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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Der Sozialismus in England

herbeizuführen und aus den Trümmern mit starker Faust das neue Paradies
zu errichten. Er hat sich im Gegensatz zu dem deutschen Sozialismus nicht in
einen Kampf mit der hergebrachten Staatsform der Monarchie eingelassen und
infolgedessen dem Aufstieg des vierten Standes nicht von vornherein manche
Wege verbaut. Er hat große, einheitliche sozialistische Organisationen nicht schaffen
können und vielleicht auch gar nicht wollen. Doch hat sich der britische Sozialismus
mit Vorteil alter vorhandener Organisationen bedient, um seine Ideen der Durch¬
führung näher und näher zu bringen. Umbauen, Anbauen, nicht Niederreißen
und Neubauer, das war seine Parole, Die englische Verfassung und das eng¬
lische Recht sind niemals systematisch kodifiziert worden. Die erfolgreichen eng¬
lischen Sozialisten haben niemals die Marxschen Institutionen und Pandekten
des Sozialismus rezipiert.

Wir wären indessen doch wohl ungerecht gegen uns selbst, wenn
wir behaupten wollten, daß wir unsere so ganz anders geartete Sozial¬
demokratie verdienen. Wir wären auch ungerecht gegen die Menschen, die
unsere Sozialdemokratie ausmachen, wenn wir es ihrer ganz besonderen
Niederträchtigkeit zuschreiben wollten, daß die deutsche Sozialdemokratie so
ist, wie sie ist. Vielmehr hat wohl jedes Land den Sozialismus, dessen
besondere Erscheinungsform sich aus einer Summe von Verhältnissen, Umständen
und Tendenzen ergibt, die zu schaffen oder zu ändern nicht durchweg in den
freien Willen eines Volkes gestellt ist. Wir leben in Deutschland nicht auf
einer Insel. Das erfordert an und für sich eine straffere Konzentrierung der
Kräfte, eine stärkere Betonung des Staatsgedankens. Wenn einer Nation diese
Einsicht fehlt, dann geht es ihr, wie es dem deutschen Volk Jahrhunderte hin¬
durch gegangen ist. War aber dann die Einsicht da, machte sie sich im Leben
unserer Nation geltend und stieß mit einer Bewegung wie die sozialistische
zusammen, dann mußten sich tiefere Gegensätze und heftigere Kämpfe ergeben
als in England, wo die nützliche Scheindemokratie einen im ganzen ruhigeren
Gang der Staatsmaschine von vornherein gewährleistet und wo man sich eben,
als auf einer Insel, eine derartige Regierungsform leisten konnte. Wenn also
England vermutlich früher als Deutschland und eher ohne ernstere Komplikationen
zwar nicht zu einem sozialen Frieden -- den gibt es überhaupt niemals unter
Menschen -- aber zu einem besseren sozialen Gleichgewicht kommt, dann verdankt
es das letzten Endes nicht der größeren Weisheit des englischen Volkes, sondern,
wie so vieles andere, den günstigeren natürlichen Bedingungen, unter denen es
erwachsen ist und auch weiterhin leben wird.




Der Sozialismus in England

herbeizuführen und aus den Trümmern mit starker Faust das neue Paradies
zu errichten. Er hat sich im Gegensatz zu dem deutschen Sozialismus nicht in
einen Kampf mit der hergebrachten Staatsform der Monarchie eingelassen und
infolgedessen dem Aufstieg des vierten Standes nicht von vornherein manche
Wege verbaut. Er hat große, einheitliche sozialistische Organisationen nicht schaffen
können und vielleicht auch gar nicht wollen. Doch hat sich der britische Sozialismus
mit Vorteil alter vorhandener Organisationen bedient, um seine Ideen der Durch¬
führung näher und näher zu bringen. Umbauen, Anbauen, nicht Niederreißen
und Neubauer, das war seine Parole, Die englische Verfassung und das eng¬
lische Recht sind niemals systematisch kodifiziert worden. Die erfolgreichen eng¬
lischen Sozialisten haben niemals die Marxschen Institutionen und Pandekten
des Sozialismus rezipiert.

