Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Sozialismus in England

daß namentlich die wirtschaftlichen Anschauungen der Parteien sich gewandelt
haben, daß sie einstweilen einmal sozialistische Motive im weiteren Sinne des
Wortes in die Gesetzgebung eindringen ließen, wobei die Konservativen und die
Liberalen von verschiedenen Gesichtspunkten ausgingen und auch jeweils nicht
das gleiche Maß von Entgegenkommen zeigten. Insofern hat also die Fabische
Politik der "Durchsetzung" ihren Erfolg gehabt. Aber dies Entgegenkommen
hatte auch auf den Sozialismus Einfluß gehabt, insofern es auf einer "Politik
der Eingliederung" beruhte, wenn man so sagen kann. Diese Politik der Ein¬
gliederung war dabei keineswegs eine Angstpolitik, sondern auf feiten beider
Parteien von Staatsklugen, staatsmännischen Erwägungen kühl und vorsichtig
geleitet, zu verschiedenen Zeiten natürlich mit verschiedenem Geschick und ver¬
schiedenem Erfolg. Sie war in ihren äußeren Mitteln echt englisch, d. h. nicht
hart zugreifend, nicht "prinzipiell", und sie vermied vor allem möglichst schon
den Anschein der Feindseligkeit. Dadurch hat sie zum mindesten die zahlenmäßige
Ausbreitung der sozialistischen Organisationen nicht unbeträchtlich gehemmt, dem
Sozialismus selbst ein gut Teil seiner Fangzähne ausgebrochen und mit dazu
beigetragen, daß die äußere Gehabung der Bewegung bisher in verhältnismäßig
ruhigen und erträglichen Bahnen blieb. Die Konservativen mußten sich dabei
von Hause aus in engeren Grenzen bewegen als die Liberalen. Solange die
sozialistische Bewegung in ihren Anfängen war, machte sich das noch nicht in
dem gleichen Maße bemerkbar, wie später, und so hatte Lord Beaconsfield zu
seiner Zeit mit seinem sozial angehauchten Torytum noch Erfolg. Als aber
der Sozialismus mit der Zeit doch höher wuchs, mußten die Konservativen,
was die AnwendungsMöglichkeit jener Politik der entgegenkommenden Ein¬
gliederung angeht, doch hinter den Liberalen zurückbleiben. Deren Kerntruppen
standen der Arbeiterbevölkerung sozial näher und zudem konnten die radikal-
demokratischen Instinkte der Arbeiterschaft bei ihnen eher Befriedigung erwarten.
So kam es, daß die Liberalen schließlich in der Lage waren, die größeren
Konzessionen zu machen, der Politik der Durchsetzung also stärker unterlagen,
dafür aber auch die größeren Erfolge mit ihrer Politik der Eingliederung hatten,
d. h. die Radikalisierung des englischen Sozialismus und das Anwachsen der
sozialistischen Organisationen am wirkungsvollsten aufhielten. Die Argumen¬
tationen, mit denen sie heute in Verfolg dieser Politik vor die Wählermassen
treten, mag aus einer Rede ersehen werden, die der heutige Schatzkanzler
Großbritanniens Mr. Lloyd-George im Oktober 1906 zu Cardiff, dem Kohlen¬
zentrum von Südwales, hielt. Dort führt er u. a. aus:

"Welchen Einfluß wird diese neue Arbeiterbewegung auf uns britische Liberale haben?
Ich glaube, daß nicht der geringste Grund zu Aufregung besteht. Der Liberalismus wird
niemals aus seiner Vorherrschaft im Reich des politischen Fortschrittes verdrängt werden, es
sei denn, daß er das verdient, weil er seine Grundsätze vernachlässigt oder verrät. ... Der
Arbeiter ist kein Narr. Er weiß, daß eine große Partei, wie die unsrige, mit seiner Unter¬
stützung, Dinge für ihn erreichen kann, die er allein, ohne ihre Unterstützung eben nicht


