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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Ulilliam James' Angriff auf das deutsche Geisteswesen

Doch wir kehren zur Nhilosophis zurück. Der große alte Kant war William
James ein Dorn im Auge. In einer berühmten Rede in Kalifornien äußerte
er, die Philosophie habe Kant nichts zu verdanken. "Ich glaube, daß Kant
uns keinen einzigen Gedanken hinterlassen hat, der zur Philosophie notwendig
wäre, und den die Philosophie nicht schon vorher besaß oder unvermeidlich nach
ihm zu erwerben bestimmt war. . . . Kurz: die wahre philosophische Ent¬
wicklungslinie führt nach meiner Meinung nicht durch Kant hindurch, sondern
um ihn herum zu dem Punkte, auf dem wir jetzt stehen. Die Philosophie kann
ihn völlig kalt stellen und sich in ganzer Fülle aufbauen durch die geradlinige
Verlängerung der älteren englischen Systeme. Hume kann verbessert und aus¬
gebaut und seine Philosophie bereichert werden ausschließlich aus humeschen
Grundsätzen heraus und ohne von den weitschweifigen und schwerfälligen
Künsteleien Kants Gebrauch zu machen. Es erscheint mir in der Tat recht
traurig, daß die wirkliche Geschichte der Philosophie diesen Weg nicht gegangen
ist." Und in demselben Zusammenhange:

"Hume hatte in England keine ebenbürtigen Nachfolger, die ihn vervoll¬
ständigen und seine Mängel ersetzen konnten. So ist es gekommen, daß der
Ausbau der kritischen Philosophie im Wesentlichen Denkern kantischer Färbung
überlassen blieb. Selbst in England und hier in Amerika ist die reichere
Lebensanschauung mit kantischen Schlagworten und Kategorien durchsetzt, und
in unseren Hochschulen sind es die Vorlesungen über Kants Transzendental¬
philosophie, die die Begeisterung der feurigeren Studenten entzünden, während
die Vorlesungen über englische Philosophie in den Hintergrund gedrängt sind.
Ich glaube nicht, daß das echt ist. Denn ich bin aufrichtig davon überzeugt,
daß der englische Geist in der Philosophie für das Denken wie für das Handeln
und das sittliche Leben auf einem heilsameren, gesunderen und wahreren Wege
ist. Kants Geist ist die seltsamste und verzwickteste aller Sammlungen
von altertümlichen Plunder; und Fachleute wie Laien werden ihn immer
besuchen und die merkwürdigen und verqneren Schaustücke zu sehen wünschen.
Die Stimmung in dein Werke des braven alten Mannes ist wahrhaft köstlich.
Und doch: tatsächlich ist er. . . im Grunde eine bloße Merkwürdigkeit, ein
Schaustück."

Die Verkleinerung des Großen führt James zur Vergrößerung des Kleinen.
Kant ist im Grunde nichts. Anders steht es mit Mr. Samuel Bailey, dessen
Philosophie mit James Worten "eine der vorzüglichsten Darstellungen der
englischen Assoziationslehre und voll von wirklicher Kraft" gewesen sei. Ein
bisher so unbekannter, aber so vortrefflicher und kräftiger englischer Philosoph
hatte für Kant nichts übrig gehabt. An Mr. Bailey schließt sich James in der
Abscheu gegen Kant an. Mr. Bailey schreibt nämlich: "Man könne sich nicht
wundern, von hervorragenden Leuten zu hören, daß sie nach jahrelangem
Studium auch nicht einen klaren Gedanken von Kant gewonnen hätten." "Ich,"
so schreibt er und William James mit ihm, "würde mich über das Gegenteil


Ulilliam James' Angriff auf das deutsche Geisteswesen

Doch wir kehren zur Nhilosophis zurück. Der große alte Kant war William
James ein Dorn im Auge. In einer berühmten Rede in Kalifornien äußerte
er, die Philosophie habe Kant nichts zu verdanken. „Ich glaube, daß Kant
uns keinen einzigen Gedanken hinterlassen hat, der zur Philosophie notwendig
wäre, und den die Philosophie nicht schon vorher besaß oder unvermeidlich nach
ihm zu erwerben bestimmt war. . . . Kurz: die wahre philosophische Ent¬
wicklungslinie führt nach meiner Meinung nicht durch Kant hindurch, sondern
um ihn herum zu dem Punkte, auf dem wir jetzt stehen. Die Philosophie kann
ihn völlig kalt stellen und sich in ganzer Fülle aufbauen durch die geradlinige
Verlängerung der älteren englischen Systeme. Hume kann verbessert und aus¬
gebaut und seine Philosophie bereichert werden ausschließlich aus humeschen
Grundsätzen heraus und ohne von den weitschweifigen und schwerfälligen
Künsteleien Kants Gebrauch zu machen. Es erscheint mir in der Tat recht
traurig, daß die wirkliche Geschichte der Philosophie diesen Weg nicht gegangen
ist." Und in demselben Zusammenhange:

