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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Der Sozialismus in England

englischen Geschichte völlig verstehen. So wird es möglicherweise zunächst einmal
erst zu Koalitionsregierungen kommen. Die Aufnahme John Burns in das
Kabinett Campbell-Bannerman war von seiten des verstorbenen Sir Henry
sicher als ein erster Versuch dieser Art gedacht. Er wird aber als ein solcher
von der Arbeiterpartei heute wenigstens nicht mehr anerkannt. Unter seinen
früheren Genossen gilt der Präsident des l^oeal Oovsrnment Loarä als ein
Verlorener. Es würde allerdings vermutlich gerade den Klügsten unter ihnen,
wenn sie einmal den Kabinettsrang erreichen sollten, nicht anders ergehen als
Burns. Auch sie würden mit dem Amt Wandlungen durchmachen, die sie heute
nicht für möglich halten. Wie dem aber auch sei, Burns ist zwar der erste,
aber jedenfalls nicht der letzte aus sozialistischen Milieu entstammende Arbeiter,
der in einem englischen Kabinett sitzt.

Ein engeres Aneinanderrücken der Arbeiterpartei und der liberalen Partei
ist eine der Möglichkeiten. Eine andere wäre gegeben, wenn sich die auch in
der liberalen Partei vorhandenen fundierten Interessen als kräftig genug
erweisen, um schließlich doch sich energisch zur Wehr zu setzen. Dann würde
von seiten der Arbeiterpartei ohne Zweifel an die Stelle der Durchsetzungs¬
politik eine Sprengungs- und Verdrängungspolitik gesetzt. Damit würde sich
freilich die ganze Richtung, die die sozialistische Bewegung in England bisher
genommen hat, ändern müssen. Das gäbe Zeitverlust, brächte den Konservativen
Chancen und wäre dem englischen Geist weniger zusagend. So darf man eine
solche Wendung wohl nur als die ultima ratio des Sozialismus ansehen, zu
der er vermutlich nicht wird greifen müssen, denn die "Durchsetzung" der
Liberalen Partei ist, wie mehrfach gezeigt wurde, stellenweise schon recht weit
gediehen. Die Land-, Steuer- und die Verfassungspolitik der Liberalen erfreut
sich fast unumschränkter Zustimmung bei der Arbeiterpartei. Lange wird es
wohl nicht mehr dauern, bis sie auch auf die Eisenbahnpolitik der Sozialisten
eingehen, d. h. die Verstaatlichung der Verkehrsmittel in die Hand nehmen
werden. Und was vielen unter ihnen im ganzen als Ideal vorschwebt, das
hat, ohne Widerspruch zu finden, einer der jüngeren Minister, der Unter¬
staatssekretär im Loarci ok Läucation, Mr. Trevelyan, kürzlich in Coventry
also ausgeführt: "Die wahre, innere Meinung dessen, was die liberale Partei
jetzt tut, ist, daß sie ein System einrichten will, ein neues System, vermittels
dessen das Land von der Masse der einfachen Leute regiert werden kann, die
da den Druck des Lebens aus Erfahrung kennen." Mr. Trevelyan befand sich
vermutlich in einem Stadium oratorischer Erhobenheit, als er diesen Satz aus¬
sprach. Immerhin ist bezeichnend, daß er ihm überhaupt auf die Zunge kommen
konnte.

Versucht man, zusammenzufassen, so ergibt sich, daß der Sozialismus in
England praktisch mindestens gerade so weit gekommen ist, wie etwa in Deutsch¬
land. Nicht mit internationalen, sondern mit typisch englisch-nationalen Methoden
ist das geschehen. Er hat sich nicht in den Kopf gesetzt, einen "großen Kladderadatsch"


Der Sozialismus in England

englischen Geschichte völlig verstehen. So wird es möglicherweise zunächst einmal
erst zu Koalitionsregierungen kommen. Die Aufnahme John Burns in das
Kabinett Campbell-Bannerman war von seiten des verstorbenen Sir Henry
sicher als ein erster Versuch dieser Art gedacht. Er wird aber als ein solcher
von der Arbeiterpartei heute wenigstens nicht mehr anerkannt. Unter seinen
früheren Genossen gilt der Präsident des l^oeal Oovsrnment Loarä als ein
Verlorener. Es würde allerdings vermutlich gerade den Klügsten unter ihnen,
wenn sie einmal den Kabinettsrang erreichen sollten, nicht anders ergehen als
Burns. Auch sie würden mit dem Amt Wandlungen durchmachen, die sie heute
nicht für möglich halten. Wie dem aber auch sei, Burns ist zwar der erste,
aber jedenfalls nicht der letzte aus sozialistischen Milieu entstammende Arbeiter,
der in einem englischen Kabinett sitzt.