Der Sozialismus in England

daß namentlich die wirtschaftlichen Anschauungen der Parteien sich gewandelt
haben, daß sie einstweilen einmal sozialistische Motive im weiteren Sinne des
Wortes in die Gesetzgebung eindringen ließen, wobei die Konservativen und die
Liberalen von verschiedenen Gesichtspunkten ausgingen und auch jeweils nicht
das gleiche Maß von Entgegenkommen zeigten. Insofern hat also die Fabische
Politik der „Durchsetzung" ihren Erfolg gehabt. Aber dies Entgegenkommen
hatte auch auf den Sozialismus Einfluß gehabt, insofern es auf einer „Politik
der Eingliederung" beruhte, wenn man so sagen kann. Diese Politik der Ein¬
gliederung war dabei keineswegs eine Angstpolitik, sondern auf feiten beider
Parteien von Staatsklugen, staatsmännischen Erwägungen kühl und vorsichtig
geleitet, zu verschiedenen Zeiten natürlich mit verschiedenem Geschick und ver¬
schiedenem Erfolg. Sie war in ihren äußeren Mitteln echt englisch, d. h. nicht
hart zugreifend, nicht „prinzipiell", und sie vermied vor allem möglichst schon
den Anschein der Feindseligkeit. Dadurch hat sie zum mindesten die zahlenmäßige
Ausbreitung der sozialistischen Organisationen nicht unbeträchtlich gehemmt, dem
Sozialismus selbst ein gut Teil seiner Fangzähne ausgebrochen und mit dazu
beigetragen, daß die äußere Gehabung der Bewegung bisher in verhältnismäßig
ruhigen und erträglichen Bahnen blieb. Die Konservativen mußten sich dabei
von Hause aus in engeren Grenzen bewegen als die Liberalen. Solange die
sozialistische Bewegung in ihren Anfängen war, machte sich das noch nicht in
dem gleichen Maße bemerkbar, wie später, und so hatte Lord Beaconsfield zu
seiner Zeit mit seinem sozial angehauchten Torytum noch Erfolg. Als aber
der Sozialismus mit der Zeit doch höher wuchs, mußten die Konservativen,
was die AnwendungsMöglichkeit jener Politik der entgegenkommenden Ein¬
gliederung angeht, doch hinter den Liberalen zurückbleiben. Deren Kerntruppen
standen der Arbeiterbevölkerung sozial näher und zudem konnten die radikal-
demokratischen Instinkte der Arbeiterschaft bei ihnen eher Befriedigung erwarten.
So kam es, daß die Liberalen schließlich in der Lage waren, die größeren
Konzessionen zu machen, der Politik der Durchsetzung also stärker unterlagen,
dafür aber auch die größeren Erfolge mit ihrer Politik der Eingliederung hatten,
d. h. die Radikalisierung des englischen Sozialismus und das Anwachsen der
sozialistischen Organisationen am wirkungsvollsten aufhielten. Die Argumen¬
tationen, mit denen sie heute in Verfolg dieser Politik vor die Wählermassen
treten, mag aus einer Rede ersehen werden, die der heutige Schatzkanzler
Großbritanniens Mr. Lloyd-George im Oktober 1906 zu Cardiff, dem Kohlen¬
zentrum von Südwales, hielt. Dort führt er u. a. aus:

„Welchen Einfluß wird diese neue Arbeiterbewegung auf uns britische Liberale haben?
Ich glaube, daß nicht der geringste Grund zu Aufregung besteht. Der Liberalismus wird
niemals aus seiner Vorherrschaft im Reich des politischen Fortschrittes verdrängt werden, es
sei denn, daß er das verdient, weil er seine Grundsätze vernachlässigt oder verrät. ... Der
Arbeiter ist kein Narr. Er weiß, daß eine große Partei, wie die unsrige, mit seiner Unter¬
stützung, Dinge für ihn erreichen kann, die er allein, ohne ihre Unterstützung eben nicht


