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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Line Erinnerung, eine Mahnung und eine Hoffnung

Egoismus zum Schweigen zu bringen vor denk Veränderungstrieb im Staaten¬
system, die den französischen Kaiser nach Kassel in die Gefangenschaft führte.

In den vier Jahrzehnten des Friedens, den uns der Frankfurter Vertrag
gebracht hat, schien es zeitweilig, als ob Frankreich der Lehren des für Deutsch¬
land so glorreichen Krieges nicht eingedenk sei. Aber anderseits läßt sich nicht
verkennen, daß gerade die besten Männer der dritten Republik den französischen
Machtwahn von Mitteleuropa nach außereuropäischen Gebiet zu leiten suchten.
Die Ausbreitung der Franzosen in Asien und Nordafrika fand Bismarcks leb¬
hafteste Unterstützung. Und das ist die dritte Lehre, die unsere Nachbarn aus
der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen ziehen sollten, daß Verträg¬
lichkeit mit Deutschland einer der Baumeister des neuen französischen Kolonial¬
reichs gewesen ist. Die Revanchards freilich sahen in der Unterstützung, die
Bismarck der kolonialen Ausbreitung der Republik angedeihen ließ, nur einen
Ailsfluß der Angst unseres Neichsgründers vor dem LÄULrismar as3 coalitionZ.
Gewiß, es ist wahr, Fürst Bismarck hat, fast schon am Ende seiner gesegneten
Laufbahn, noch das hinreißende Wort geprägt: "Wir Deutsche fürchten Gott
und sonst nichts in der Welt." Aber den wror teutomeus wirklich zu ent¬
fesseln, daran dachte er doch nur, wenn das Leben der deutschen Volkseinheit,
deren Freiheit und Ehre bedroht war. Nur wo die Lebensnotwendigkeit und
die Würde der Nation auf dem Spiele standen, kannte die Bismarcksche Politik
keine Konnivenz, so sehr sie im übrigen zu Konzessionen bereit war.

Ein Menschenalter ist freilich nur zu sehr dazu angetan, die Söhne die
bitteren Erfahrungen der Väter vergessen zu lassen. Falsche Schlüsse aus der
Bismarckschen Praxis und allzu große Nachgiebigkeit der ersten Nachfolger des
Reichsgründers haben in der französischen Presse den Wahn genährt, daß sich
unser Lebensinteresse auf das europäische Festland und das wirtschaftliche Gebiet
beschränke. Heut weiß man in Paris, daß sich die nationale Energie des
Deutschen Reichs immer noch auch in Gebietserwerbungen auf kolonialen Boden
zu betätigen strebt, und daß sich die deutsche Gegensätzlichkeit, wenn nötig, auch
außerhalb des europäischen Festlandes bemerkbar zu machen weiß. Wir Deutsche
unserseits sollten wissen, daß der Gedanke eines gallischen Weltreiches rings um
das Westbecken des Mittelmeeres herum eine nationale Idee ist, die die heutigen
Franzosen mit fast derselben Lebendigkeit erfüllt, wie vor vierzig Jahren der
Wunsch nach der deutschen Einigkeit die Stämme vom Fels zum Meer. Was
Frankreich mit der Gründung seines europäisch-nordafrikanischen Einheitsreiches
erstrebt, ist zuletzt die Wiedergeburt des ungeheueren Gedankens der ehemals
hasdrubal-hannibalischen Politik, ein Ringreich von der Stätte des alten Karthago
bis an die Tore des Herkules zu errichten. Es unterliegt ja keinem Zweifel,
daß dieser neufranzösische Imperialismus, so sehr er sich nach dem Süden in
das afrikanische Festland hinein zu verbeißen scheint, zu allerletzt doch nur auf
afrikanischer Grundlage seine Spitze in. das europäische Festland richten möchte.
Insofern sich eine solche chauvinistische Weltpolitik zu der Hoffnung versteigt.


Line Erinnerung, eine Mahnung und eine Hoffnung

Egoismus zum Schweigen zu bringen vor denk Veränderungstrieb im Staaten¬
system, die den französischen Kaiser nach Kassel in die Gefangenschaft führte.

In den vier Jahrzehnten des Friedens, den uns der Frankfurter Vertrag
gebracht hat, schien es zeitweilig, als ob Frankreich der Lehren des für Deutsch¬
land so glorreichen Krieges nicht eingedenk sei. Aber anderseits läßt sich nicht
verkennen, daß gerade die besten Männer der dritten Republik den französischen
Machtwahn von Mitteleuropa nach außereuropäischen Gebiet zu leiten suchten.
Die Ausbreitung der Franzosen in Asien und Nordafrika fand Bismarcks leb¬
hafteste Unterstützung. Und das ist die dritte Lehre, die unsere Nachbarn aus
der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen ziehen sollten, daß Verträg¬
lichkeit mit Deutschland einer der Baumeister des neuen französischen Kolonial¬
reichs gewesen ist. Die Revanchards freilich sahen in der Unterstützung, die
Bismarck der kolonialen Ausbreitung der Republik angedeihen ließ, nur einen
Ailsfluß der Angst unseres Neichsgründers vor dem LÄULrismar as3 coalitionZ.
Gewiß, es ist wahr, Fürst Bismarck hat, fast schon am Ende seiner gesegneten
Laufbahn, noch das hinreißende Wort geprägt: „Wir Deutsche fürchten Gott
und sonst nichts in der Welt." Aber den wror teutomeus wirklich zu ent¬
fesseln, daran dachte er doch nur, wenn das Leben der deutschen Volkseinheit,
deren Freiheit und Ehre bedroht war. Nur wo die Lebensnotwendigkeit und
die Würde der Nation auf dem Spiele standen, kannte die Bismarcksche Politik
keine Konnivenz, so sehr sie im übrigen zu Konzessionen bereit war.

