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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

zwischen den beiden Richtungen eigentlich erst seit dem Fortgange des Fürsten
Bülow, seit Gründung des Hansabundes, seit dem Eintreten der Jungliberalen
für die Sozialdemokratie (um das Zentrum zu schlagen!) gekommen. Einen
engeren Zusammenschluß der Liberalen älteren Schlages hat die jüngere Richtung
nicht bewirkt. Er wurde auch behindert durch die Stellungnahme der Agrar-
konservativen gegen die wirtschaftlichen Wünsche der Industrie und gegen die
Stadtkonservativen überhaupt, sowie durch die Scheu der letzteren vor dem
Zentrum. Jetzt aber scheint sich das Bild ändern zu sollen. Bei den
Altliberalen des Westens drängen die konservativen Elemente stärker als je
und im scharfen Gegensatz zu den Jungliberalen zur Anerkennung, und die durch
Schaden klug gewordenen Agrarkonservativen verhalten sich dem Streben nicht
mehr ablehnend gegenüber.

Auch als liberal gesinnter Mann wird man die schärfere politische
Differenzierung innerhalb des städtischen Bürgertums begrüßen, sofern man
das Vaterland über die Partei stellt und momentane Verschiebungen der
Machtverhältnisse in Kauf nimmt. Durch das Auftreten konservativer
Gründungen am Rhein, wie sie z. B. in Bonn und in Frankfurt statt¬
fanden, kann dem Liberalismus auf die Dauer keine ernste Gefahr erstehen,
wohl aber dem Zentrum. Ich kann mir denken, daß viele nationale
Katholiken sich zurzeit dem Zentrum angeschlossen haben, weil sie sonst keine kon¬
servative Organisation am Ort finden, die ihre Weltanschauung schonte. Männer
wie Radowitz, dessen ablehnende Stellung zu Goerres bekannt ist, dürfte es auch
heute noch geben. Bilden sich aber leistungsfähige politische Organisationen,
die den konservativen Bedürfnissen der Katholiken besser entsprechen als die
vorhandenen liberalen, so wird manch ein national gerichteter Katholik dem
demokratischen und ultramontanen Zentrum den Rücken kehren. Aus solcher
Differenzierung können die beteiligten nationalen Organisationen auf die Dauer
nur gewinnen, muß auch der politische Anstand gesunden, da sie die Voraus¬
setzung für Klarheit und Wahrheit in den Beziehungen der Parteiangehörigen
zu einander ist. Getrennt marschieren, vereint schlagen!




Leider sind wir noch weit entfernt von der Erreichung solcher Grundsätze.
Das bürgerliche Unternehmertum mit seinen aristokratischen Spitzen aus der
Industrie glaubt sich allem widersetzen zu sollen, was sich seinem konservativen
Zuge nicht bedingungslos anschließen will. Auch der Kampf um die Neubesetzung
des Reichstagspräsidiums hat diesen Hintergrund. Bei dieser Gelegenheit gilt
es nicht nur den Sozialdemokraten aus dem Präsidium zu drängen. Die national-
liberale Fraktion soll auch ihre selbständige, von Fall zu Fall den Ausschlag
gebende Stellung preisgeben und sich mit Zentrum und Konservativen womög¬
lich zu einem Block der Rechten vereinigen und sei es auf die Gefahr der
Spaltung hin. Der Schlag richtet sich gegen die Jungliberalen, die man gern
sozialistischer Tendenzen verdächtigt, und als deren Führer Bassermann gilt.


Grenzboten I 1912 67
Reichsspiegel

zwischen den beiden Richtungen eigentlich erst seit dem Fortgange des Fürsten
Bülow, seit Gründung des Hansabundes, seit dem Eintreten der Jungliberalen
für die Sozialdemokratie (um das Zentrum zu schlagen!) gekommen. Einen
engeren Zusammenschluß der Liberalen älteren Schlages hat die jüngere Richtung
nicht bewirkt. Er wurde auch behindert durch die Stellungnahme der Agrar-
konservativen gegen die wirtschaftlichen Wünsche der Industrie und gegen die
Stadtkonservativen überhaupt, sowie durch die Scheu der letzteren vor dem
Zentrum. Jetzt aber scheint sich das Bild ändern zu sollen. Bei den
Altliberalen des Westens drängen die konservativen Elemente stärker als je
und im scharfen Gegensatz zu den Jungliberalen zur Anerkennung, und die durch
Schaden klug gewordenen Agrarkonservativen verhalten sich dem Streben nicht
mehr ablehnend gegenüber.

Auch als liberal gesinnter Mann wird man die schärfere politische
Differenzierung innerhalb des städtischen Bürgertums begrüßen, sofern man
das Vaterland über die Partei stellt und momentane Verschiebungen der
Machtverhältnisse in Kauf nimmt. Durch das Auftreten konservativer
Gründungen am Rhein, wie sie z. B. in Bonn und in Frankfurt statt¬
fanden, kann dem Liberalismus auf die Dauer keine ernste Gefahr erstehen,
wohl aber dem Zentrum. Ich kann mir denken, daß viele nationale
Katholiken sich zurzeit dem Zentrum angeschlossen haben, weil sie sonst keine kon¬
servative Organisation am Ort finden, die ihre Weltanschauung schonte. Männer
wie Radowitz, dessen ablehnende Stellung zu Goerres bekannt ist, dürfte es auch
heute noch geben. Bilden sich aber leistungsfähige politische Organisationen,
die den konservativen Bedürfnissen der Katholiken besser entsprechen als die
vorhandenen liberalen, so wird manch ein national gerichteter Katholik dem
demokratischen und ultramontanen Zentrum den Rücken kehren. Aus solcher
Differenzierung können die beteiligten nationalen Organisationen auf die Dauer
nur gewinnen, muß auch der politische Anstand gesunden, da sie die Voraus¬
setzung für Klarheit und Wahrheit in den Beziehungen der Parteiangehörigen
zu einander ist. Getrennt marschieren, vereint schlagen!




Leider sind wir noch weit entfernt von der Erreichung solcher Grundsätze.
Das bürgerliche Unternehmertum mit seinen aristokratischen Spitzen aus der
Industrie glaubt sich allem widersetzen zu sollen, was sich seinem konservativen
Zuge nicht bedingungslos anschließen will. Auch der Kampf um die Neubesetzung
des Reichstagspräsidiums hat diesen Hintergrund. Bei dieser Gelegenheit gilt
es nicht nur den Sozialdemokraten aus dem Präsidium zu drängen. Die national-
liberale Fraktion soll auch ihre selbständige, von Fall zu Fall den Ausschlag
gebende Stellung preisgeben und sich mit Zentrum und Konservativen womög¬
lich zu einem Block der Rechten vereinigen und sei es auf die Gefahr der
Spaltung hin. Der Schlag richtet sich gegen die Jungliberalen, die man gern
sozialistischer Tendenzen verdächtigt, und als deren Führer Bassermann gilt.


Grenzboten I 1912 67
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/453>, abgerufen am 15.05.2024.