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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

kommenden Kämpfe im Reich wurden in der preußischen Landstulic mehr oder
minder kräftig angedeutet: Reichstagswahlrecht, Neichsfinanzen, Wahlkreis¬
einteilung, Beamteneid, partikulare Bestrebungen, konservativ-liberale Beziehungen,
Haltung der Reichsregierung und noch vieles andere mehr!

Unzweifelhaft den Mittelpunkt der Verhandlung bildete das Auftreten
des Freiherrn v. Zedlitz, der in seiner Rede ein durchaus preußisch-liberales
Programm entwickelte. Er forderte: Entkleidung der Landräte ihres politischen
Charakters, Abschaffung der Liebesgaben, gerechtere Verteilung der Steuern,
gerechtere Auswahl der Beamten ohne Rücksicht auf ihre soziale Stellung, Neu¬
regelung der Fideikommisstatuten u. a. in. Das ist alles recht erfreulich. Schade
nur, daß die Freikouservativen den Standpunkt nicht schon vor drei Jahren
eingenommen haben; das Ergebnis der Reichstagswahlen wäre wahrscheinlich
anders ausgefallen als es nun vor uns liegt. Die Wünsche des Hera
v. Zedlitz, den sein jüngerer Fraktionsgenosse v. Kardorff wirksam unterstützte,
sind in den Grenzboten schon seit Jahren in zahlreichen Aufsätzen von liberalen
und konservativen Männern vertreten worden. Nun würden wir uns darüber
freuen, wenn sie geeignet wären, auch eine die bürgerlichen Parteien einigende
Basis zu bilden. Freilich würde das zur Voraussetzung haben entweder: die
Unterwerfung der deutschkonservativen Partei unter die Bedingungen der Frei¬
konservativen oder die Ausschaltung und damit Abstempelung ihres radikalen
Flügels zur reinen Oppositionspartei. Dabei wird angenommen, daß die Vor¬
schläge des Herrn v. Zedlitz nicht nur auf parteitaktischen Erwägungen beruhen
und nicht in erster Linie den Zweck verfolgen, die nationalliberale Fraktion des
Reichstags auf die rechte Seite zu ziehen. Handelte es sich lediglich darum, so wären
sie besser unterblieben. Hierüber, ebenso wie über die endgültige Zusammensetzung
der Fraktionen wird man indessen erst ein Urteil fällen können, wenn die für
Montag und Dienstag in Aussicht genommenen Besprechungen zwischen den
Fraktionsführern als Ergebnis vorliegen. Einstweilen beruhen alle Mitteilungen
über die Beziehungen und Verschiebungen der Parteien auf Kombinationen und
Vermutungen.

Bei dieser Lage der Dinge und aus der Art, wie die Situation von der
Gesamtheit der Presse behandelt wird, gewinnt mau wieder recht eindringlich
einen Begriff, welche große Bedeutung der nationalliberalen Partei als
Mittelpartei innewohnt. Die Stellungnahme der Nationalliberalen zu den
Zedlitzschen Vorschlägen wird von der größten Tragweite nicht nur für die
künftige Bedeutung der Partei, sondern auch für die Richtung der Arbeiten
des neuen Reichstags überhaupt sein. Die Entscheidung der nationalliberalen
Fraktion wird bestimmend dafür sein, ob unter der Flagge der "positiven
Arbeit" in der bisherigen Weise von Gesetz zu Gesetz fortgewurstelt werden soll
unter Ausnutzung der heterogensten Mehrheiten, oder ob in unserer inneren
Politik wieder große Richtlinien maßgebend werden können. Es mag ja für
vorsichtige Gemüter, die unter keinen Umständen anstoßen wollen, sehr verlockend


Reichsspiegel

kommenden Kämpfe im Reich wurden in der preußischen Landstulic mehr oder
minder kräftig angedeutet: Reichstagswahlrecht, Neichsfinanzen, Wahlkreis¬
einteilung, Beamteneid, partikulare Bestrebungen, konservativ-liberale Beziehungen,
Haltung der Reichsregierung und noch vieles andere mehr!

Unzweifelhaft den Mittelpunkt der Verhandlung bildete das Auftreten
des Freiherrn v. Zedlitz, der in seiner Rede ein durchaus preußisch-liberales
Programm entwickelte. Er forderte: Entkleidung der Landräte ihres politischen
Charakters, Abschaffung der Liebesgaben, gerechtere Verteilung der Steuern,
gerechtere Auswahl der Beamten ohne Rücksicht auf ihre soziale Stellung, Neu¬
regelung der Fideikommisstatuten u. a. in. Das ist alles recht erfreulich. Schade
nur, daß die Freikouservativen den Standpunkt nicht schon vor drei Jahren
eingenommen haben; das Ergebnis der Reichstagswahlen wäre wahrscheinlich
anders ausgefallen als es nun vor uns liegt. Die Wünsche des Hera
v. Zedlitz, den sein jüngerer Fraktionsgenosse v. Kardorff wirksam unterstützte,
sind in den Grenzboten schon seit Jahren in zahlreichen Aufsätzen von liberalen
und konservativen Männern vertreten worden. Nun würden wir uns darüber
freuen, wenn sie geeignet wären, auch eine die bürgerlichen Parteien einigende
Basis zu bilden. Freilich würde das zur Voraussetzung haben entweder: die
Unterwerfung der deutschkonservativen Partei unter die Bedingungen der Frei¬
konservativen oder die Ausschaltung und damit Abstempelung ihres radikalen
Flügels zur reinen Oppositionspartei. Dabei wird angenommen, daß die Vor¬
schläge des Herrn v. Zedlitz nicht nur auf parteitaktischen Erwägungen beruhen
und nicht in erster Linie den Zweck verfolgen, die nationalliberale Fraktion des
Reichstags auf die rechte Seite zu ziehen. Handelte es sich lediglich darum, so wären
sie besser unterblieben. Hierüber, ebenso wie über die endgültige Zusammensetzung
der Fraktionen wird man indessen erst ein Urteil fällen können, wenn die für
Montag und Dienstag in Aussicht genommenen Besprechungen zwischen den
Fraktionsführern als Ergebnis vorliegen. Einstweilen beruhen alle Mitteilungen
über die Beziehungen und Verschiebungen der Parteien auf Kombinationen und
Vermutungen.

