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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Goethes Wilhelm Meister

setzen. Es scheint, als ob man das Dogma gültig sein lasse, aber die leben¬
digen dogmatischen Kräfte, die gerade in den suchenden Seelen unserer Zeit
nach einem Ausdruck ringen möchten, außer Kurs setzen wolle. Auf der einen
Seite sucht man das Dogma ängstlich zu hüten, indem man es als ein unan¬
tastbares Idol betrachtet, nach dem Grundsatz: (Zuista, non movere, auf der
anderen Seite verwirft man es gerade deswegen und schüttet also das Kind
mit dem Bade aus. Und selbst sehr rechtgläubige Theologen sind der Meinung,
die Lehre tue es nicht, man solle Praktisches Christentum treiben, zu welcher
Meinung ein hartes, in seiner Härte freilich ungerechtes Urteil Eduard v. Hart¬
manns angeführt sei: "Die Beiseiteschiebung des Glaubensinhaltes zugunsten
der sozialen Liebeswerke schließt den Irrtum ein, Früchte des Geistes zu
erwarten, wo der Geist fehlt."

Angesichts der Tatsache, daß die religiöse Verworrenheit in unserer Zeit
eine recht weite Verbreitung gefunden hat, trotz der Wirksamkeit der Kirche,
trotz aller Predigt von Jesu, empfiehlt es sich, doch einmal zu überlegen, ob
nicht noch andere Möglichkeiten vorhanden sind, eine Religiosität, die im Volk
latent ist, zu neuem Leben zu bringen. Und hier ist ein zweifaches zu bemerken
und nach Goethes Wilhelm Meister zu beherzigen. Einmal: Weg mit dem
philologischen und historischen Christentum, und man schränke etwas die Jesus¬
verkündigung ein! Dagegen mehr immanentes Christentum, wie es jene
"schöne Seele" besaß, und mehr Verkündigung "der Christusidee als der Idee
der in jedem Menschen zu realisierenden Gottmenschheit, die der Kern der
Religion ist" (Eduard v. Hartmann). Dabei ist es ganz und gar nicht not¬
wendig, ja auch nicht klug, wollte man das Dogma beiseite setzen oder gar
für veraltet erklären. Gerade Goethe will es am wenigsten entfernt wissen.
Man möchte es nur in seiner einfachsten Gestalt, im Credo, als Grundstimmung
und Quelle des immanenten göttlichen Lebens beibehalten. Man möchte den
religiösen Ausdruck etwas einfacher gestalten, etwa wie -- ich nehme keinen
Anstand das zu erklären -- es in den besten Zeiten des Rationalismus, wenn
auch sehr verwässert geschah, wo doch noch dem Volke die Religion erhalten
blieb. Ob das wohl nicht eine Frucht des religiösen Lebens ist, wie sie reifer
die Jesusanbeter wohl nicht zeitigen können, wenn der Oheim auf seinem
Sterbelager, ohne Jesus zu bekennen, mit Heiterkeit spricht: Wo ist die Todes¬
furcht hingekommen, die ich sonst noch wohl empfand? Sollt' ich zu sterben
scheuen? Ich habe einen gnädigen Gott, das Grab erweckt mir kein Grauen,
ich habe ein ewiges Leben.

Und das andere: Weniger Predigt, und wenn sie triefen sollte nach
Mitternachtsöl, und mehr Kultus! Gerade die Erneuerung der äußeren
symbolischen Formen und ihre Pflege -- ich scheue mich durchaus nicht, hier
auf das Beispiel der katholischen Kirche hinzuweisen -- kann das immanente
Christentum, die geistig lebendige Religion, zum äußeren Leben bringen. Nur
ein Beispiel aus Wilhelm Meister: In jenem Kapitel, wo von der Erziehung


Goethes Wilhelm Meister

setzen. Es scheint, als ob man das Dogma gültig sein lasse, aber die leben¬
digen dogmatischen Kräfte, die gerade in den suchenden Seelen unserer Zeit
nach einem Ausdruck ringen möchten, außer Kurs setzen wolle. Auf der einen
Seite sucht man das Dogma ängstlich zu hüten, indem man es als ein unan¬
tastbares Idol betrachtet, nach dem Grundsatz: (Zuista, non movere, auf der
anderen Seite verwirft man es gerade deswegen und schüttet also das Kind
mit dem Bade aus. Und selbst sehr rechtgläubige Theologen sind der Meinung,
die Lehre tue es nicht, man solle Praktisches Christentum treiben, zu welcher
Meinung ein hartes, in seiner Härte freilich ungerechtes Urteil Eduard v. Hart¬
manns angeführt sei: „Die Beiseiteschiebung des Glaubensinhaltes zugunsten
der sozialen Liebeswerke schließt den Irrtum ein, Früchte des Geistes zu
erwarten, wo der Geist fehlt."