Ein engeres Aneinanderrücken der Arbeiterpartei und der liberalen Partei
ist eine der Möglichkeiten. Eine andere wäre gegeben, wenn sich die auch in
der liberalen Partei vorhandenen fundierten Interessen als kräftig genug
erweisen, um schließlich doch sich energisch zur Wehr zu setzen. Dann würde
von seiten der Arbeiterpartei ohne Zweifel an die Stelle der Durchsetzungs¬
politik eine Sprengungs- und Verdrängungspolitik gesetzt. Damit würde sich
freilich die ganze Richtung, die die sozialistische Bewegung in England bisher
genommen hat, ändern müssen. Das gäbe Zeitverlust, brächte den Konservativen
Chancen und wäre dem englischen Geist weniger zusagend. So darf man eine
solche Wendung wohl nur als die ultima ratio des Sozialismus ansehen, zu
der er vermutlich nicht wird greifen müssen, denn die „Durchsetzung" der
Liberalen Partei ist, wie mehrfach gezeigt wurde, stellenweise schon recht weit
gediehen. Die Land-, Steuer- und die Verfassungspolitik der Liberalen erfreut
sich fast unumschränkter Zustimmung bei der Arbeiterpartei. Lange wird es
wohl nicht mehr dauern, bis sie auch auf die Eisenbahnpolitik der Sozialisten
eingehen, d. h. die Verstaatlichung der Verkehrsmittel in die Hand nehmen
werden. Und was vielen unter ihnen im ganzen als Ideal vorschwebt, das
hat, ohne Widerspruch zu finden, einer der jüngeren Minister, der Unter¬
staatssekretär im Loarci ok Läucation, Mr. Trevelyan, kürzlich in Coventry
also ausgeführt: „Die wahre, innere Meinung dessen, was die liberale Partei
jetzt tut, ist, daß sie ein System einrichten will, ein neues System, vermittels
dessen das Land von der Masse der einfachen Leute regiert werden kann, die
da den Druck des Lebens aus Erfahrung kennen." Mr. Trevelyan befand sich
vermutlich in einem Stadium oratorischer Erhobenheit, als er diesen Satz aus¬
sprach. Immerhin ist bezeichnend, daß er ihm überhaupt auf die Zunge kommen
konnte.

Versucht man, zusammenzufassen, so ergibt sich, daß der Sozialismus in
England praktisch mindestens gerade so weit gekommen ist, wie etwa in Deutsch¬
land. Nicht mit internationalen, sondern mit typisch englisch-nationalen Methoden
ist das geschehen. Er hat sich nicht in den Kopf gesetzt, einen „großen Kladderadatsch"


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[0338] Der Sozialismus in England englischen Geschichte völlig verstehen. So wird es möglicherweise zunächst einmal erst zu Koalitionsregierungen kommen. Die Aufnahme John Burns in das Kabinett Campbell-Bannerman war von seiten des verstorbenen Sir Henry sicher als ein erster Versuch dieser Art gedacht. Er wird aber als ein solcher von der Arbeiterpartei heute wenigstens nicht mehr anerkannt. Unter seinen früheren Genossen gilt der Präsident des l^oeal Oovsrnment Loarä als ein Verlorener. Es würde allerdings vermutlich gerade den Klügsten unter ihnen, wenn sie einmal den Kabinettsrang erreichen sollten, nicht anders ergehen als Burns. Auch sie würden mit dem Amt Wandlungen durchmachen, die sie heute nicht für möglich halten. Wie dem aber auch sei, Burns ist zwar der erste, aber jedenfalls nicht der letzte aus sozialistischen Milieu entstammende Arbeiter, der in einem englischen Kabinett sitzt. Ein engeres Aneinanderrücken der Arbeiterpartei und der liberalen Partei ist eine der Möglichkeiten. Eine andere wäre gegeben, wenn sich die auch in der liberalen Partei vorhandenen fundierten Interessen als kräftig genug erweisen, um schließlich doch sich energisch zur Wehr zu setzen. Dann würde von seiten der Arbeiterpartei ohne Zweifel an die Stelle der Durchsetzungs¬ politik eine Sprengungs- und Verdrängungspolitik gesetzt. Damit würde sich freilich die ganze Richtung, die die sozialistische Bewegung in England bisher genommen hat, ändern müssen. Das gäbe Zeitverlust, brächte den Konservativen Chancen und wäre dem englischen Geist weniger zusagend. So darf man eine solche Wendung wohl nur als die ultima ratio des Sozialismus ansehen, zu der er vermutlich nicht wird greifen müssen, denn die „Durchsetzung" der Liberalen Partei ist, wie mehrfach gezeigt wurde, stellenweise schon recht weit gediehen. Die Land-, Steuer- und die Verfassungspolitik der Liberalen erfreut sich fast unumschränkter Zustimmung bei der Arbeiterpartei. Lange wird es wohl nicht mehr dauern, bis sie auch auf die Eisenbahnpolitik der Sozialisten eingehen, d. h. die Verstaatlichung der Verkehrsmittel in die Hand nehmen werden. Und was vielen unter ihnen im ganzen als Ideal vorschwebt, das hat, ohne Widerspruch zu finden, einer der jüngeren Minister, der Unter¬ staatssekretär im Loarci ok Läucation, Mr. Trevelyan, kürzlich in Coventry also ausgeführt: „Die wahre, innere Meinung dessen, was die liberale Partei jetzt tut, ist, daß sie ein System einrichten will, ein neues System, vermittels dessen das Land von der Masse der einfachen Leute regiert werden kann, die da den Druck des Lebens aus Erfahrung kennen." Mr. Trevelyan befand sich vermutlich in einem Stadium oratorischer Erhobenheit, als er diesen Satz aus¬ sprach. Immerhin ist bezeichnend, daß er ihm überhaupt auf die Zunge kommen konnte. Versucht man, zusammenzufassen, so ergibt sich, daß der Sozialismus in England praktisch mindestens gerade so weit gekommen ist, wie etwa in Deutsch¬ land. Nicht mit internationalen, sondern mit typisch englisch-nationalen Methoden ist das geschehen. Er hat sich nicht in den Kopf gesetzt, einen „großen Kladderadatsch"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/338>, abgerufen am 05.06.2024.