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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Kaiser Wilhelm der Erste und die Aunst seiner Zeit

Bauernlebens immer volltönender anerkannte Leiht, wirklichkeitswahr und nüchtern,
aber deswegen nicht phantasiearm. Er malte all das, was ihn umgab, mit
ehrfürchtiger Treue ab, aber gleichzeitig erlebte er seine Umgebung, er war in
ihr und sie in ihm. Er war, um modern zu reden, ein Körner und ein Schäffer.

In schroffem Gegensatz zu diesem Malermeister steht ein Malerstümper und
doch ein hochbedeutsamer Künstler für seine Gegenwart und für seine Folgezeit,
Hans v. Marsch. Als Marsch auftrat, schreibt Mulder in seiner sehr über¬
flüssigerweise überall zum alten Eisen geworfenen Geschichte der Malerei, gab
es in Deutschland noch keine "große Malerei" um der Malerei willen, sondern
nur eine Wanddekoration im Sinne des historischen Genrebildes. Marsch gab
ihr das Lebensprinzip, den heiteren Schwung zurück, indem er nicht mehr erzählte,
sondern nur malerisch wirken wollte. Auch Wilhelm der Erste und seine großen
Helfer redeten wenig, aber malten große Monumentalgemälde an die Wände
des Hauses, in dem das deutsche Volk wohnte -- vielleicht waren auch sie nicht
überall Malermeister, aber der Sinn für echte Größe lebte in ihren Werken.
Gewiß ist es für Marsch eine zu große Ehre, in dieser Verbindung genannt
zu werden, aber er widerspiegelt besser das Ringen zur Größe im ganzen Volke,
als das Militärbild, das unmittelbar den großen Krieg schildert, und welches
die offiziell anerkannte Verdolmetschung des blutigen Kampfes um die Lebens¬
stellung des deutschen Volkes als "Nation" ist.

Aber die neue Nation hatte noch einen ganz anderen "blutigen Kampf"
auszufechten, den im eigenen Lande Bürger gegen Bürger auskämpften, ohne
daß herzerfreuende Feste, Lorbeerkränze und Fahnenschwenker winkten. Der
soziale Kampf, der Streit der Klassen untereinander und gegeneinander durch¬
tobte fast gleichzeitig mit dem Ringen um politische Freiheit das deutsche Volk.
In den vierziger Jahren war der Stoff schon künstlerisch faßbar geworden. In
den Jahren, als der große Kanzler den Fehdehandschuh den "Enterbten" hin¬
warf, mit "Blut und Eisen" soziale Forderungen erdrücken wollte, da war die
Saat für die Künstler reif geworden. Die Arme-Leute-Malerei erscheint
geradezu als ein Bekenntnis der Deutschen ihrer inneren Überzeugung von
der Gerechtigkeit der Forderungen der sozialen Frage. Die soziale Fürsorge¬
gesetzgebung Wilhelms des Zweiten hat den Künstlern aus der Zeit Wilhelms
des Ersten recht gegeben; sie waren wieder einmal Dolmetscher ihrer Volks¬
genossen gewesen.

Aber auch ohne diese immerhin etwas programmatische Tendenz erwuchs die
künstlerische "Einkehr ins Volk", anders wie sie von den Novelletten- und Tragödien¬
malern der Zeit vor 1870 geboten war. Der schlichte Wirklichkeitssinn -- trotz
der Gründerzeit darf es gesagt werden -- war überall zu tief eingedrungen, als
daß man nicht Wahrheit über alle anderen Rücksichten hinweg erreichen wollte.
Es war ja auch die Zeit, in der die Naturwissenschaft intensiver als je zuvor
Gottes Wort "Werde"' seines mystischen Schimmers entkleiden und von dem
Glänze bewunderungswürdigster Entwicklungsgesetze umleuchten lassen wollte.


Kaiser Wilhelm der Erste und die Aunst seiner Zeit

Bauernlebens immer volltönender anerkannte Leiht, wirklichkeitswahr und nüchtern,
aber deswegen nicht phantasiearm. Er malte all das, was ihn umgab, mit
ehrfürchtiger Treue ab, aber gleichzeitig erlebte er seine Umgebung, er war in
ihr und sie in ihm. Er war, um modern zu reden, ein Körner und ein Schäffer.

In schroffem Gegensatz zu diesem Malermeister steht ein Malerstümper und
doch ein hochbedeutsamer Künstler für seine Gegenwart und für seine Folgezeit,
Hans v. Marsch. Als Marsch auftrat, schreibt Mulder in seiner sehr über¬
flüssigerweise überall zum alten Eisen geworfenen Geschichte der Malerei, gab
es in Deutschland noch keine „große Malerei" um der Malerei willen, sondern
nur eine Wanddekoration im Sinne des historischen Genrebildes. Marsch gab
ihr das Lebensprinzip, den heiteren Schwung zurück, indem er nicht mehr erzählte,
sondern nur malerisch wirken wollte. Auch Wilhelm der Erste und seine großen
Helfer redeten wenig, aber malten große Monumentalgemälde an die Wände
des Hauses, in dem das deutsche Volk wohnte — vielleicht waren auch sie nicht
überall Malermeister, aber der Sinn für echte Größe lebte in ihren Werken.
Gewiß ist es für Marsch eine zu große Ehre, in dieser Verbindung genannt
zu werden, aber er widerspiegelt besser das Ringen zur Größe im ganzen Volke,
als das Militärbild, das unmittelbar den großen Krieg schildert, und welches
die offiziell anerkannte Verdolmetschung des blutigen Kampfes um die Lebens¬
stellung des deutschen Volkes als „Nation" ist.

