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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Line Erinnerung, eine Mahnung und eine Hoffnung

mit den Hilfsmitteln Nordafrikas noch nach vierzig Jahren Revanche an uns
zu nehmen, wird sie sicher an der Überspannung der Vergeltuugsidee zugrunde
gehen. Ebenso wenn sie sich darauf kapriziert, mit dem nordafrikanischen Menschen¬
material die Lücken der eigenen Wehrkraft auszufüllen, um uns den Groß- und
Weltmachtkitzel auszutreiben. Das Sträuben gegen die geschichtliche Entwicklung,
die sich im Bunde mit nationalem Idealismus fühlt, hat der dritte Napoleon
als einen Verstoß gegen die Realpolitik mit dem Verlust seines Thrones gebüßt.

Es mag uns Deutschen schwer fallen, in dem Versuch der Franzosen, um
das westliche Mittelmeer ein europäisch-aftikanisches Einheitsreich zu legen, eine
geschichtliche Notwendigkeit zu spüren. Aber der Gang der Entwicklung, die
uns nach Algeciras führte und dort auf den Widerstand fast aller Großmächte
stoßen ließ, sollte uns klar machen, daß unsere Status quo-Politik am Mittel¬
meer, die in dem nationalen Schwung der französischen Ausdehnungspolitik, in
der diplomatischen Mächtegruppierung und in der geographischen Nachbarschaft
Frankreichs und Marokkos einen Dreibund von Gegnern fand, in Wirklichkeit
eine reaktionäre Politik bedeutete. So stark auch der Algecirasvertrag die
Souveränität des Sultans betont, tatsächlich war schon dieser Vertrag die Denk¬
schrift auf dem Grabe der Unabhängigkeit Marokkos. Und mit dem Marsch
nach Fez schritten die französischen Truppen achtlos über Grab und Grabmal
hinweg.

Trotzdem gibt sich unsere nationalistische Presse, indem sie dem Entweder
(einer Abtretung Südwestmarokkos an Deutschland) das Oder (des Rückzuges
der Franzosen) gegenüberstellt, den Anschein, als könne sie die Mumie der
Souveränität des marokkanischen Sultans wieder lebendig machen. In Wahrheit
weiß sie sehr wohl, daß dieser künstliche Wiederbelebungsversuch nur eine Episode
bilden würde, der die amtliche Todeserklärung bald folgen würde. Indem sie
für den Fall des Bleibens der Franzosen in Marokko mit dessen Teilung zufrieden
ist, verrät jene Presse, daß sie ja selbst nicht mehr an die Möglichkeit glaubt,
den Gang der Ereignisse zurückschrauben zu können. Indem sie mit dem Vor¬
schlag, Marokko zu teilen, der Republik den nördlichen Teil anbietet -- wird
da das angeblich so fürchterliche europäisch-nordafrikanische Einheitsreich Frank¬
reichs etwa weniger Wirklichkeit?

Frankreich zu hindern, jemals an ein europäisch-nordafrikanisches Weltreich
zu denken, wäre vielleicht damals, als sich die Republik in Tunis einfchlich,
noch möglich gewesen. Wenn Bismarck freiwillig, aus guten Gründen der
europäischen Politik, Frankreich die Wege in Nordafrika chüele, so haben seine
Nachfolger in Algeciras sein Werk gezwungen fortgesetzt. Es kann nicht unsere Auf¬
gabe sein, das Beispiel Napoleons nachzuahmen und etwas, das wir selbst als
unaushaltbar erkannt und gefördert haben, kurz vor seinem Schluß rückgängig
machen zu wollen. Ich habe, als Llond George und Asquith ihre Drohreden
hielten, aus der Angst des Schatzkanzlers vor einer Störung des englischen
Budgets gefolgert, daß Frankreich bei einem Kriege mit Deutschland an Eng-


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mit den Hilfsmitteln Nordafrikas noch nach vierzig Jahren Revanche an uns
zu nehmen, wird sie sicher an der Überspannung der Vergeltuugsidee zugrunde
gehen. Ebenso wenn sie sich darauf kapriziert, mit dem nordafrikanischen Menschen¬
material die Lücken der eigenen Wehrkraft auszufüllen, um uns den Groß- und
Weltmachtkitzel auszutreiben. Das Sträuben gegen die geschichtliche Entwicklung,
die sich im Bunde mit nationalem Idealismus fühlt, hat der dritte Napoleon
als einen Verstoß gegen die Realpolitik mit dem Verlust seines Thrones gebüßt.

Es mag uns Deutschen schwer fallen, in dem Versuch der Franzosen, um
das westliche Mittelmeer ein europäisch-aftikanisches Einheitsreich zu legen, eine
geschichtliche Notwendigkeit zu spüren. Aber der Gang der Entwicklung, die
uns nach Algeciras führte und dort auf den Widerstand fast aller Großmächte
stoßen ließ, sollte uns klar machen, daß unsere Status quo-Politik am Mittel¬
meer, die in dem nationalen Schwung der französischen Ausdehnungspolitik, in
der diplomatischen Mächtegruppierung und in der geographischen Nachbarschaft
Frankreichs und Marokkos einen Dreibund von Gegnern fand, in Wirklichkeit
eine reaktionäre Politik bedeutete. So stark auch der Algecirasvertrag die
Souveränität des Sultans betont, tatsächlich war schon dieser Vertrag die Denk¬
schrift auf dem Grabe der Unabhängigkeit Marokkos. Und mit dem Marsch
nach Fez schritten die französischen Truppen achtlos über Grab und Grabmal
hinweg.

Trotzdem gibt sich unsere nationalistische Presse, indem sie dem Entweder
(einer Abtretung Südwestmarokkos an Deutschland) das Oder (des Rückzuges
der Franzosen) gegenüberstellt, den Anschein, als könne sie die Mumie der
Souveränität des marokkanischen Sultans wieder lebendig machen. In Wahrheit
weiß sie sehr wohl, daß dieser künstliche Wiederbelebungsversuch nur eine Episode
bilden würde, der die amtliche Todeserklärung bald folgen würde. Indem sie
für den Fall des Bleibens der Franzosen in Marokko mit dessen Teilung zufrieden
ist, verrät jene Presse, daß sie ja selbst nicht mehr an die Möglichkeit glaubt,
den Gang der Ereignisse zurückschrauben zu können. Indem sie mit dem Vor¬
schlag, Marokko zu teilen, der Republik den nördlichen Teil anbietet — wird
da das angeblich so fürchterliche europäisch-nordafrikanische Einheitsreich Frank¬
reichs etwa weniger Wirklichkeit?

Frankreich zu hindern, jemals an ein europäisch-nordafrikanisches Weltreich
zu denken, wäre vielleicht damals, als sich die Republik in Tunis einfchlich,
noch möglich gewesen. Wenn Bismarck freiwillig, aus guten Gründen der
europäischen Politik, Frankreich die Wege in Nordafrika chüele, so haben seine
Nachfolger in Algeciras sein Werk gezwungen fortgesetzt. Es kann nicht unsere Auf¬
gabe sein, das Beispiel Napoleons nachzuahmen und etwas, das wir selbst als
unaushaltbar erkannt und gefördert haben, kurz vor seinem Schluß rückgängig
machen zu wollen. Ich habe, als Llond George und Asquith ihre Drohreden
hielten, aus der Angst des Schatzkanzlers vor einer Störung des englischen
Budgets gefolgert, daß Frankreich bei einem Kriege mit Deutschland an Eng-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/167>, abgerufen am 17.06.2024.