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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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maßgebliches und Unmaßgebliches

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furt ni, M. und Hamburg, In einem Artikel
"Die Frankfurter Universität und die Volks¬
bildung" in der Frankfurter Zeitung (Ur, 261,
20. Sept. 1911) weist er darauf hin, daß
gerade solche Bildungsstätten bon unbedingter
wirtschaftlicher, politischer und geistiger Un¬
abhängigkeit, wie sie in diesen beiden Zentren
des deutschen Wirtschaftslebens sich organisch
entwickelten, besonders geeignet dazu seien,
bei der "Durchdringung der wissenschaftlichen
Forschung und Lehre mit dem Geiste und
der Energie des modernen Kulturlebens"
mitzuwirken und Hochschulen sozialwirtschaft¬
licher, sozialpolitischer und sozialpädagogischer
Ausbildung zu werden. Auch hier aber legt
Natorp nicht nur auf den Bolksunterricht
Nachdruck, sondern vor allem auf die
"Weckung und Pflege sozialen Wollens und
Arbeitens". Es ist mit gutem Grunde zu be¬
fürchten, daß die Frankfurter Universität durch
die Preisgabe eines guten Teiles ihrer Eigen
art, nämlich gerade ihrer freiheitlichen und un¬
abhängigen Stellung, die Ideen Natorps
nur in einem geringen Maße wird ver¬
wirklichen können. Dafür darf man aber
Wohl die Hoffnung aussprechen, daß bei dem
Ausbau der Hamburger Universität von den
maßgebenden Stellen die Leitsätze Nniorps
mit berücksichtigt werden möchten.

Dr. w. Warsta
Justiz und Verwaltung

Gerichte und öffentliche Meinung. Herr
Landgerichtsrat Kulemann erklärt in der Anti¬
kritik, mit der er in Ur. 37 der Grenzboten
auch auf meinen unter demselben Titel er¬
schienenen Aufsatz (Grenzboten 1911 Ur. 31)
erwidert, daß seine von mir bekämpften Aus¬
führungen in der Presse ungewöhnliche Be¬
achtung und weit überwiegende Zustimmung
gefunden haben. Ich möchte deshalb aus¬
führlicher entgegnen, als mir ohne diese Zu¬
stimmung notwendig erscheinen würde.

streitet man darüber, ob ein Einfluß der
öffentlichen Meinung auf die Rechtsprechung
wünschenswert ist, so wird es zunächst darauf
ankommen, was denn der Wert eben der
öffentlichen Meinung an sich ist. Der Richter
soll, meint K., alle überhaupt ernst zu nehmen¬
den Ansichten hören und würdigen. Meinet¬
wegen, aber was ergibt diese Betrachtung für


[Spaltenumbruch]

die Frage, auf die es hier ankommt: ob näm¬
lich die öffentliche Meinung Trägerin ernst zu
nehniender Ansichten ist? Den Versuch eines
Beweises für die Bejahung kann ich bei meinen:
Herrn Gegner nicht finden. Er erklärt es für
verfehlt, "wertvolles Prüfungsmaterial" zurück¬
zubehalten, bis nur noch "retrospektive Be¬
trachtungen" möglich seien. Nun gut! Über
erledigte Prozesse wird doch, in Versammlungen
und Parlamenten wie in der Presse, häufig
genug geredet und geschrieben. So erbringe
er doch erst einmal den Beweis, daß hier Er¬
gebnisse gewonnen werden, die bei der Urteils¬
fällung gekannt zu haben dem Gericht nützlich
gewesen wäre, und die es trotz pflichtmäßiger
Sorgfalt ohne solche Unterstützung nicht hätte
haben können! Das Gold, das die öffentliche
Meinung aus dem tiefen Schacht des Gesamt¬
denkens -- "öffentliche Meinungen -- Private
Faulheiten" war vielleicht ein Fehlspruch
Nietzsches -- zutage fördert, kann ja bon
seinem Glänze nichts dadurch verlieren, daß
es dem Auge des Richters einstweilen ver¬
borgen blieb.