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0284" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320701"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Sozialismus in England</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1121" prev="#ID_1120"> daß namentlich die wirtschaftlichen Anschauungen der Parteien sich gewandelt<lb/>
haben, daß sie einstweilen einmal sozialistische Motive im weiteren Sinne des<lb/>
Wortes in die Gesetzgebung eindringen ließen, wobei die Konservativen und die<lb/>
Liberalen von verschiedenen Gesichtspunkten ausgingen und auch jeweils nicht<lb/>
das gleiche Maß von Entgegenkommen zeigten. Insofern hat also die Fabische<lb/>
Politik der &#x201E;Durchsetzung" ihren Erfolg gehabt. Aber dies Entgegenkommen<lb/>
hatte auch auf den Sozialismus Einfluß gehabt, insofern es auf einer &#x201E;Politik<lb/>
der Eingliederung" beruhte, wenn man so sagen kann. Diese Politik der Ein¬<lb/>
gliederung war dabei keineswegs eine Angstpolitik, sondern auf feiten beider<lb/>
Parteien von Staatsklugen, staatsmännischen Erwägungen kühl und vorsichtig<lb/>
geleitet, zu verschiedenen Zeiten natürlich mit verschiedenem Geschick und ver¬<lb/>
schiedenem Erfolg. Sie war in ihren äußeren Mitteln echt englisch, d. h. nicht<lb/>
hart zugreifend, nicht &#x201E;prinzipiell", und sie vermied vor allem möglichst schon<lb/>
den Anschein der Feindseligkeit. Dadurch hat sie zum mindesten die zahlenmäßige<lb/>
Ausbreitung der sozialistischen Organisationen nicht unbeträchtlich gehemmt, dem<lb/>
Sozialismus selbst ein gut Teil seiner Fangzähne ausgebrochen und mit dazu<lb/>
beigetragen, daß die äußere Gehabung der Bewegung bisher in verhältnismäßig<lb/>
ruhigen und erträglichen Bahnen blieb. Die Konservativen mußten sich dabei<lb/>
von Hause aus in engeren Grenzen bewegen als die Liberalen. Solange die<lb/>
sozialistische Bewegung in ihren Anfängen war, machte sich das noch nicht in<lb/>
dem gleichen Maße bemerkbar, wie später, und so hatte Lord Beaconsfield zu<lb/>
seiner Zeit mit seinem sozial angehauchten Torytum noch Erfolg. Als aber<lb/>
der Sozialismus mit der Zeit doch höher wuchs, mußten die Konservativen,<lb/>
was die AnwendungsMöglichkeit jener Politik der entgegenkommenden Ein¬<lb/>
gliederung angeht, doch hinter den Liberalen zurückbleiben. Deren Kerntruppen<lb/>
standen der Arbeiterbevölkerung sozial näher und zudem konnten die radikal-<lb/>
demokratischen Instinkte der Arbeiterschaft bei ihnen eher Befriedigung erwarten.<lb/>
So kam es, daß die Liberalen schließlich in der Lage waren, die größeren<lb/>
Konzessionen zu machen, der Politik der Durchsetzung also stärker unterlagen,<lb/>
dafür aber auch die größeren Erfolge mit ihrer Politik der Eingliederung hatten,<lb/>
d. h. die Radikalisierung des englischen Sozialismus und das Anwachsen der<lb/>
sozialistischen Organisationen am wirkungsvollsten aufhielten. Die Argumen¬<lb/>
tationen, mit denen sie heute in Verfolg dieser Politik vor die Wählermassen<lb/>
treten, mag aus einer Rede ersehen werden, die der heutige Schatzkanzler<lb/>
Großbritanniens Mr. Lloyd-George im Oktober 1906 zu Cardiff, dem Kohlen¬<lb/>
zentrum von Südwales, hielt.  Dort führt er u. a. aus:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1122" next="#ID_1123"> &#x201E;Welchen Einfluß wird diese neue Arbeiterbewegung auf uns britische Liberale haben?<lb/>
Ich glaube, daß nicht der geringste Grund zu Aufregung besteht. Der Liberalismus wird<lb/>
niemals aus seiner Vorherrschaft im Reich des politischen Fortschrittes verdrängt werden, es<lb/>
sei denn, daß er das verdient, weil er seine Grundsätze vernachlässigt oder verrät. ... Der<lb/>