Aber die neue Nation hatte noch einen ganz anderen „blutigen Kampf"
auszufechten, den im eigenen Lande Bürger gegen Bürger auskämpften, ohne
daß herzerfreuende Feste, Lorbeerkränze und Fahnenschwenker winkten. Der
soziale Kampf, der Streit der Klassen untereinander und gegeneinander durch¬
tobte fast gleichzeitig mit dem Ringen um politische Freiheit das deutsche Volk.
In den vierziger Jahren war der Stoff schon künstlerisch faßbar geworden. In
den Jahren, als der große Kanzler den Fehdehandschuh den „Enterbten" hin¬
warf, mit „Blut und Eisen" soziale Forderungen erdrücken wollte, da war die
Saat für die Künstler reif geworden. Die Arme-Leute-Malerei erscheint
geradezu als ein Bekenntnis der Deutschen ihrer inneren Überzeugung von
der Gerechtigkeit der Forderungen der sozialen Frage. Die soziale Fürsorge¬
gesetzgebung Wilhelms des Zweiten hat den Künstlern aus der Zeit Wilhelms
des Ersten recht gegeben; sie waren wieder einmal Dolmetscher ihrer Volks¬
genossen gewesen.

Aber auch ohne diese immerhin etwas programmatische Tendenz erwuchs die
künstlerische „Einkehr ins Volk", anders wie sie von den Novelletten- und Tragödien¬
malern der Zeit vor 1870 geboten war. Der schlichte Wirklichkeitssinn — trotz
der Gründerzeit darf es gesagt werden — war überall zu tief eingedrungen, als
daß man nicht Wahrheit über alle anderen Rücksichten hinweg erreichen wollte.
Es war ja auch die Zeit, in der die Naturwissenschaft intensiver als je zuvor
Gottes Wort „Werde"' seines mystischen Schimmers entkleiden und von dem
Glänze bewunderungswürdigster Entwicklungsgesetze umleuchten lassen wollte.


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[0023] Kaiser Wilhelm der Erste und die Aunst seiner Zeit Bauernlebens immer volltönender anerkannte Leiht, wirklichkeitswahr und nüchtern, aber deswegen nicht phantasiearm. Er malte all das, was ihn umgab, mit ehrfürchtiger Treue ab, aber gleichzeitig erlebte er seine Umgebung, er war in ihr und sie in ihm. Er war, um modern zu reden, ein Körner und ein Schäffer. In schroffem Gegensatz zu diesem Malermeister steht ein Malerstümper und doch ein hochbedeutsamer Künstler für seine Gegenwart und für seine Folgezeit, Hans v. Marsch. Als Marsch auftrat, schreibt Mulder in seiner sehr über¬ flüssigerweise überall zum alten Eisen geworfenen Geschichte der Malerei, gab es in Deutschland noch keine „große Malerei" um der Malerei willen, sondern nur eine Wanddekoration im Sinne des historischen Genrebildes. Marsch gab ihr das Lebensprinzip, den heiteren Schwung zurück, indem er nicht mehr erzählte, sondern nur malerisch wirken wollte. Auch Wilhelm der Erste und seine großen Helfer redeten wenig, aber malten große Monumentalgemälde an die Wände des Hauses, in dem das deutsche Volk wohnte — vielleicht waren auch sie nicht überall Malermeister, aber der Sinn für echte Größe lebte in ihren Werken. Gewiß ist es für Marsch eine zu große Ehre, in dieser Verbindung genannt zu werden, aber er widerspiegelt besser das Ringen zur Größe im ganzen Volke, als das Militärbild, das unmittelbar den großen Krieg schildert, und welches die offiziell anerkannte Verdolmetschung des blutigen Kampfes um die Lebens¬ stellung des deutschen Volkes als „Nation" ist. Aber die neue Nation hatte noch einen ganz anderen „blutigen Kampf" auszufechten, den im eigenen Lande Bürger gegen Bürger auskämpften, ohne daß herzerfreuende Feste, Lorbeerkränze und Fahnenschwenker winkten. Der soziale Kampf, der Streit der Klassen untereinander und gegeneinander durch¬ tobte fast gleichzeitig mit dem Ringen um politische Freiheit das deutsche Volk. In den vierziger Jahren war der Stoff schon künstlerisch faßbar geworden. In den Jahren, als der große Kanzler den Fehdehandschuh den „Enterbten" hin¬ warf, mit „Blut und Eisen" soziale Forderungen erdrücken wollte, da war die Saat für die Künstler reif geworden. Die Arme-Leute-Malerei erscheint geradezu als ein Bekenntnis der Deutschen ihrer inneren Überzeugung von der Gerechtigkeit der Forderungen der sozialen Frage. Die soziale Fürsorge¬ gesetzgebung Wilhelms des Zweiten hat den Künstlern aus der Zeit Wilhelms des Ersten recht gegeben; sie waren wieder einmal Dolmetscher ihrer Volks¬ genossen gewesen. Aber auch ohne diese immerhin etwas programmatische Tendenz erwuchs die künstlerische „Einkehr ins Volk", anders wie sie von den Novelletten- und Tragödien¬ malern der Zeit vor 1870 geboten war. Der schlichte Wirklichkeitssinn — trotz der Gründerzeit darf es gesagt werden — war überall zu tief eingedrungen, als daß man nicht Wahrheit über alle anderen Rücksichten hinweg erreichen wollte. Es war ja auch die Zeit, in der die Naturwissenschaft intensiver als je zuvor Gottes Wort „Werde"' seines mystischen Schimmers entkleiden und von dem Glänze bewunderungswürdigster Entwicklungsgesetze umleuchten lassen wollte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/23>, abgerufen am 17.06.2024.