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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Berufs weder hinaussieht noch hinaussehen
will? Auf sein Parteiprogramm ist er ein¬
gedrillt, und was darüber ist, das ist vom
Übel!

Und es ist nicht einmal richtig, daß die
öffentliche Meinung nur theoretisch aus einander
kontrollierenden Ansichtsäuszernngen besteht.
Wenn in Frankreich ^ der Bevölkerung für
den Rachekrieg gegen Deutschland, V" für
den Frieden und V" vielleicht für Krieg gegen
England sind, so gibt es nicht drei öffentliche
Meinungen, sondern eine - öffentlich wird eben
diejenige Meinung, die in dem Kampf der
Meinungen zur herrschenden wird. In der
Konfliktszeit war es öffentliche Meinung, daß
Bismarck ein Unglück für Preußen sei, heute,
daß er der deutsche Nationalheld ist. Damals
gab es und heute gibt es Bevölkerungskreise,
die anders urteilen, aber kein Mensch wird
sagen, daß es deshalb zwei oder acht öffent¬
liche Meinungen über Bismarck gab und gibt.
Diese wird von den Wenigen geschaffen und
beherrscht die Vielen. Herrschende Meinung,
der sich die Masse fügt, eben weil sie herrscht,
dies hat man bisher öffentliche Meinung ge¬
nannt. Weist Kulemann "ach, daß diese Macht
trotz ihres moralischen Zwanges die Unpartei¬
lichkeit der an der Rechtspflege als Richter,
Zeugen usw. beteiligte" nicht gefährdet, so
wollen wir weiter sehe"! aber dies ist das
Problem, das mir bisher nicht gelöst scheint.

Nun soll allerdings nach meinem Herrn
Gegner das Gericht Tatsachen ohne Unter¬
stützung der öffentlichen Meinung feststellen,
aber schon in Rechtsfragen soll diese, wenn
auch nicht in erster Linie, mitwirken. Rechts¬
fragen sind Fragen der Rechtswissenschaft, die
nicht weniger schwierig ist als andere Wissen¬
schaften. Öffentliche Meinungen über Rechts¬
fragen haben deshalb gerade so viel Wert,
wie solche etwa über die Richtigkeit der Marx-
schen Mehrwertstheorie (vielleicht Volksabstim¬
mung?) oder die Zweckmäßigkeit der Torpedo¬
schutznetze. Aber die öffentliche Meinung vor
allem soll, so heißt es, den Richter aufklären
über politische, wirtschaftliche, soziale, kulturelle
Gesichtspunkte.

[Spaltenumbruch]

Vielleicht liegt hier der Gewinn? Unsere
Richter gehören nach ihrer Vorbildung zu den
öchstgebildeten Kreisen. Was ihnen recht ist,
muß anderen billig sein. Warum also Ärzten,
Chemikern, Nationalökonomen, Politikern die
efruchtende Einwirkung der öffentlichen Mei¬
nung nicht auch gönnen? Allgemeine Gesichts¬
punkte, so müssen wir annehmen, werden am
besten durch die allgemeine Meinung gefunden.

In der Tat: so wenig Kulemann darlegt,
wie und weshalb die öffentliche Meinung im
allgemeinen weise entscheidet, so wenig deckt
r den besonderen Grund auf, weswegen sie
gerade bei gerichtlichen Urteilen finden soll,
was den Richtern, den Rechts- und Staats¬
anwälten wie den Parteien verborgen blieb.

Bedürften unsere Richter dieser Unter¬
stützung, so müßte man schleunigst ihre Vor-
bildung verbessern: denn sie sollen ja auch ent¬
cheiden, wenn die öffentliche Meinung einmal
chweigt!

Ganz ins unbestimmte klingt Külemcmns
Artikel aus: jedes Recht habe einen "geschicht¬
ich und national bedingten Charakter". Da
der nicht juristisch gebildete Leser vielleicht
annehmen könnte, daß irgend ein Jurist dies
bestreite, sei die Unrichtigkeit solcher Annahme
hier betont. Was folgt aber aus jenem Satz
ür unsere Streitfrage? Und was aus Küle¬
mcmns Schlußsatz: "Unvollkommen bleiben
alle menschlichen Einrichtungen, aber es ist schon
viel gewonnen, wenn die UnVollkommenheiten
möglichst wenig als solche empfunden werden"?

Dieser Satz Paßte genau so gut an den
Schluß einer Abhandlung über die deutsche
Heeresverfnssung oder das englische Parlament
und beweist deshalb hier nicht mehr, als er
dort beweisen würde.

Zweierlei, scheint mir, mußte mein Herr
Gegner darlegen: negativ, daß die öffentliche
Meinung nicht als moralische Macht den Willen
beeinflußt und so die Einsicht trübt; positiv,
daß sie als intellektuelle Macht mit Wahrschein¬
ichkeit wertvolle, sonst nicht zu gewinnende Er¬
gebnisse liefert. Ich kaun nichtfinden,daßderVe-
weis nur in einem dieser Punkte erbracht ist.
Dr. Roland Behrend

[Ende Spaltensatz]


Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Berufs weder hinaussieht noch hinaussehen
will? Auf sein Parteiprogramm ist er ein¬
gedrillt, und was darüber ist, das ist vom
Übel!

