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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Schule und Zeitgeist

Schulwissen haften: auch der Körper assimiliert sich nicht alle Nahrungsstoffe
ohne Rest. Bloße Voreingenommenheit ist es, solch Wissensverlust nur in den
sprachlich-historischen Fächern, insbesondere den alten Sprachen, feststellen zu
wollen -- als ob jeder Gebildete noch den pythagoreischen Lehrsatz beweisen
oder das Prinzip der Dampfmaschine entwickeln könnte! Wir Alten können
nicht mehr so turnen wie als Primaner, aber daß wir einmal geturnt haben,
ist uns von Vorteil gewesen. Darum sagt Herbart: "Was man vergessen
nennt, ist darum noch nicht verloren."

Aber möglichst nahrhaft soll der den: Schüler dargebotene Lernstoff sein.
Darum mehr Naturwissenschaften, sagen die Anhänger Ostwalds: sie sind bestimmt,
"die erste und größte Glücksquelle der Menschheit zu werden." Wer wollte in
unserem Zeitalter die Verdienste der Naturwissenschaften verkennen und ver¬
kleinern, ihre Bedeutung für unseren äußeren Wohlstand, ihre Methoden, ihren
Wert auch für die Erziehung! Aber die Arbeit am inneren Menschen, am
eigenen und fremden, bleibt doch die Hauptaufgabe des erziehenden Unterrichts.
Nicht bloß handeln soll der Mensch, sondern sittlich handeln, nicht bloß wollen,
sondern mit seinem Wollen den Interessen der Allgemeinheit dienen: der Mensch
lebt nicht vom Brot allein. Den Gesetzen des geistigen Lebens nachzuspüren
wie denen der Natur ist mindestens gleichwertige Arbeit; gleichwertig mindestens
dort wie hier, um das Gesetz zu finden, die Beobachtung. Ein Bildungs¬
bedürfnis ist zu allen Zeiten dasselbe: Erziehung zum Menschen, zur Humanität
im eigentlichsten Sinne. Scharf sagt deshalb v. Arnim: "Mit den Errungen¬
schaften der Naturwissenschaft kommen wir den uns von der Natur vorgezeichneten
Zielen unseres Daseins keinen Schritt näher."

In unserem Zeitalter der Erfindungen wird der größten Erfindung des
Menschengeistes, der Sprache, nicht immer die gebührende Würdigung zu teil.
Und doch haben oft Jahrtausende an diesem Kunstwerk gearbeitet und aus ihm
einen untrüglichen Gradmesser der Jntelligenzstärke und Kulturhöhe eines Volkes
gemacht. Durch das Studium der fremden Sprache selbst erst kommen wir an
die Psyche des fremden Volkes heran, und es ist eine Herabwürdigung, wenn
man in ihr ein bloßes Verständigungsmittel sieht und laut den Ruf nach prak¬
tischen Ergebnissen des fremdsprachlichen Unterrichts erhebt -- als ob die
Fertigkeit im mündlichen Gebrauch der Fremdsprache für die große Masse der
Gebildeten überhaupt praktische Bedeutung gewönne! Sprachfertigkeit ist jedenfalls
nicht das vornehmste Ziel des Sprachunterrichtes auf der Schule: die Kenntnis
des fremden Volkstums und Volksgeistes durch unmittelbares Studium der
Originale befruchtet erst das eigene und den eigenen durch Vergleichung, Aus¬
lese und Ablehnung. Bei der Übersetzung aus der fremden oder in die fremde
Sprache beginnt für den Schüler die Anleitung zu der "rücksichtslos ehrlichen,
vor keiner Mühe scheuenden, keinem Zweifel ausbiegenden, keine Lücke des eigenen
Wissens übertünchenden, immer sich selbst und anderen Rechenschaft ablegenden
Wahrheitsforschung" (Mommsen). Man vergesse doch nicht, was, für den großen


Schule und Zeitgeist

Schulwissen haften: auch der Körper assimiliert sich nicht alle Nahrungsstoffe
ohne Rest. Bloße Voreingenommenheit ist es, solch Wissensverlust nur in den
sprachlich-historischen Fächern, insbesondere den alten Sprachen, feststellen zu
wollen — als ob jeder Gebildete noch den pythagoreischen Lehrsatz beweisen
oder das Prinzip der Dampfmaschine entwickeln könnte! Wir Alten können
nicht mehr so turnen wie als Primaner, aber daß wir einmal geturnt haben,
ist uns von Vorteil gewesen. Darum sagt Herbart: „Was man vergessen
nennt, ist darum noch nicht verloren."

Aber möglichst nahrhaft soll der den: Schüler dargebotene Lernstoff sein.
Darum mehr Naturwissenschaften, sagen die Anhänger Ostwalds: sie sind bestimmt,
„die erste und größte Glücksquelle der Menschheit zu werden." Wer wollte in
unserem Zeitalter die Verdienste der Naturwissenschaften verkennen und ver¬
kleinern, ihre Bedeutung für unseren äußeren Wohlstand, ihre Methoden, ihren
Wert auch für die Erziehung! Aber die Arbeit am inneren Menschen, am
eigenen und fremden, bleibt doch die Hauptaufgabe des erziehenden Unterrichts.
Nicht bloß handeln soll der Mensch, sondern sittlich handeln, nicht bloß wollen,
sondern mit seinem Wollen den Interessen der Allgemeinheit dienen: der Mensch
lebt nicht vom Brot allein. Den Gesetzen des geistigen Lebens nachzuspüren
wie denen der Natur ist mindestens gleichwertige Arbeit; gleichwertig mindestens
dort wie hier, um das Gesetz zu finden, die Beobachtung. Ein Bildungs¬
bedürfnis ist zu allen Zeiten dasselbe: Erziehung zum Menschen, zur Humanität
im eigentlichsten Sinne. Scharf sagt deshalb v. Arnim: „Mit den Errungen¬
schaften der Naturwissenschaft kommen wir den uns von der Natur vorgezeichneten
Zielen unseres Daseins keinen Schritt näher."