Ich habe in meinem früheren Aufsatz be¬
tont, daß die öffentliche Meinung weniger durch
Gründe als durch moralischen Zwang wirkt,
und daß dies besonders für die Unparteilich¬
keit von Zeugen gefährlich sei. Aber, heißt
es in der Erwiderung, die öffentliche Meinung
"besteht ja begrifflich aus den Ansichtsäuße-
rnngen der allerverschiedensten Richtungen und
Parteien, die sich gegenseitig kontrollieren und
korrigieren".

Also die verschiedenen Richtungen der öffent¬
lichen Meinung kontrollieren sich gegenseitig:
ehr schön vielleicht in der Theorie, aber wie
ieht's in der Praxis aus? In der Tat: wer
die Frankfurter Zeitung hochschätzt, ist regel¬
mäßig auch auf die Kreuzzeitung abonniere,
um sich eine selbständige Meinung zu bilden,
ob denn die bösen Konservativen wirklich so
arg sind; dasselbe gilt natürlich im umge¬
ehrten Fall. Und jeder Unternehmer liest
neben seinem großkapitalistischen Leiborgan die
Soziale Praxis", um nicht einseitig unterrichtet
u sein!

Im Ernst gesprochen: beruht nicht die
Herrschaft der Phrase gerade darauf, daß der
Spießbürger, der Träger der öffentlichen Mei¬
ung, über die Schranken seiner Klasse, seines

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maßgebliches und Unmaßgebliches

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furt ni, M. und Hamburg, In einem Artikel
„Die Frankfurter Universität und die Volks¬
bildung" in der Frankfurter Zeitung (Ur, 261,
20. Sept. 1911) weist er darauf hin, daß
gerade solche Bildungsstätten bon unbedingter
wirtschaftlicher, politischer und geistiger Un¬
abhängigkeit, wie sie in diesen beiden Zentren
des deutschen Wirtschaftslebens sich organisch
entwickelten, besonders geeignet dazu seien,
bei der „Durchdringung der wissenschaftlichen
Forschung und Lehre mit dem Geiste und
der Energie des modernen Kulturlebens"
mitzuwirken und Hochschulen sozialwirtschaft¬
licher, sozialpolitischer und sozialpädagogischer
Ausbildung zu werden. Auch hier aber legt
Natorp nicht nur auf den Bolksunterricht
Nachdruck, sondern vor allem auf die
„Weckung und Pflege sozialen Wollens und
Arbeitens". Es ist mit gutem Grunde zu be¬
fürchten, daß die Frankfurter Universität durch
die Preisgabe eines guten Teiles ihrer Eigen
art, nämlich gerade ihrer freiheitlichen und un¬
abhängigen Stellung, die Ideen Natorps
nur in einem geringen Maße wird ver¬
wirklichen können. Dafür darf man aber
Wohl die Hoffnung aussprechen, daß bei dem
Ausbau der Hamburger Universität von den
maßgebenden Stellen die Leitsätze Nniorps
mit berücksichtigt werden möchten.

Dr. w. Warsta
Justiz und Verwaltung

Gerichte und öffentliche Meinung. Herr
Landgerichtsrat Kulemann erklärt in der Anti¬
kritik, mit der er in Ur. 37 der Grenzboten
auch auf meinen unter demselben Titel er¬
schienenen Aufsatz (Grenzboten 1911 Ur. 31)
erwidert, daß seine von mir bekämpften Aus¬
führungen in der Presse ungewöhnliche Be¬
achtung und weit überwiegende Zustimmung
gefunden haben. Ich möchte deshalb aus¬
führlicher entgegnen, als mir ohne diese Zu¬
stimmung notwendig erscheinen würde.

streitet man darüber, ob ein Einfluß der
öffentlichen Meinung auf die Rechtsprechung
wünschenswert ist, so wird es zunächst darauf
ankommen, was denn der Wert eben der
öffentlichen Meinung an sich ist. Der Richter
soll, meint K., alle überhaupt ernst zu nehmen¬
den Ansichten hören und würdigen. Meinet¬
wegen, aber was ergibt diese Betrachtung für