Und es ist nicht einmal richtig, daß die
öffentliche Meinung nur theoretisch aus einander
kontrollierenden Ansichtsäuszernngen besteht.
Wenn in Frankreich ^ der Bevölkerung für
den Rachekrieg gegen Deutschland, V» für
den Frieden und V« vielleicht für Krieg gegen
England sind, so gibt es nicht drei öffentliche
Meinungen, sondern eine - öffentlich wird eben
diejenige Meinung, die in dem Kampf der
Meinungen zur herrschenden wird. In der
Konfliktszeit war es öffentliche Meinung, daß
Bismarck ein Unglück für Preußen sei, heute,
daß er der deutsche Nationalheld ist. Damals
gab es und heute gibt es Bevölkerungskreise,
die anders urteilen, aber kein Mensch wird
sagen, daß es deshalb zwei oder acht öffent¬
liche Meinungen über Bismarck gab und gibt.
Diese wird von den Wenigen geschaffen und
beherrscht die Vielen. Herrschende Meinung,
der sich die Masse fügt, eben weil sie herrscht,
dies hat man bisher öffentliche Meinung ge¬
nannt. Weist Kulemann »ach, daß diese Macht
trotz ihres moralischen Zwanges die Unpartei¬
lichkeit der an der Rechtspflege als Richter,
Zeugen usw. beteiligte» nicht gefährdet, so
wollen wir weiter sehe»! aber dies ist das
Problem, das mir bisher nicht gelöst scheint.

Nun soll allerdings nach meinem Herrn
Gegner das Gericht Tatsachen ohne Unter¬
stützung der öffentlichen Meinung feststellen,
aber schon in Rechtsfragen soll diese, wenn
auch nicht in erster Linie, mitwirken. Rechts¬
fragen sind Fragen der Rechtswissenschaft, die
nicht weniger schwierig ist als andere Wissen¬
schaften. Öffentliche Meinungen über Rechts¬
fragen haben deshalb gerade so viel Wert,
wie solche etwa über die Richtigkeit der Marx-
schen Mehrwertstheorie (vielleicht Volksabstim¬
mung?) oder die Zweckmäßigkeit der Torpedo¬
schutznetze. Aber die öffentliche Meinung vor
allem soll, so heißt es, den Richter aufklären
über politische, wirtschaftliche, soziale, kulturelle
Gesichtspunkte.

[Spaltenumbruch]

Vielleicht liegt hier der Gewinn? Unsere
Richter gehören nach ihrer Vorbildung zu den
öchstgebildeten Kreisen. Was ihnen recht ist,
muß anderen billig sein. Warum also Ärzten,
Chemikern, Nationalökonomen, Politikern die
efruchtende Einwirkung der öffentlichen Mei¬
nung nicht auch gönnen? Allgemeine Gesichts¬
punkte, so müssen wir annehmen, werden am
besten durch die allgemeine Meinung gefunden.

In der Tat: so wenig Kulemann darlegt,
wie und weshalb die öffentliche Meinung im
allgemeinen weise entscheidet, so wenig deckt
r den besonderen Grund auf, weswegen sie
gerade bei gerichtlichen Urteilen finden soll,
was den Richtern, den Rechts- und Staats¬
anwälten wie den Parteien verborgen blieb.

Bedürften unsere Richter dieser Unter¬
stützung, so müßte man schleunigst ihre Vor-
bildung verbessern: denn sie sollen ja auch ent¬
cheiden, wenn die öffentliche Meinung einmal
chweigt!

Ganz ins unbestimmte klingt Külemcmns
Artikel aus: jedes Recht habe einen „geschicht¬
ich und national bedingten Charakter". Da
der nicht juristisch gebildete Leser vielleicht
annehmen könnte, daß irgend ein Jurist dies
bestreite, sei die Unrichtigkeit solcher Annahme
hier betont. Was folgt aber aus jenem Satz
ür unsere Streitfrage? Und was aus Küle¬
mcmns Schlußsatz: „Unvollkommen bleiben
alle menschlichen Einrichtungen, aber es ist schon
viel gewonnen, wenn die UnVollkommenheiten
möglichst wenig als solche empfunden werden"?

Dieser Satz Paßte genau so gut an den
Schluß einer Abhandlung über die deutsche
Heeresverfnssung oder das englische Parlament
und beweist deshalb hier nicht mehr, als er
dort beweisen würde.

