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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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sein, etwa auf der Grundlage der Zedlitzschen Gedankengänge im preußischen Land¬
tage eine Arbeitsgemeinschaft zwischen Konservativen, Zentrum und National-
liberalen im Reichstage mit der Negierung an der Spitze und unter Aus¬
scheidung der Heißsporne zustande zu bringen. Das gäbe immerhin eine
sichere Mehrheit gegenüber der Linken. Was aber würde damit erreicht?
Die Sicherung des Schutzzollsystems, das an und für sich schon gesichert
bleibt! Die Bewilligung der Heeres- und Flottenforderungen, die sowieso
eine Mehrheit haben! Schon bei der Deckungsfrage müßten aber die
Nationalliberalen entweder alles das preisgeben, wofür sie nun fast drei Jahre
mit der größten Energie gekämpft haben oder den neuen Bund sprengen.
Schlimmer noch stünde es mit den rein politischen Forderungen der Liberalen.
Gebunden durch Abmachungen mit den Konservativen und dem Zentrum müßten
sie z. B. alle die Pläne zurückstellen, die auf eine gerechtere Wahlkreiseinteilung
ausgingen, weil eine Neuordnung auf diesem Gebiete unbedingt eine Schädigung
gerade dieser beiden Parteien nach sich ziehen würde.

Die Frage der Wahlkreiseinteilung ist durch den Ausfall der letzten
Wahlen geradezu zu einer Lebensfrage der Mittelparteien geworden. Sollte sie bis
zu den nächsten Wahlen nicht in befriedigender Weise gelöst sein, dann hätten die
Sozialdemokraten den glänzendsten Agitationsstoff, den sie sich nur wünschen
könnten und mancher von den vielen Wahlkreisen, die ihnen diesmal nur durch
die Gunst der Umstände zugefallen sind, würde zu dauerndem Besitz werden.
Wenn es möglich ist, daß in einem Wahlkreise nicht ganz 13000 Stimmen
genügen, um einen Abgeordneten zu entsenden, während in einem anderen
338000 Wahlberechtigte, also sechsundzwanzigmal so viel vorhanden sind, so liegt
die Ungerechtigkeit und die Aufhebung des Prinzips der gleichen Wahl derart
klar zutage, daß es keiner großen Demagogenstücke bedarf, um den Unzu¬
friedenen aus Stadt und Land Gründe für ihr Mißbehagen vor Augen zu führen.
Diesen Agitationsstoff gilt es im geeigneten Augenblick zu zerstören. Es ist das
eine Aufgabe, die unter Mitwirkung der Sozialdemokratie und ohne Furcht vor
ihr seitens der Negierung und der Mittelparteien in die Hand genommen werden
muß. Sollten die Liberalen sich ihr aus parteitaktischen Gründen entziehen
wollen, so würde bei den nächsten Wahlen die rote Flut über sie hinweggehen
und bewl Anprall an die Extremen der Rechten mehr nationale Werte vernichten,
als gegenwärtig schon gefährdet sind.

Der Schwierigkeiten der Reform bin ich mir selbstverständlich vollauf bewußt.
Ganz abgesehen von den rein parteiischen Gesichtspunkten sind mit ihr zahl¬
reiche wirtschaftliche und politische Rücksichten verknüpft, die nicht ohne weiteres
beiseite geschoben werden dürfen. Die Wahlkreisneuteilung würde in erster
Linie der großen Masse der Ungebildeten zugute kommen, in zweiter Linie den
Großstädten und Industriebezirken, also der Arbeiterschaft und den nicht land¬
wirtschaftlichen Gewerben. Die landwirtschaftlichen Bezirke würden z. B. bei
Annahme der seitens der Demokraten angegebenen Richtlinien^ geradezu


Grenzvoten I 1S12 ^

sein, etwa auf der Grundlage der Zedlitzschen Gedankengänge im preußischen Land¬
tage eine Arbeitsgemeinschaft zwischen Konservativen, Zentrum und National-
liberalen im Reichstage mit der Negierung an der Spitze und unter Aus¬
scheidung der Heißsporne zustande zu bringen. Das gäbe immerhin eine
sichere Mehrheit gegenüber der Linken. Was aber würde damit erreicht?
Die Sicherung des Schutzzollsystems, das an und für sich schon gesichert
bleibt! Die Bewilligung der Heeres- und Flottenforderungen, die sowieso
eine Mehrheit haben! Schon bei der Deckungsfrage müßten aber die
Nationalliberalen entweder alles das preisgeben, wofür sie nun fast drei Jahre
mit der größten Energie gekämpft haben oder den neuen Bund sprengen.
Schlimmer noch stünde es mit den rein politischen Forderungen der Liberalen.
Gebunden durch Abmachungen mit den Konservativen und dem Zentrum müßten
sie z. B. alle die Pläne zurückstellen, die auf eine gerechtere Wahlkreiseinteilung
ausgingen, weil eine Neuordnung auf diesem Gebiete unbedingt eine Schädigung
gerade dieser beiden Parteien nach sich ziehen würde.