Wir wären indessen doch wohl ungerecht gegen uns selbst, wenn
wir behaupten wollten, daß wir unsere so ganz anders geartete Sozial¬
demokratie verdienen. Wir wären auch ungerecht gegen die Menschen, die
unsere Sozialdemokratie ausmachen, wenn wir es ihrer ganz besonderen
Niederträchtigkeit zuschreiben wollten, daß die deutsche Sozialdemokratie so
ist, wie sie ist. Vielmehr hat wohl jedes Land den Sozialismus, dessen
besondere Erscheinungsform sich aus einer Summe von Verhältnissen, Umständen
und Tendenzen ergibt, die zu schaffen oder zu ändern nicht durchweg in den
freien Willen eines Volkes gestellt ist. Wir leben in Deutschland nicht auf
einer Insel. Das erfordert an und für sich eine straffere Konzentrierung der
Kräfte, eine stärkere Betonung des Staatsgedankens. Wenn einer Nation diese
Einsicht fehlt, dann geht es ihr, wie es dem deutschen Volk Jahrhunderte hin¬
durch gegangen ist. War aber dann die Einsicht da, machte sie sich im Leben
unserer Nation geltend und stieß mit einer Bewegung wie die sozialistische
zusammen, dann mußten sich tiefere Gegensätze und heftigere Kämpfe ergeben
als in England, wo die nützliche Scheindemokratie einen im ganzen ruhigeren
Gang der Staatsmaschine von vornherein gewährleistet und wo man sich eben,
als auf einer Insel, eine derartige Regierungsform leisten konnte. Wenn also
England vermutlich früher als Deutschland und eher ohne ernstere Komplikationen
zwar nicht zu einem sozialen Frieden — den gibt es überhaupt niemals unter
Menschen — aber zu einem besseren sozialen Gleichgewicht kommt, dann verdankt
es das letzten Endes nicht der größeren Weisheit des englischen Volkes, sondern,
wie so vieles andere, den günstigeren natürlichen Bedingungen, unter denen es
erwachsen ist und auch weiterhin leben wird.




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[0339] Der Sozialismus in England herbeizuführen und aus den Trümmern mit starker Faust das neue Paradies zu errichten. Er hat sich im Gegensatz zu dem deutschen Sozialismus nicht in einen Kampf mit der hergebrachten Staatsform der Monarchie eingelassen und infolgedessen dem Aufstieg des vierten Standes nicht von vornherein manche Wege verbaut. Er hat große, einheitliche sozialistische Organisationen nicht schaffen können und vielleicht auch gar nicht wollen. Doch hat sich der britische Sozialismus mit Vorteil alter vorhandener Organisationen bedient, um seine Ideen der Durch¬ führung näher und näher zu bringen. Umbauen, Anbauen, nicht Niederreißen und Neubauer, das war seine Parole, Die englische Verfassung und das eng¬ lische Recht sind niemals systematisch kodifiziert worden. Die erfolgreichen eng¬ lischen Sozialisten haben niemals die Marxschen Institutionen und Pandekten des Sozialismus rezipiert. Wir wären indessen doch wohl ungerecht gegen uns selbst, wenn wir behaupten wollten, daß wir unsere so ganz anders geartete Sozial¬ demokratie verdienen. Wir wären auch ungerecht gegen die Menschen, die unsere Sozialdemokratie ausmachen, wenn wir es ihrer ganz besonderen Niederträchtigkeit zuschreiben wollten, daß die deutsche Sozialdemokratie so ist, wie sie ist. Vielmehr hat wohl jedes Land den Sozialismus, dessen besondere Erscheinungsform sich aus einer Summe von Verhältnissen, Umständen und Tendenzen ergibt, die zu schaffen oder zu ändern nicht durchweg in den freien Willen eines Volkes gestellt ist. Wir leben in Deutschland nicht auf einer Insel. Das erfordert an und für sich eine straffere Konzentrierung der Kräfte, eine stärkere Betonung des Staatsgedankens. Wenn einer Nation diese Einsicht fehlt, dann geht es ihr, wie es dem deutschen Volk Jahrhunderte hin¬ durch gegangen ist. War aber dann die Einsicht da, machte sie sich im Leben unserer Nation geltend und stieß mit einer Bewegung wie die sozialistische zusammen, dann mußten sich tiefere Gegensätze und heftigere Kämpfe ergeben als in England, wo die nützliche Scheindemokratie einen im ganzen ruhigeren Gang der Staatsmaschine von vornherein gewährleistet und wo man sich eben, als auf einer Insel, eine derartige Regierungsform leisten konnte. Wenn also England vermutlich früher als Deutschland und eher ohne ernstere Komplikationen zwar nicht zu einem sozialen Frieden — den gibt es überhaupt niemals unter Menschen — aber zu einem besseren sozialen Gleichgewicht kommt, dann verdankt es das letzten Endes nicht der größeren Weisheit des englischen Volkes, sondern, wie so vieles andere, den günstigeren natürlichen Bedingungen, unter denen es erwachsen ist und auch weiterhin leben wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/339>, abgerufen am 16.05.2024.