Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Goethes Wilhelm Meister

Gründen der Rücksicht auf ängstliche Gemüter -- um der Schwachen willen --
ein vorsichtiges Prüfen und Behandeln am Platze sein. Man kann leicht in die
Gefahr der Verketzerung kommen, wenn man auf einer kleinen Strecke abseits
von dem herkömmlichen Wege einer konfessionellen Richtung sich bewegt, und
wenn man hier insbesondere den "großen Heiden", den "unmoralischen" Goethe
als Zeugen aufruft. Immerhin kann man sich, wenn man eine gewisse Position
erlangt hat, getrost selbst einem Goethe anschließen -- ich meine das gar nicht
ironisch --, zumal da er sicher mehr Menschenkenntnis und Weltkenntnis besessen
hat als mancher Theologe und hier es doch weniger auf die reine Lehre als
auf das Leben ankommt. Wunderlich genug mutet es an, daß gerade Goethe
uns die Ehrfurcht vor dem Dogma eindringlich lehren kann.

Es ist doch merkwürdig, daß wir bei soviel Verständnis des äußeren Lebens,
bei soviel Fortschritt aus dem dunkelsten Aberglauben heraus und anderseits
bei soviel vortrefflichen Leistungen aller theologischen Disziplin so wenig Fort¬
schritte sehen in der Erkenntnis der religiösen Gegenstände, in der Anerkennung
des christlichen Glaubens unter der großen Masse unseres Volkes. Es ist auch
merkwürdig, daß selbst die Macht der Inneren Mission bei allem Segen, den
sie gestiftet hat, das nicht leistet, was man von ihr erwartet hat, und was sie
verheißt: eine religiöse Wiedergeburt Deutschlands. Man hat sich von den
gesellschaftlichen Verkehrtheiten, von denen vorhin die Rede war, anstecken lassen
und von dem Kastenwesen der Stände auch auf dem Gebiete des religiösen
Lebens sich nicht ganz frei gehalten.

Auf dem Wege sind wir noch weit entfernt von der ersehnten Volkskirche,
zumal man gerade da, wo man doch am wenigsten von weltlichen Einflüssen
berührt sein will, und wo das Volk noch am ersten zur Geltung kommt, inner¬
halb der Sekten und der Gebetsgemeinschaften, fehr oft allzu menschlich sich
imponieren läßt von hohen Dingen, nach denen man nicht trachten soll.

Bedenken wir dabei die ungeheuere Fülle des religiösen Stoffes, mit dem
alljährlich das deutsche Volk überschüttet wird! Denken wir an die unzähligen
Zeugnisse der Wirksamkeit der Kirche in unseren Tagen, d. h. aber wie so viel
gemacht wird, und wie man vor lauter Machen zuletzt gar nicht mehr zur
Verinnerlichung kommt, und wie deshalb die Religion weniger die Beziehung
zu Gott als vielmehr eine neue gesellschaftliche Form zur Befriedigung eines
sentimentalen Gefühls geworden zu sein scheint. Ist das wohl gesund? Ent¬
spricht das wohl der Bedeutung des Christentums? Wilhelm Meister und
besonders die "Bekenntnisse einer schönen Seele" lehren uns, daß etwas weniger
Religion mehr Religion sein kann. Die göttlichen Dinge sollten mit etwas
mehr Keuschheit getragen und verkündigt werden. Von dem, was selbstver¬
ständlich ist, sollte man nicht so viel und mit so gewaltigem Pathos reden,
damit man nicht die zarten Kräfte des Gemütslebens mit Keulen erschlage.