In unserem Zeitalter der Erfindungen wird der größten Erfindung des
Menschengeistes, der Sprache, nicht immer die gebührende Würdigung zu teil.
Und doch haben oft Jahrtausende an diesem Kunstwerk gearbeitet und aus ihm
einen untrüglichen Gradmesser der Jntelligenzstärke und Kulturhöhe eines Volkes
gemacht. Durch das Studium der fremden Sprache selbst erst kommen wir an
die Psyche des fremden Volkes heran, und es ist eine Herabwürdigung, wenn
man in ihr ein bloßes Verständigungsmittel sieht und laut den Ruf nach prak¬
tischen Ergebnissen des fremdsprachlichen Unterrichts erhebt — als ob die
Fertigkeit im mündlichen Gebrauch der Fremdsprache für die große Masse der
Gebildeten überhaupt praktische Bedeutung gewönne! Sprachfertigkeit ist jedenfalls
nicht das vornehmste Ziel des Sprachunterrichtes auf der Schule: die Kenntnis
des fremden Volkstums und Volksgeistes durch unmittelbares Studium der
Originale befruchtet erst das eigene und den eigenen durch Vergleichung, Aus¬
lese und Ablehnung. Bei der Übersetzung aus der fremden oder in die fremde
Sprache beginnt für den Schüler die Anleitung zu der „rücksichtslos ehrlichen,
vor keiner Mühe scheuenden, keinem Zweifel ausbiegenden, keine Lücke des eigenen
Wissens übertünchenden, immer sich selbst und anderen Rechenschaft ablegenden
Wahrheitsforschung" (Mommsen). Man vergesse doch nicht, was, für den großen


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[0395] Schule und Zeitgeist Schulwissen haften: auch der Körper assimiliert sich nicht alle Nahrungsstoffe ohne Rest. Bloße Voreingenommenheit ist es, solch Wissensverlust nur in den sprachlich-historischen Fächern, insbesondere den alten Sprachen, feststellen zu wollen — als ob jeder Gebildete noch den pythagoreischen Lehrsatz beweisen oder das Prinzip der Dampfmaschine entwickeln könnte! Wir Alten können nicht mehr so turnen wie als Primaner, aber daß wir einmal geturnt haben, ist uns von Vorteil gewesen. Darum sagt Herbart: „Was man vergessen nennt, ist darum noch nicht verloren." Aber möglichst nahrhaft soll der den: Schüler dargebotene Lernstoff sein. Darum mehr Naturwissenschaften, sagen die Anhänger Ostwalds: sie sind bestimmt, „die erste und größte Glücksquelle der Menschheit zu werden." Wer wollte in unserem Zeitalter die Verdienste der Naturwissenschaften verkennen und ver¬ kleinern, ihre Bedeutung für unseren äußeren Wohlstand, ihre Methoden, ihren Wert auch für die Erziehung! Aber die Arbeit am inneren Menschen, am eigenen und fremden, bleibt doch die Hauptaufgabe des erziehenden Unterrichts. Nicht bloß handeln soll der Mensch, sondern sittlich handeln, nicht bloß wollen, sondern mit seinem Wollen den Interessen der Allgemeinheit dienen: der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Den Gesetzen des geistigen Lebens nachzuspüren wie denen der Natur ist mindestens gleichwertige Arbeit; gleichwertig mindestens dort wie hier, um das Gesetz zu finden, die Beobachtung. Ein Bildungs¬ bedürfnis ist zu allen Zeiten dasselbe: Erziehung zum Menschen, zur Humanität im eigentlichsten Sinne. Scharf sagt deshalb v. Arnim: „Mit den Errungen¬ schaften der Naturwissenschaft kommen wir den uns von der Natur vorgezeichneten Zielen unseres Daseins keinen Schritt näher." In unserem Zeitalter der Erfindungen wird der größten Erfindung des Menschengeistes, der Sprache, nicht immer die gebührende Würdigung zu teil. Und doch haben oft Jahrtausende an diesem Kunstwerk gearbeitet und aus ihm einen untrüglichen Gradmesser der Jntelligenzstärke und Kulturhöhe eines Volkes gemacht. Durch das Studium der fremden Sprache selbst erst kommen wir an die Psyche des fremden Volkes heran, und es ist eine Herabwürdigung, wenn man in ihr ein bloßes Verständigungsmittel sieht und laut den Ruf nach prak¬ tischen Ergebnissen des fremdsprachlichen Unterrichts erhebt — als ob die Fertigkeit im mündlichen Gebrauch der Fremdsprache für die große Masse der Gebildeten überhaupt praktische Bedeutung gewönne! Sprachfertigkeit ist jedenfalls nicht das vornehmste Ziel des Sprachunterrichtes auf der Schule: die Kenntnis des fremden Volkstums und Volksgeistes durch unmittelbares Studium der Originale befruchtet erst das eigene und den eigenen durch Vergleichung, Aus¬ lese und Ablehnung. Bei der Übersetzung aus der fremden oder in die fremde Sprache beginnt für den Schüler die Anleitung zu der „rücksichtslos ehrlichen, vor keiner Mühe scheuenden, keinem Zweifel ausbiegenden, keine Lücke des eigenen Wissens übertünchenden, immer sich selbst und anderen Rechenschaft ablegenden Wahrheitsforschung" (Mommsen). Man vergesse doch nicht, was, für den großen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/395>, abgerufen am 31.05.2024.