„Hume hatte in England keine ebenbürtigen Nachfolger, die ihn vervoll¬
ständigen und seine Mängel ersetzen konnten. So ist es gekommen, daß der
Ausbau der kritischen Philosophie im Wesentlichen Denkern kantischer Färbung
überlassen blieb. Selbst in England und hier in Amerika ist die reichere
Lebensanschauung mit kantischen Schlagworten und Kategorien durchsetzt, und
in unseren Hochschulen sind es die Vorlesungen über Kants Transzendental¬
philosophie, die die Begeisterung der feurigeren Studenten entzünden, während
die Vorlesungen über englische Philosophie in den Hintergrund gedrängt sind.
Ich glaube nicht, daß das echt ist. Denn ich bin aufrichtig davon überzeugt,
daß der englische Geist in der Philosophie für das Denken wie für das Handeln
und das sittliche Leben auf einem heilsameren, gesunderen und wahreren Wege
ist. Kants Geist ist die seltsamste und verzwickteste aller Sammlungen
von altertümlichen Plunder; und Fachleute wie Laien werden ihn immer
besuchen und die merkwürdigen und verqneren Schaustücke zu sehen wünschen.
Die Stimmung in dein Werke des braven alten Mannes ist wahrhaft köstlich.
Und doch: tatsächlich ist er. . . im Grunde eine bloße Merkwürdigkeit, ein
Schaustück."

Die Verkleinerung des Großen führt James zur Vergrößerung des Kleinen.
Kant ist im Grunde nichts. Anders steht es mit Mr. Samuel Bailey, dessen
Philosophie mit James Worten „eine der vorzüglichsten Darstellungen der
englischen Assoziationslehre und voll von wirklicher Kraft" gewesen sei. Ein
bisher so unbekannter, aber so vortrefflicher und kräftiger englischer Philosoph
hatte für Kant nichts übrig gehabt. An Mr. Bailey schließt sich James in der
Abscheu gegen Kant an. Mr. Bailey schreibt nämlich: „Man könne sich nicht
wundern, von hervorragenden Leuten zu hören, daß sie nach jahrelangem
Studium auch nicht einen klaren Gedanken von Kant gewonnen hätten." „Ich,"
so schreibt er und William James mit ihm, „würde mich über das Gegenteil


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[0125] Ulilliam James' Angriff auf das deutsche Geisteswesen Doch wir kehren zur Nhilosophis zurück. Der große alte Kant war William James ein Dorn im Auge. In einer berühmten Rede in Kalifornien äußerte er, die Philosophie habe Kant nichts zu verdanken. „Ich glaube, daß Kant uns keinen einzigen Gedanken hinterlassen hat, der zur Philosophie notwendig wäre, und den die Philosophie nicht schon vorher besaß oder unvermeidlich nach ihm zu erwerben bestimmt war. . . . Kurz: die wahre philosophische Ent¬ wicklungslinie führt nach meiner Meinung nicht durch Kant hindurch, sondern um ihn herum zu dem Punkte, auf dem wir jetzt stehen. Die Philosophie kann ihn völlig kalt stellen und sich in ganzer Fülle aufbauen durch die geradlinige Verlängerung der älteren englischen Systeme. Hume kann verbessert und aus¬ gebaut und seine Philosophie bereichert werden ausschließlich aus humeschen Grundsätzen heraus und ohne von den weitschweifigen und schwerfälligen Künsteleien Kants Gebrauch zu machen. Es erscheint mir in der Tat recht traurig, daß die wirkliche Geschichte der Philosophie diesen Weg nicht gegangen ist." Und in demselben Zusammenhange: „Hume hatte in England keine ebenbürtigen Nachfolger, die ihn vervoll¬ ständigen und seine Mängel ersetzen konnten. So ist es gekommen, daß der Ausbau der kritischen Philosophie im Wesentlichen Denkern kantischer Färbung überlassen blieb. Selbst in England und hier in Amerika ist die reichere Lebensanschauung mit kantischen Schlagworten und Kategorien durchsetzt, und in unseren Hochschulen sind es die Vorlesungen über Kants Transzendental¬ philosophie, die die Begeisterung der feurigeren Studenten entzünden, während die Vorlesungen über englische Philosophie in den Hintergrund gedrängt sind. Ich glaube nicht, daß das echt ist. Denn ich bin aufrichtig davon überzeugt, daß der englische Geist in der Philosophie für das Denken wie für das Handeln und das sittliche Leben auf einem heilsameren, gesunderen und wahreren Wege ist. Kants Geist ist die seltsamste und verzwickteste aller Sammlungen von altertümlichen Plunder; und Fachleute wie Laien werden ihn immer besuchen und die merkwürdigen und verqneren Schaustücke zu sehen wünschen. Die Stimmung in dein Werke des braven alten Mannes ist wahrhaft köstlich. Und doch: tatsächlich ist er. . . im Grunde eine bloße Merkwürdigkeit, ein Schaustück." Die Verkleinerung des Großen führt James zur Vergrößerung des Kleinen. Kant ist im Grunde nichts. Anders steht es mit Mr. Samuel Bailey, dessen Philosophie mit James Worten „eine der vorzüglichsten Darstellungen der englischen Assoziationslehre und voll von wirklicher Kraft" gewesen sei. Ein bisher so unbekannter, aber so vortrefflicher und kräftiger englischer Philosoph hatte für Kant nichts übrig gehabt. An Mr. Bailey schließt sich James in der Abscheu gegen Kant an. Mr. Bailey schreibt nämlich: „Man könne sich nicht wundern, von hervorragenden Leuten zu hören, daß sie nach jahrelangem Studium auch nicht einen klaren Gedanken von Kant gewonnen hätten." „Ich," so schreibt er und William James mit ihm, „würde mich über das Gegenteil

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/125>, abgerufen am 29.05.2024.