Anderseits scheint man gerade in den kirchlich interessierten Kreisen bei
aller Rechtgläubigkeit die Rechtgläubigkeit ein wenig allzu sehr beiseite zu


Goethes Wilhelm Meister

Gründen der Rücksicht auf ängstliche Gemüter — um der Schwachen willen —
ein vorsichtiges Prüfen und Behandeln am Platze sein. Man kann leicht in die
Gefahr der Verketzerung kommen, wenn man auf einer kleinen Strecke abseits
von dem herkömmlichen Wege einer konfessionellen Richtung sich bewegt, und
wenn man hier insbesondere den „großen Heiden", den „unmoralischen" Goethe
als Zeugen aufruft. Immerhin kann man sich, wenn man eine gewisse Position
erlangt hat, getrost selbst einem Goethe anschließen — ich meine das gar nicht
ironisch —, zumal da er sicher mehr Menschenkenntnis und Weltkenntnis besessen
hat als mancher Theologe und hier es doch weniger auf die reine Lehre als
auf das Leben ankommt. Wunderlich genug mutet es an, daß gerade Goethe
uns die Ehrfurcht vor dem Dogma eindringlich lehren kann.

Es ist doch merkwürdig, daß wir bei soviel Verständnis des äußeren Lebens,
bei soviel Fortschritt aus dem dunkelsten Aberglauben heraus und anderseits
bei soviel vortrefflichen Leistungen aller theologischen Disziplin so wenig Fort¬
schritte sehen in der Erkenntnis der religiösen Gegenstände, in der Anerkennung
des christlichen Glaubens unter der großen Masse unseres Volkes. Es ist auch
merkwürdig, daß selbst die Macht der Inneren Mission bei allem Segen, den
sie gestiftet hat, das nicht leistet, was man von ihr erwartet hat, und was sie
verheißt: eine religiöse Wiedergeburt Deutschlands. Man hat sich von den
gesellschaftlichen Verkehrtheiten, von denen vorhin die Rede war, anstecken lassen
und von dem Kastenwesen der Stände auch auf dem Gebiete des religiösen
Lebens sich nicht ganz frei gehalten.

Auf dem Wege sind wir noch weit entfernt von der ersehnten Volkskirche,
zumal man gerade da, wo man doch am wenigsten von weltlichen Einflüssen
berührt sein will, und wo das Volk noch am ersten zur Geltung kommt, inner¬
halb der Sekten und der Gebetsgemeinschaften, fehr oft allzu menschlich sich
imponieren läßt von hohen Dingen, nach denen man nicht trachten soll.

Bedenken wir dabei die ungeheuere Fülle des religiösen Stoffes, mit dem
alljährlich das deutsche Volk überschüttet wird! Denken wir an die unzähligen
Zeugnisse der Wirksamkeit der Kirche in unseren Tagen, d. h. aber wie so viel
gemacht wird, und wie man vor lauter Machen zuletzt gar nicht mehr zur
Verinnerlichung kommt, und wie deshalb die Religion weniger die Beziehung
zu Gott als vielmehr eine neue gesellschaftliche Form zur Befriedigung eines
sentimentalen Gefühls geworden zu sein scheint. Ist das wohl gesund? Ent¬
spricht das wohl der Bedeutung des Christentums? Wilhelm Meister und
besonders die „Bekenntnisse einer schönen Seele" lehren uns, daß etwas weniger
Religion mehr Religion sein kann. Die göttlichen Dinge sollten mit etwas
mehr Keuschheit getragen und verkündigt werden. Von dem, was selbstver¬
ständlich ist, sollte man nicht so viel und mit so gewaltigem Pathos reden,
damit man nicht die zarten Kräfte des Gemütslebens mit Keulen erschlage.