Zweierlei, scheint mir, mußte mein Herr
Gegner darlegen: negativ, daß die öffentliche
Meinung nicht als moralische Macht den Willen
beeinflußt und so die Einsicht trübt; positiv,
daß sie als intellektuelle Macht mit Wahrschein¬
ichkeit wertvolle, sonst nicht zu gewinnende Er¬
gebnisse liefert. Ich kaun nichtfinden,daßderVe-
weis nur in einem dieser Punkte erbracht ist.
Dr. Roland Behrend

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[0420] Maßgebliches und Unmaßgebliches Berufs weder hinaussieht noch hinaussehen will? Auf sein Parteiprogramm ist er ein¬ gedrillt, und was darüber ist, das ist vom Übel! Und es ist nicht einmal richtig, daß die öffentliche Meinung nur theoretisch aus einander kontrollierenden Ansichtsäuszernngen besteht. Wenn in Frankreich ^ der Bevölkerung für den Rachekrieg gegen Deutschland, V» für den Frieden und V« vielleicht für Krieg gegen England sind, so gibt es nicht drei öffentliche Meinungen, sondern eine - öffentlich wird eben diejenige Meinung, die in dem Kampf der Meinungen zur herrschenden wird. In der Konfliktszeit war es öffentliche Meinung, daß Bismarck ein Unglück für Preußen sei, heute, daß er der deutsche Nationalheld ist. Damals gab es und heute gibt es Bevölkerungskreise, die anders urteilen, aber kein Mensch wird sagen, daß es deshalb zwei oder acht öffent¬ liche Meinungen über Bismarck gab und gibt. Diese wird von den Wenigen geschaffen und beherrscht die Vielen. Herrschende Meinung, der sich die Masse fügt, eben weil sie herrscht, dies hat man bisher öffentliche Meinung ge¬ nannt. Weist Kulemann »ach, daß diese Macht trotz ihres moralischen Zwanges die Unpartei¬ lichkeit der an der Rechtspflege als Richter, Zeugen usw. beteiligte» nicht gefährdet, so wollen wir weiter sehe»! aber dies ist das Problem, das mir bisher nicht gelöst scheint. Nun soll allerdings nach meinem Herrn Gegner das Gericht Tatsachen ohne Unter¬ stützung der öffentlichen Meinung feststellen, aber schon in Rechtsfragen soll diese, wenn auch nicht in erster Linie, mitwirken. Rechts¬ fragen sind Fragen der Rechtswissenschaft, die nicht weniger schwierig ist als andere Wissen¬ schaften. Öffentliche Meinungen über Rechts¬ fragen haben deshalb gerade so viel Wert, wie solche etwa über die Richtigkeit der Marx- schen Mehrwertstheorie (vielleicht Volksabstim¬ mung?) oder die Zweckmäßigkeit der Torpedo¬ schutznetze. Aber die öffentliche Meinung vor allem soll, so heißt es, den Richter aufklären über politische, wirtschaftliche, soziale, kulturelle Gesichtspunkte. Vielleicht liegt hier der Gewinn? Unsere Richter gehören nach ihrer Vorbildung zu den öchstgebildeten Kreisen. Was ihnen recht ist, muß anderen billig sein. Warum also Ärzten, Chemikern, Nationalökonomen, Politikern die efruchtende Einwirkung der öffentlichen Mei¬ nung nicht auch gönnen? Allgemeine Gesichts¬ punkte, so müssen wir annehmen, werden am besten durch die allgemeine Meinung gefunden. In der Tat: so wenig Kulemann darlegt, wie und weshalb die öffentliche Meinung im allgemeinen weise entscheidet, so wenig deckt r den besonderen Grund auf, weswegen sie gerade bei gerichtlichen Urteilen finden soll, was den Richtern, den Rechts- und Staats¬ anwälten wie den Parteien verborgen blieb. Bedürften unsere Richter dieser Unter¬ stützung, so müßte man schleunigst ihre Vor- bildung verbessern: denn sie sollen ja auch ent¬ cheiden, wenn die öffentliche Meinung einmal chweigt! Ganz ins unbestimmte klingt Külemcmns Artikel aus: jedes Recht habe einen „geschicht¬ ich und national bedingten Charakter". Da der nicht juristisch gebildete Leser vielleicht annehmen könnte, daß irgend ein Jurist dies bestreite, sei die Unrichtigkeit solcher Annahme hier betont. Was folgt aber aus jenem Satz ür unsere Streitfrage? Und was aus Küle¬ mcmns Schlußsatz: „Unvollkommen bleiben alle menschlichen Einrichtungen, aber es ist schon viel gewonnen, wenn die UnVollkommenheiten möglichst wenig als solche empfunden werden"? Dieser Satz Paßte genau so gut an den Schluß einer Abhandlung über die deutsche Heeresverfnssung oder das englische Parlament und beweist deshalb hier nicht mehr, als er dort beweisen würde. Zweierlei, scheint mir, mußte mein Herr Gegner darlegen: negativ, daß die öffentliche Meinung nicht als moralische Macht den Willen beeinflußt und so die Einsicht trübt; positiv, daß sie als intellektuelle Macht mit Wahrschein¬ ichkeit wertvolle, sonst nicht zu gewinnende Er¬ gebnisse liefert. Ich kaun nichtfinden,daßderVe- weis nur in einem dieser Punkte erbracht ist. Dr. Roland Behrend

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/420>, abgerufen am 17.06.2024.