Arbeiter ist kein Narr. Er weiß, daß eine große Partei, wie die unsrige, mit seiner Unter¬<lb/>
stützung, Dinge für ihn erreichen kann, die er allein, ohne ihre Unterstützung eben nicht</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0284] Der Sozialismus in England daß namentlich die wirtschaftlichen Anschauungen der Parteien sich gewandelt haben, daß sie einstweilen einmal sozialistische Motive im weiteren Sinne des Wortes in die Gesetzgebung eindringen ließen, wobei die Konservativen und die Liberalen von verschiedenen Gesichtspunkten ausgingen und auch jeweils nicht das gleiche Maß von Entgegenkommen zeigten. Insofern hat also die Fabische Politik der „Durchsetzung" ihren Erfolg gehabt. Aber dies Entgegenkommen hatte auch auf den Sozialismus Einfluß gehabt, insofern es auf einer „Politik der Eingliederung" beruhte, wenn man so sagen kann. Diese Politik der Ein¬ gliederung war dabei keineswegs eine Angstpolitik, sondern auf feiten beider Parteien von Staatsklugen, staatsmännischen Erwägungen kühl und vorsichtig geleitet, zu verschiedenen Zeiten natürlich mit verschiedenem Geschick und ver¬ schiedenem Erfolg. Sie war in ihren äußeren Mitteln echt englisch, d. h. nicht hart zugreifend, nicht „prinzipiell", und sie vermied vor allem möglichst schon den Anschein der Feindseligkeit. Dadurch hat sie zum mindesten die zahlenmäßige Ausbreitung der sozialistischen Organisationen nicht unbeträchtlich gehemmt, dem Sozialismus selbst ein gut Teil seiner Fangzähne ausgebrochen und mit dazu beigetragen, daß die äußere Gehabung der Bewegung bisher in verhältnismäßig ruhigen und erträglichen Bahnen blieb. Die Konservativen mußten sich dabei von Hause aus in engeren Grenzen bewegen als die Liberalen. Solange die sozialistische Bewegung in ihren Anfängen war, machte sich das noch nicht in dem gleichen Maße bemerkbar, wie später, und so hatte Lord Beaconsfield zu seiner Zeit mit seinem sozial angehauchten Torytum noch Erfolg. Als aber der Sozialismus mit der Zeit doch höher wuchs, mußten die Konservativen, was die AnwendungsMöglichkeit jener Politik der entgegenkommenden Ein¬ gliederung angeht, doch hinter den Liberalen zurückbleiben. Deren Kerntruppen standen der Arbeiterbevölkerung sozial näher und zudem konnten die radikal- demokratischen Instinkte der Arbeiterschaft bei ihnen eher Befriedigung erwarten. So kam es, daß die Liberalen schließlich in der Lage waren, die größeren Konzessionen zu machen, der Politik der Durchsetzung also stärker unterlagen, dafür aber auch die größeren Erfolge mit ihrer Politik der Eingliederung hatten, d. h. die Radikalisierung des englischen Sozialismus und das Anwachsen der sozialistischen Organisationen am wirkungsvollsten aufhielten. Die Argumen¬ tationen, mit denen sie heute in Verfolg dieser Politik vor die Wählermassen treten, mag aus einer Rede ersehen werden, die der heutige Schatzkanzler Großbritanniens Mr. Lloyd-George im Oktober 1906 zu Cardiff, dem Kohlen¬ zentrum von Südwales, hielt. Dort führt er u. a. aus: „Welchen Einfluß wird diese neue Arbeiterbewegung auf uns britische Liberale haben? Ich glaube, daß nicht der geringste Grund zu Aufregung besteht. Der Liberalismus wird niemals aus seiner Vorherrschaft im Reich des politischen Fortschrittes verdrängt werden, es sei denn, daß er das verdient, weil er seine Grundsätze vernachlässigt oder verrät. ... Der Arbeiter ist kein Narr. Er weiß, daß eine große Partei, wie die unsrige, mit seiner Unter¬ stützung, Dinge für ihn erreichen kann, die er allein, ohne ihre Unterstützung eben nicht

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/284
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/284>, abgerufen am 12.06.2024.