Bei dieser Lage der Dinge und aus der Art, wie die Situation von der
Gesamtheit der Presse behandelt wird, gewinnt mau wieder recht eindringlich
einen Begriff, welche große Bedeutung der nationalliberalen Partei als
Mittelpartei innewohnt. Die Stellungnahme der Nationalliberalen zu den
Zedlitzschen Vorschlägen wird von der größten Tragweite nicht nur für die
künftige Bedeutung der Partei, sondern auch für die Richtung der Arbeiten
des neuen Reichstags überhaupt sein. Die Entscheidung der nationalliberalen
Fraktion wird bestimmend dafür sein, ob unter der Flagge der „positiven
Arbeit" in der bisherigen Weise von Gesetz zu Gesetz fortgewurstelt werden soll
unter Ausnutzung der heterogensten Mehrheiten, oder ob in unserer inneren
Politik wieder große Richtlinien maßgebend werden können. Es mag ja für
vorsichtige Gemüter, die unter keinen Umständen anstoßen wollen, sehr verlockend


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[0304] Reichsspiegel kommenden Kämpfe im Reich wurden in der preußischen Landstulic mehr oder minder kräftig angedeutet: Reichstagswahlrecht, Neichsfinanzen, Wahlkreis¬ einteilung, Beamteneid, partikulare Bestrebungen, konservativ-liberale Beziehungen, Haltung der Reichsregierung und noch vieles andere mehr! Unzweifelhaft den Mittelpunkt der Verhandlung bildete das Auftreten des Freiherrn v. Zedlitz, der in seiner Rede ein durchaus preußisch-liberales Programm entwickelte. Er forderte: Entkleidung der Landräte ihres politischen Charakters, Abschaffung der Liebesgaben, gerechtere Verteilung der Steuern, gerechtere Auswahl der Beamten ohne Rücksicht auf ihre soziale Stellung, Neu¬ regelung der Fideikommisstatuten u. a. in. Das ist alles recht erfreulich. Schade nur, daß die Freikouservativen den Standpunkt nicht schon vor drei Jahren eingenommen haben; das Ergebnis der Reichstagswahlen wäre wahrscheinlich anders ausgefallen als es nun vor uns liegt. Die Wünsche des Hera v. Zedlitz, den sein jüngerer Fraktionsgenosse v. Kardorff wirksam unterstützte, sind in den Grenzboten schon seit Jahren in zahlreichen Aufsätzen von liberalen und konservativen Männern vertreten worden. Nun würden wir uns darüber freuen, wenn sie geeignet wären, auch eine die bürgerlichen Parteien einigende Basis zu bilden. Freilich würde das zur Voraussetzung haben entweder: die Unterwerfung der deutschkonservativen Partei unter die Bedingungen der Frei¬ konservativen oder die Ausschaltung und damit Abstempelung ihres radikalen Flügels zur reinen Oppositionspartei. Dabei wird angenommen, daß die Vor¬ schläge des Herrn v. Zedlitz nicht nur auf parteitaktischen Erwägungen beruhen und nicht in erster Linie den Zweck verfolgen, die nationalliberale Fraktion des Reichstags auf die rechte Seite zu ziehen. Handelte es sich lediglich darum, so wären sie besser unterblieben. Hierüber, ebenso wie über die endgültige Zusammensetzung der Fraktionen wird man indessen erst ein Urteil fällen können, wenn die für Montag und Dienstag in Aussicht genommenen Besprechungen zwischen den Fraktionsführern als Ergebnis vorliegen. Einstweilen beruhen alle Mitteilungen über die Beziehungen und Verschiebungen der Parteien auf Kombinationen und Vermutungen. Bei dieser Lage der Dinge und aus der Art, wie die Situation von der Gesamtheit der Presse behandelt wird, gewinnt mau wieder recht eindringlich einen Begriff, welche große Bedeutung der nationalliberalen Partei als Mittelpartei innewohnt. Die Stellungnahme der Nationalliberalen zu den Zedlitzschen Vorschlägen wird von der größten Tragweite nicht nur für die künftige Bedeutung der Partei, sondern auch für die Richtung der Arbeiten des neuen Reichstags überhaupt sein. Die Entscheidung der nationalliberalen Fraktion wird bestimmend dafür sein, ob unter der Flagge der „positiven Arbeit" in der bisherigen Weise von Gesetz zu Gesetz fortgewurstelt werden soll unter Ausnutzung der heterogensten Mehrheiten, oder ob in unserer inneren Politik wieder große Richtlinien maßgebend werden können. Es mag ja für vorsichtige Gemüter, die unter keinen Umständen anstoßen wollen, sehr verlockend

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/304>, abgerufen am 15.05.2024.