Angesichts der Tatsache, daß die religiöse Verworrenheit in unserer Zeit
eine recht weite Verbreitung gefunden hat, trotz der Wirksamkeit der Kirche,
trotz aller Predigt von Jesu, empfiehlt es sich, doch einmal zu überlegen, ob
nicht noch andere Möglichkeiten vorhanden sind, eine Religiosität, die im Volk
latent ist, zu neuem Leben zu bringen. Und hier ist ein zweifaches zu bemerken
und nach Goethes Wilhelm Meister zu beherzigen. Einmal: Weg mit dem
philologischen und historischen Christentum, und man schränke etwas die Jesus¬
verkündigung ein! Dagegen mehr immanentes Christentum, wie es jene
„schöne Seele" besaß, und mehr Verkündigung „der Christusidee als der Idee
der in jedem Menschen zu realisierenden Gottmenschheit, die der Kern der
Religion ist" (Eduard v. Hartmann). Dabei ist es ganz und gar nicht not¬
wendig, ja auch nicht klug, wollte man das Dogma beiseite setzen oder gar
für veraltet erklären. Gerade Goethe will es am wenigsten entfernt wissen.
Man möchte es nur in seiner einfachsten Gestalt, im Credo, als Grundstimmung
und Quelle des immanenten göttlichen Lebens beibehalten. Man möchte den
religiösen Ausdruck etwas einfacher gestalten, etwa wie — ich nehme keinen
Anstand das zu erklären — es in den besten Zeiten des Rationalismus, wenn
auch sehr verwässert geschah, wo doch noch dem Volke die Religion erhalten
blieb. Ob das wohl nicht eine Frucht des religiösen Lebens ist, wie sie reifer
die Jesusanbeter wohl nicht zeitigen können, wenn der Oheim auf seinem
Sterbelager, ohne Jesus zu bekennen, mit Heiterkeit spricht: Wo ist die Todes¬
furcht hingekommen, die ich sonst noch wohl empfand? Sollt' ich zu sterben
scheuen? Ich habe einen gnädigen Gott, das Grab erweckt mir kein Grauen,
ich habe ein ewiges Leben.

Und das andere: Weniger Predigt, und wenn sie triefen sollte nach
Mitternachtsöl, und mehr Kultus! Gerade die Erneuerung der äußeren
symbolischen Formen und ihre Pflege — ich scheue mich durchaus nicht, hier
auf das Beispiel der katholischen Kirche hinzuweisen — kann das immanente
Christentum, die geistig lebendige Religion, zum äußeren Leben bringen. Nur
ein Beispiel aus Wilhelm Meister: In jenem Kapitel, wo von der Erziehung


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[0288] Goethes Wilhelm Meister setzen. Es scheint, als ob man das Dogma gültig sein lasse, aber die leben¬ digen dogmatischen Kräfte, die gerade in den suchenden Seelen unserer Zeit nach einem Ausdruck ringen möchten, außer Kurs setzen wolle. Auf der einen Seite sucht man das Dogma ängstlich zu hüten, indem man es als ein unan¬ tastbares Idol betrachtet, nach dem Grundsatz: (Zuista, non movere, auf der anderen Seite verwirft man es gerade deswegen und schüttet also das Kind mit dem Bade aus. Und selbst sehr rechtgläubige Theologen sind der Meinung, die Lehre tue es nicht, man solle Praktisches Christentum treiben, zu welcher Meinung ein hartes, in seiner Härte freilich ungerechtes Urteil Eduard v. Hart¬ manns angeführt sei: „Die Beiseiteschiebung des Glaubensinhaltes zugunsten der sozialen Liebeswerke schließt den Irrtum ein, Früchte des Geistes zu erwarten, wo der Geist fehlt." Angesichts der Tatsache, daß die religiöse Verworrenheit in unserer Zeit eine recht weite Verbreitung gefunden hat, trotz der Wirksamkeit der Kirche, trotz aller Predigt von Jesu, empfiehlt es sich, doch einmal zu überlegen, ob nicht noch andere Möglichkeiten vorhanden sind, eine Religiosität, die im Volk latent ist, zu neuem Leben zu bringen. Und hier ist ein zweifaches zu bemerken und nach Goethes Wilhelm Meister zu beherzigen. Einmal: Weg mit dem philologischen und historischen Christentum, und man schränke etwas die Jesus¬ verkündigung ein! Dagegen mehr immanentes Christentum, wie es jene „schöne Seele" besaß, und mehr Verkündigung „der Christusidee als der Idee der in jedem Menschen zu realisierenden Gottmenschheit, die der Kern der Religion ist" (Eduard v. Hartmann). Dabei ist es ganz und gar nicht not¬ wendig, ja auch nicht klug, wollte man das Dogma beiseite setzen oder gar für veraltet erklären. Gerade Goethe will es am wenigsten entfernt wissen. Man möchte es nur in seiner einfachsten Gestalt, im Credo, als Grundstimmung und Quelle des immanenten göttlichen Lebens beibehalten. Man möchte den religiösen Ausdruck etwas einfacher gestalten, etwa wie — ich nehme keinen Anstand das zu erklären — es in den besten Zeiten des Rationalismus, wenn auch sehr verwässert geschah, wo doch noch dem Volke die Religion erhalten blieb. Ob das wohl nicht eine Frucht des religiösen Lebens ist, wie sie reifer die Jesusanbeter wohl nicht zeitigen können, wenn der Oheim auf seinem Sterbelager, ohne Jesus zu bekennen, mit Heiterkeit spricht: Wo ist die Todes¬ furcht hingekommen, die ich sonst noch wohl empfand? Sollt' ich zu sterben scheuen? Ich habe einen gnädigen Gott, das Grab erweckt mir kein Grauen, ich habe ein ewiges Leben. Und das andere: Weniger Predigt, und wenn sie triefen sollte nach Mitternachtsöl, und mehr Kultus! Gerade die Erneuerung der äußeren symbolischen Formen und ihre Pflege — ich scheue mich durchaus nicht, hier auf das Beispiel der katholischen Kirche hinzuweisen — kann das immanente Christentum, die geistig lebendige Religion, zum äußeren Leben bringen. Nur ein Beispiel aus Wilhelm Meister: In jenem Kapitel, wo von der Erziehung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/288>, abgerufen am 26.05.2024.