Die Frage der Wahlkreiseinteilung ist durch den Ausfall der letzten
Wahlen geradezu zu einer Lebensfrage der Mittelparteien geworden. Sollte sie bis
zu den nächsten Wahlen nicht in befriedigender Weise gelöst sein, dann hätten die
Sozialdemokraten den glänzendsten Agitationsstoff, den sie sich nur wünschen
könnten und mancher von den vielen Wahlkreisen, die ihnen diesmal nur durch
die Gunst der Umstände zugefallen sind, würde zu dauerndem Besitz werden.
Wenn es möglich ist, daß in einem Wahlkreise nicht ganz 13000 Stimmen
genügen, um einen Abgeordneten zu entsenden, während in einem anderen
338000 Wahlberechtigte, also sechsundzwanzigmal so viel vorhanden sind, so liegt
die Ungerechtigkeit und die Aufhebung des Prinzips der gleichen Wahl derart
klar zutage, daß es keiner großen Demagogenstücke bedarf, um den Unzu¬
friedenen aus Stadt und Land Gründe für ihr Mißbehagen vor Augen zu führen.
Diesen Agitationsstoff gilt es im geeigneten Augenblick zu zerstören. Es ist das
eine Aufgabe, die unter Mitwirkung der Sozialdemokratie und ohne Furcht vor
ihr seitens der Negierung und der Mittelparteien in die Hand genommen werden
muß. Sollten die Liberalen sich ihr aus parteitaktischen Gründen entziehen
wollen, so würde bei den nächsten Wahlen die rote Flut über sie hinweggehen
und bewl Anprall an die Extremen der Rechten mehr nationale Werte vernichten,
als gegenwärtig schon gefährdet sind.

Der Schwierigkeiten der Reform bin ich mir selbstverständlich vollauf bewußt.
Ganz abgesehen von den rein parteiischen Gesichtspunkten sind mit ihr zahl¬
reiche wirtschaftliche und politische Rücksichten verknüpft, die nicht ohne weiteres
beiseite geschoben werden dürfen. Die Wahlkreisneuteilung würde in erster
Linie der großen Masse der Ungebildeten zugute kommen, in zweiter Linie den
Großstädten und Industriebezirken, also der Arbeiterschaft und den nicht land¬
wirtschaftlichen Gewerben. Die landwirtschaftlichen Bezirke würden z. B. bei
Annahme der seitens der Demokraten angegebenen Richtlinien^ geradezu


Grenzvoten I 1S12 ^
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[0305] sein, etwa auf der Grundlage der Zedlitzschen Gedankengänge im preußischen Land¬ tage eine Arbeitsgemeinschaft zwischen Konservativen, Zentrum und National- liberalen im Reichstage mit der Negierung an der Spitze und unter Aus¬ scheidung der Heißsporne zustande zu bringen. Das gäbe immerhin eine sichere Mehrheit gegenüber der Linken. Was aber würde damit erreicht? Die Sicherung des Schutzzollsystems, das an und für sich schon gesichert bleibt! Die Bewilligung der Heeres- und Flottenforderungen, die sowieso eine Mehrheit haben! Schon bei der Deckungsfrage müßten aber die Nationalliberalen entweder alles das preisgeben, wofür sie nun fast drei Jahre mit der größten Energie gekämpft haben oder den neuen Bund sprengen. Schlimmer noch stünde es mit den rein politischen Forderungen der Liberalen. Gebunden durch Abmachungen mit den Konservativen und dem Zentrum müßten sie z. B. alle die Pläne zurückstellen, die auf eine gerechtere Wahlkreiseinteilung ausgingen, weil eine Neuordnung auf diesem Gebiete unbedingt eine Schädigung gerade dieser beiden Parteien nach sich ziehen würde. Die Frage der Wahlkreiseinteilung ist durch den Ausfall der letzten Wahlen geradezu zu einer Lebensfrage der Mittelparteien geworden. Sollte sie bis zu den nächsten Wahlen nicht in befriedigender Weise gelöst sein, dann hätten die Sozialdemokraten den glänzendsten Agitationsstoff, den sie sich nur wünschen könnten und mancher von den vielen Wahlkreisen, die ihnen diesmal nur durch die Gunst der Umstände zugefallen sind, würde zu dauerndem Besitz werden. Wenn es möglich ist, daß in einem Wahlkreise nicht ganz 13000 Stimmen genügen, um einen Abgeordneten zu entsenden, während in einem anderen 338000 Wahlberechtigte, also sechsundzwanzigmal so viel vorhanden sind, so liegt die Ungerechtigkeit und die Aufhebung des Prinzips der gleichen Wahl derart klar zutage, daß es keiner großen Demagogenstücke bedarf, um den Unzu¬ friedenen aus Stadt und Land Gründe für ihr Mißbehagen vor Augen zu führen. Diesen Agitationsstoff gilt es im geeigneten Augenblick zu zerstören. Es ist das eine Aufgabe, die unter Mitwirkung der Sozialdemokratie und ohne Furcht vor ihr seitens der Negierung und der Mittelparteien in die Hand genommen werden muß. Sollten die Liberalen sich ihr aus parteitaktischen Gründen entziehen wollen, so würde bei den nächsten Wahlen die rote Flut über sie hinweggehen und bewl Anprall an die Extremen der Rechten mehr nationale Werte vernichten, als gegenwärtig schon gefährdet sind. Der Schwierigkeiten der Reform bin ich mir selbstverständlich vollauf bewußt. Ganz abgesehen von den rein parteiischen Gesichtspunkten sind mit ihr zahl¬ reiche wirtschaftliche und politische Rücksichten verknüpft, die nicht ohne weiteres beiseite geschoben werden dürfen. Die Wahlkreisneuteilung würde in erster Linie der großen Masse der Ungebildeten zugute kommen, in zweiter Linie den Großstädten und Industriebezirken, also der Arbeiterschaft und den nicht land¬ wirtschaftlichen Gewerben. Die landwirtschaftlichen Bezirke würden z. B. bei Annahme der seitens der Demokraten angegebenen Richtlinien^ geradezu Grenzvoten I 1S12 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/305>, abgerufen am 04.06.2024.