[Spaltenumbruch]

die Frage, auf die es hier ankommt: ob näm¬
lich die öffentliche Meinung Trägerin ernst zu
nehniender Ansichten ist? Den Versuch eines
Beweises für die Bejahung kann ich bei meinen:
Herrn Gegner nicht finden. Er erklärt es für
verfehlt, „wertvolles Prüfungsmaterial" zurück¬
zubehalten, bis nur noch „retrospektive Be¬
trachtungen" möglich seien. Nun gut! Über
erledigte Prozesse wird doch, in Versammlungen
und Parlamenten wie in der Presse, häufig
genug geredet und geschrieben. So erbringe
er doch erst einmal den Beweis, daß hier Er¬
gebnisse gewonnen werden, die bei der Urteils¬
fällung gekannt zu haben dem Gericht nützlich
gewesen wäre, und die es trotz pflichtmäßiger
Sorgfalt ohne solche Unterstützung nicht hätte
haben können! Das Gold, das die öffentliche
Meinung aus dem tiefen Schacht des Gesamt¬
denkens — „öffentliche Meinungen — Private
Faulheiten" war vielleicht ein Fehlspruch
Nietzsches — zutage fördert, kann ja bon
seinem Glänze nichts dadurch verlieren, daß
es dem Auge des Richters einstweilen ver¬
borgen blieb.

Ich habe in meinem früheren Aufsatz be¬
tont, daß die öffentliche Meinung weniger durch
Gründe als durch moralischen Zwang wirkt,
und daß dies besonders für die Unparteilich¬
keit von Zeugen gefährlich sei. Aber, heißt
es in der Erwiderung, die öffentliche Meinung
„besteht ja begrifflich aus den Ansichtsäuße-
rnngen der allerverschiedensten Richtungen und
Parteien, die sich gegenseitig kontrollieren und
korrigieren".

Also die verschiedenen Richtungen der öffent¬
lichen Meinung kontrollieren sich gegenseitig:
ehr schön vielleicht in der Theorie, aber wie
ieht's in der Praxis aus? In der Tat: wer
die Frankfurter Zeitung hochschätzt, ist regel¬
mäßig auch auf die Kreuzzeitung abonniere,
um sich eine selbständige Meinung zu bilden,
ob denn die bösen Konservativen wirklich so
arg sind; dasselbe gilt natürlich im umge¬
ehrten Fall. Und jeder Unternehmer liest
neben seinem großkapitalistischen Leiborgan die
Soziale Praxis", um nicht einseitig unterrichtet
u sein!

Im Ernst gesprochen: beruht nicht die
Herrschaft der Phrase gerade darauf, daß der
Spießbürger, der Träger der öffentlichen Mei¬
ung, über die Schranken seiner Klasse, seines