Anderseits scheint man gerade in den kirchlich interessierten Kreisen bei
aller Rechtgläubigkeit die Rechtgläubigkeit ein wenig allzu sehr beiseite zu


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0287" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319888"/>
          <fw type="header" place="top"> Goethes Wilhelm Meister</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1140" prev="#ID_1139"> Gründen der Rücksicht auf ängstliche Gemüter &#x2014; um der Schwachen willen &#x2014;<lb/>
ein vorsichtiges Prüfen und Behandeln am Platze sein. Man kann leicht in die<lb/>
Gefahr der Verketzerung kommen, wenn man auf einer kleinen Strecke abseits<lb/>
von dem herkömmlichen Wege einer konfessionellen Richtung sich bewegt, und<lb/>
wenn man hier insbesondere den &#x201E;großen Heiden", den &#x201E;unmoralischen" Goethe<lb/>
als Zeugen aufruft. Immerhin kann man sich, wenn man eine gewisse Position<lb/>
erlangt hat, getrost selbst einem Goethe anschließen &#x2014; ich meine das gar nicht<lb/>
ironisch &#x2014;, zumal da er sicher mehr Menschenkenntnis und Weltkenntnis besessen<lb/>
hat als mancher Theologe und hier es doch weniger auf die reine Lehre als<lb/>
auf das Leben ankommt. Wunderlich genug mutet es an, daß gerade Goethe<lb/>
uns die Ehrfurcht vor dem Dogma eindringlich lehren kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1141"> Es ist doch merkwürdig, daß wir bei soviel Verständnis des äußeren Lebens,<lb/>
bei soviel Fortschritt aus dem dunkelsten Aberglauben heraus und anderseits<lb/>
bei soviel vortrefflichen Leistungen aller theologischen Disziplin so wenig Fort¬<lb/>
schritte sehen in der Erkenntnis der religiösen Gegenstände, in der Anerkennung<lb/>
des christlichen Glaubens unter der großen Masse unseres Volkes. Es ist auch<lb/>
merkwürdig, daß selbst die Macht der Inneren Mission bei allem Segen, den<lb/>
sie gestiftet hat, das nicht leistet, was man von ihr erwartet hat, und was sie<lb/>
verheißt: eine religiöse Wiedergeburt Deutschlands. Man hat sich von den<lb/>
gesellschaftlichen Verkehrtheiten, von denen vorhin die Rede war, anstecken lassen<lb/>
und von dem Kastenwesen der Stände auch auf dem Gebiete des religiösen<lb/>
Lebens sich nicht ganz frei gehalten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1142"> Auf dem Wege sind wir noch weit entfernt von der ersehnten Volkskirche,<lb/>
zumal man gerade da, wo man doch am wenigsten von weltlichen Einflüssen<lb/>
berührt sein will, und wo das Volk noch am ersten zur Geltung kommt, inner¬<lb/>
halb der Sekten und der Gebetsgemeinschaften, fehr oft allzu menschlich sich<lb/>
imponieren läßt von hohen Dingen, nach denen man nicht trachten soll.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1143"> Bedenken wir dabei die ungeheuere Fülle des religiösen Stoffes, mit dem<lb/>
alljährlich das deutsche Volk überschüttet wird! Denken wir an die unzähligen<lb/>
Zeugnisse der Wirksamkeit der Kirche in unseren Tagen, d. h. aber wie so viel<lb/>
gemacht wird, und wie man vor lauter Machen zuletzt gar nicht mehr zur<lb/>
Verinnerlichung kommt, und wie deshalb die Religion weniger die Beziehung<lb/>
zu Gott als vielmehr eine neue gesellschaftliche Form zur Befriedigung eines<lb/>
sentimentalen Gefühls geworden zu sein scheint. Ist das wohl gesund? Ent¬<lb/>
spricht das wohl der Bedeutung des Christentums? Wilhelm Meister und<lb/>
besonders die &#x201E;Bekenntnisse einer schönen Seele" lehren uns, daß etwas weniger<lb/>
Religion mehr Religion sein kann. Die göttlichen Dinge sollten mit etwas<lb/>
mehr Keuschheit getragen und verkündigt werden. Von dem, was selbstver¬<lb/>
ständlich ist, sollte man nicht so viel und mit so gewaltigem Pathos reden,<lb/>
