Zeit überlassen will. Da tauchte sogar der Gedanke an eine Experimental-Seelenlehre auf in dem Buch vou Krüger aus dem Jahre 1756, das auch insofern bemerkenswert ist, als im Titel dieses Buches zum erstenmal überhaupt jene beiden Worte zu einem Begriffe zusammengefaßt wurden, die später als Name und Programm einer neuen psychologischen Richtung auftraten. Da entsann man sich denn auch „der schwesterlichen Verbindung mit der Arzney- gelahrtheit", und daß den Freunden beider Wissenschaften zu wenig bekannt sei, wie sehr sie zu beider Nutzen zusammenarbeiten könnten (Snell). Man erinnerte sich auch, daß die Wahrnehmungen der Arzneygelehrten den Psychologen solche Begebenheiten an die Hand gäben, die man gewissermaßen als von der Natur selbst angestellte psychologische Experimente ansehen dürfe. Auch das vom Jahre 1782 an erscheinende große Sammelwerk für die damalige psychologische Literatur, das von Moritz herausgegebene „Magazin der Erfahrungsseelenlehre", ist in dieser Hinsicht beachtenswert; nach dem Vorschlag Mendelsohns wurde es nach der in der damaligen Arzneygelahrtheit üblichen Art in Seelennaturkunde, Seelenkrank¬ heitskunde, Seelenzeichenkunde, Seelendiätetik, Seelentherapie eingeteilt. Daneben hatte sich eine medizinische Seelenlehre selbständig gemacht, Metzger hatte diesen Begriff in seiner medizinisch-philosophischen Anthropologie 1790 auf¬ gestellt, und Nudow übernahm ihn als Titel seines 1791 erschienenen Werkes, in dem er die Psychologie aus den „Wüsteneien der Metaphysik" erretten und der Medizin eingliedern wollte. Und bereits 1777 hatte Hißmann — ganz modern ^ erklärt: Seele ohne Gehirn gibt es nicht. Der Psychologe solle mehr Physiologe als Philosoph sein und vor allem Hirnanatomie studieren. Die Geister, die man so allgemein rief, traten dann zunächst in Gall zu einer ziemlich massiven Erscheinung zusammen, um von den folgenden medizinischen Generationen überwunden, verändert und fortgebildet zu werden in einer Ent¬ wicklung, die, wie man sah, kurz vor unseren Tagen endet. Diese Entwicklung führte zwar nicht zu dem einst erwarteten Ziele, bedeutete aber eine der folgen¬ reichsten und fruchtbarsten Strömungen im Werdegang der modernen Psychologie und trug ganz wesentlich dazu bei, jene Erniedrigung der Psychologie zu einem Zweige der Biologie zu vollziehen, von der die Philosophie so schmerzlich spricht, ohne die aber doch eine neue Psychologie nicht hätte entstehen können. Die Medizin von heute bekennt sich unumwunden zu dem Standpunkt „bedingungsloser Ab¬ lehnung", ihrerseits psychologische Folgerungen aus anatomischen und pathologischen Befunden zu ziehen. Sie hat alle Hände voll mit anderen Dingen zu tun; sie überläßt die Regelung dieser Fragen der Erkenntnistheorie und der kritischen Psychologie.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/595>, abgerufen am 09.06.2024.