Ein Menschenalter ist freilich nur zu sehr dazu angetan, die Söhne die
bitteren Erfahrungen der Väter vergessen zu lassen. Falsche Schlüsse aus der
Bismarckschen Praxis und allzu große Nachgiebigkeit der ersten Nachfolger des
Reichsgründers haben in der französischen Presse den Wahn genährt, daß sich
unser Lebensinteresse auf das europäische Festland und das wirtschaftliche Gebiet
beschränke. Heut weiß man in Paris, daß sich die nationale Energie des
Deutschen Reichs immer noch auch in Gebietserwerbungen auf kolonialen Boden
zu betätigen strebt, und daß sich die deutsche Gegensätzlichkeit, wenn nötig, auch
außerhalb des europäischen Festlandes bemerkbar zu machen weiß. Wir Deutsche
unserseits sollten wissen, daß der Gedanke eines gallischen Weltreiches rings um
das Westbecken des Mittelmeeres herum eine nationale Idee ist, die die heutigen
Franzosen mit fast derselben Lebendigkeit erfüllt, wie vor vierzig Jahren der
Wunsch nach der deutschen Einigkeit die Stämme vom Fels zum Meer. Was
Frankreich mit der Gründung seines europäisch-nordafrikanischen Einheitsreiches
erstrebt, ist zuletzt die Wiedergeburt des ungeheueren Gedankens der ehemals
hasdrubal-hannibalischen Politik, ein Ringreich von der Stätte des alten Karthago
bis an die Tore des Herkules zu errichten. Es unterliegt ja keinem Zweifel,
daß dieser neufranzösische Imperialismus, so sehr er sich nach dem Süden in
das afrikanische Festland hinein zu verbeißen scheint, zu allerletzt doch nur auf
afrikanischer Grundlage seine Spitze in. das europäische Festland richten möchte.
Insofern sich eine solche chauvinistische Weltpolitik zu der Hoffnung versteigt.


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[0166] Line Erinnerung, eine Mahnung und eine Hoffnung Egoismus zum Schweigen zu bringen vor denk Veränderungstrieb im Staaten¬ system, die den französischen Kaiser nach Kassel in die Gefangenschaft führte. In den vier Jahrzehnten des Friedens, den uns der Frankfurter Vertrag gebracht hat, schien es zeitweilig, als ob Frankreich der Lehren des für Deutsch¬ land so glorreichen Krieges nicht eingedenk sei. Aber anderseits läßt sich nicht verkennen, daß gerade die besten Männer der dritten Republik den französischen Machtwahn von Mitteleuropa nach außereuropäischen Gebiet zu leiten suchten. Die Ausbreitung der Franzosen in Asien und Nordafrika fand Bismarcks leb¬ hafteste Unterstützung. Und das ist die dritte Lehre, die unsere Nachbarn aus der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen ziehen sollten, daß Verträg¬ lichkeit mit Deutschland einer der Baumeister des neuen französischen Kolonial¬ reichs gewesen ist. Die Revanchards freilich sahen in der Unterstützung, die Bismarck der kolonialen Ausbreitung der Republik angedeihen ließ, nur einen Ailsfluß der Angst unseres Neichsgründers vor dem LÄULrismar as3 coalitionZ. Gewiß, es ist wahr, Fürst Bismarck hat, fast schon am Ende seiner gesegneten Laufbahn, noch das hinreißende Wort geprägt: „Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts in der Welt." Aber den wror teutomeus wirklich zu ent¬ fesseln, daran dachte er doch nur, wenn das Leben der deutschen Volkseinheit, deren Freiheit und Ehre bedroht war. Nur wo die Lebensnotwendigkeit und die Würde der Nation auf dem Spiele standen, kannte die Bismarcksche Politik keine Konnivenz, so sehr sie im übrigen zu Konzessionen bereit war. Ein Menschenalter ist freilich nur zu sehr dazu angetan, die Söhne die bitteren Erfahrungen der Väter vergessen zu lassen. Falsche Schlüsse aus der Bismarckschen Praxis und allzu große Nachgiebigkeit der ersten Nachfolger des Reichsgründers haben in der französischen Presse den Wahn genährt, daß sich unser Lebensinteresse auf das europäische Festland und das wirtschaftliche Gebiet beschränke. Heut weiß man in Paris, daß sich die nationale Energie des Deutschen Reichs immer noch auch in Gebietserwerbungen auf kolonialen Boden zu betätigen strebt, und daß sich die deutsche Gegensätzlichkeit, wenn nötig, auch außerhalb des europäischen Festlandes bemerkbar zu machen weiß. Wir Deutsche unserseits sollten wissen, daß der Gedanke eines gallischen Weltreiches rings um das Westbecken des Mittelmeeres herum eine nationale Idee ist, die die heutigen Franzosen mit fast derselben Lebendigkeit erfüllt, wie vor vierzig Jahren der Wunsch nach der deutschen Einigkeit die Stämme vom Fels zum Meer. Was Frankreich mit der Gründung seines europäisch-nordafrikanischen Einheitsreiches erstrebt, ist zuletzt die Wiedergeburt des ungeheueren Gedankens der ehemals hasdrubal-hannibalischen Politik, ein Ringreich von der Stätte des alten Karthago bis an die Tore des Herkules zu errichten. Es unterliegt ja keinem Zweifel, daß dieser neufranzösische Imperialismus, so sehr er sich nach dem Süden in das afrikanische Festland hinein zu verbeißen scheint, zu allerletzt doch nur auf afrikanischer Grundlage seine Spitze in. das europäische Festland richten möchte. Insofern sich eine solche chauvinistische Weltpolitik zu der Hoffnung versteigt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/166>, abgerufen am 27.05.2024.