damit man nicht die zarten Kräfte des Gemütslebens mit Keulen erschlage.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1144" next="#ID_1145"> Anderseits scheint man gerade in den kirchlich interessierten Kreisen bei<lb/>
aller Rechtgläubigkeit die Rechtgläubigkeit ein wenig allzu sehr beiseite zu</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0287] Goethes Wilhelm Meister Gründen der Rücksicht auf ängstliche Gemüter — um der Schwachen willen — ein vorsichtiges Prüfen und Behandeln am Platze sein. Man kann leicht in die Gefahr der Verketzerung kommen, wenn man auf einer kleinen Strecke abseits von dem herkömmlichen Wege einer konfessionellen Richtung sich bewegt, und wenn man hier insbesondere den „großen Heiden", den „unmoralischen" Goethe als Zeugen aufruft. Immerhin kann man sich, wenn man eine gewisse Position erlangt hat, getrost selbst einem Goethe anschließen — ich meine das gar nicht ironisch —, zumal da er sicher mehr Menschenkenntnis und Weltkenntnis besessen hat als mancher Theologe und hier es doch weniger auf die reine Lehre als auf das Leben ankommt. Wunderlich genug mutet es an, daß gerade Goethe uns die Ehrfurcht vor dem Dogma eindringlich lehren kann. Es ist doch merkwürdig, daß wir bei soviel Verständnis des äußeren Lebens, bei soviel Fortschritt aus dem dunkelsten Aberglauben heraus und anderseits bei soviel vortrefflichen Leistungen aller theologischen Disziplin so wenig Fort¬ schritte sehen in der Erkenntnis der religiösen Gegenstände, in der Anerkennung des christlichen Glaubens unter der großen Masse unseres Volkes. Es ist auch merkwürdig, daß selbst die Macht der Inneren Mission bei allem Segen, den sie gestiftet hat, das nicht leistet, was man von ihr erwartet hat, und was sie verheißt: eine religiöse Wiedergeburt Deutschlands. Man hat sich von den gesellschaftlichen Verkehrtheiten, von denen vorhin die Rede war, anstecken lassen und von dem Kastenwesen der Stände auch auf dem Gebiete des religiösen Lebens sich nicht ganz frei gehalten. Auf dem Wege sind wir noch weit entfernt von der ersehnten Volkskirche, zumal man gerade da, wo man doch am wenigsten von weltlichen Einflüssen berührt sein will, und wo das Volk noch am ersten zur Geltung kommt, inner¬ halb der Sekten und der Gebetsgemeinschaften, fehr oft allzu menschlich sich imponieren läßt von hohen Dingen, nach denen man nicht trachten soll. Bedenken wir dabei die ungeheuere Fülle des religiösen Stoffes, mit dem alljährlich das deutsche Volk überschüttet wird! Denken wir an die unzähligen Zeugnisse der Wirksamkeit der Kirche in unseren Tagen, d. h. aber wie so viel gemacht wird, und wie man vor lauter Machen zuletzt gar nicht mehr zur Verinnerlichung kommt, und wie deshalb die Religion weniger die Beziehung zu Gott als vielmehr eine neue gesellschaftliche Form zur Befriedigung eines sentimentalen Gefühls geworden zu sein scheint. Ist das wohl gesund? Ent¬ spricht das wohl der Bedeutung des Christentums? Wilhelm Meister und besonders die „Bekenntnisse einer schönen Seele" lehren uns, daß etwas weniger Religion mehr Religion sein kann. Die göttlichen Dinge sollten mit etwas mehr Keuschheit getragen und verkündigt werden. Von dem, was selbstver¬ ständlich ist, sollte man nicht so viel und mit so gewaltigem Pathos reden, damit man nicht die zarten Kräfte des Gemütslebens mit Keulen erschlage. Anderseits scheint man gerade in den kirchlich interessierten Kreisen bei aller Rechtgläubigkeit die Rechtgläubigkeit ein wenig allzu sehr beiseite zu

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/287
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/287>, abgerufen am 17.06.2024.