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[0419] maßgebliches und Unmaßgebliches furt ni, M. und Hamburg, In einem Artikel „Die Frankfurter Universität und die Volks¬ bildung" in der Frankfurter Zeitung (Ur, 261, 20. Sept. 1911) weist er darauf hin, daß gerade solche Bildungsstätten bon unbedingter wirtschaftlicher, politischer und geistiger Un¬ abhängigkeit, wie sie in diesen beiden Zentren des deutschen Wirtschaftslebens sich organisch entwickelten, besonders geeignet dazu seien, bei der „Durchdringung der wissenschaftlichen Forschung und Lehre mit dem Geiste und der Energie des modernen Kulturlebens" mitzuwirken und Hochschulen sozialwirtschaft¬ licher, sozialpolitischer und sozialpädagogischer Ausbildung zu werden. Auch hier aber legt Natorp nicht nur auf den Bolksunterricht Nachdruck, sondern vor allem auf die „Weckung und Pflege sozialen Wollens und Arbeitens". Es ist mit gutem Grunde zu be¬ fürchten, daß die Frankfurter Universität durch die Preisgabe eines guten Teiles ihrer Eigen art, nämlich gerade ihrer freiheitlichen und un¬ abhängigen Stellung, die Ideen Natorps nur in einem geringen Maße wird ver¬ wirklichen können. Dafür darf man aber Wohl die Hoffnung aussprechen, daß bei dem Ausbau der Hamburger Universität von den maßgebenden Stellen die Leitsätze Nniorps mit berücksichtigt werden möchten. Dr. w. Warsta Justiz und Verwaltung Gerichte und öffentliche Meinung. Herr Landgerichtsrat Kulemann erklärt in der Anti¬ kritik, mit der er in Ur. 37 der Grenzboten auch auf meinen unter demselben Titel er¬ schienenen Aufsatz (Grenzboten 1911 Ur. 31) erwidert, daß seine von mir bekämpften Aus¬ führungen in der Presse ungewöhnliche Be¬ achtung und weit überwiegende Zustimmung gefunden haben. Ich möchte deshalb aus¬ führlicher entgegnen, als mir ohne diese Zu¬ stimmung notwendig erscheinen würde. streitet man darüber, ob ein Einfluß der öffentlichen Meinung auf die Rechtsprechung wünschenswert ist, so wird es zunächst darauf ankommen, was denn der Wert eben der öffentlichen Meinung an sich ist. Der Richter soll, meint K., alle überhaupt ernst zu nehmen¬ den Ansichten hören und würdigen. Meinet¬ wegen, aber was ergibt diese Betrachtung für die Frage, auf die es hier ankommt: ob näm¬ lich die öffentliche Meinung Trägerin ernst zu nehniender Ansichten ist? Den Versuch eines Beweises für die Bejahung kann ich bei meinen: Herrn Gegner nicht finden. Er erklärt es für verfehlt, „wertvolles Prüfungsmaterial" zurück¬ zubehalten, bis nur noch „retrospektive Be¬ trachtungen" möglich seien. Nun gut! Über erledigte Prozesse wird doch, in Versammlungen und Parlamenten wie in der Presse, häufig genug geredet und geschrieben. So erbringe er doch erst einmal den Beweis, daß hier Er¬ gebnisse gewonnen werden, die bei der Urteils¬ fällung gekannt zu haben dem Gericht nützlich gewesen wäre, und die es trotz pflichtmäßiger Sorgfalt ohne solche Unterstützung nicht hätte haben können! Das Gold, das die öffentliche Meinung aus dem tiefen Schacht des Gesamt¬ denkens — „öffentliche Meinungen — Private Faulheiten" war vielleicht ein Fehlspruch Nietzsches — zutage fördert, kann ja bon seinem Glänze nichts dadurch verlieren, daß es dem Auge des Richters einstweilen ver¬ borgen blieb. Ich habe in meinem früheren Aufsatz be¬ tont, daß die öffentliche Meinung weniger durch Gründe als durch moralischen Zwang wirkt, und daß dies besonders für die Unparteilich¬ keit von Zeugen gefährlich sei. Aber, heißt es in der Erwiderung, die öffentliche Meinung „besteht ja begrifflich aus den Ansichtsäuße- rnngen der allerverschiedensten Richtungen und Parteien, die sich gegenseitig kontrollieren und korrigieren". Also die verschiedenen Richtungen der öffent¬ lichen Meinung kontrollieren sich gegenseitig: ehr schön vielleicht in der Theorie, aber wie ieht's in der Praxis aus? In der Tat: wer die Frankfurter Zeitung hochschätzt, ist regel¬ mäßig auch auf die Kreuzzeitung abonniere, um sich eine selbständige Meinung zu bilden, ob denn die bösen Konservativen wirklich so arg sind; dasselbe gilt natürlich im umge¬ ehrten Fall. Und jeder Unternehmer liest neben seinem großkapitalistischen Leiborgan die Soziale Praxis", um nicht einseitig unterrichtet u sein! Im Ernst gesprochen: beruht nicht die Herrschaft der Phrase gerade darauf, daß der Spießbürger, der Träger der öffentlichen Mei¬ ung, über die Schranken seiner Klasse, seines

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/419>, abgerufen am 25.05.2024.