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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Die deutsche Malerei der Gegenwart

ursprünglicher verstehen und deuten als die Männer der Wissenschaft und der
Technik -- das gilt auch für unsere Zeit! --, ist es dankbarer und verleiht
unvergleichlich viel höhere Befriedigung, unsere eigene Zeit im Spiegel der Kunst
als der Technik etwa zu betrachten.

Wer die letzten hundert Jahre deutscher Malerei genau kennen gelernt hat,
so wie sie sich etwa auf der Jahrhundertausstellung in Berlin 1906 zeigten,
wird am leichtesten zum Verständnis der heutigen Kunst gelangen. Denn auch
die eigenwillige Persönlichkeit haftet mit ihren Wurzeln in der Vergangenheit,
und alles Gesunde und Lebendige ist stolz auf seine Tradition. Karl Scheffler
hat erst jüngst in zwei geistvollen Büchern") den richtigen Weg zum Verständnis
dieser Entwicklung bis in die Gegenwart gewiesen. Zwei Richtungslinien sind
es gewesen, die seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts die deutsche Malerei
beherrschen: die zeichnerische, die von Carstens ausgeht und über die religiöse Kunst
der Nazarener in die Historienmalerei der Kaulbach, Piloty, Anton von Werner
und in die Genremalerei der Düsseldorfer ausmündet, und die malerische,
"Wirklichkeitskunst", die, anfangs kaum beachtet neben der stolzen Jdeendarstellung,
überall an Boden gewinnt, bereits uni 1840 in dem jungen Menzel den ersten
genialen Meister erzeugt und in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in zwei
Künstlern ersten Ranges gipfelt: in Leiht und Liebermann. Und um diese Ent¬
wicklungen und Namen kann man im wesentlichen noch heute unsere lebende
Kunst gruppieren. Wir sehen, wie der Funke des zeichnerischen Genies von
Carstens über seine, außer Genelli, unfähigen Nachfolger überspringt auf Feuerbach
und sein herrliches Lebenswerk bestimmt, wie aber zugleich bei ihm ebenso wie
bei Hans von Marees das Malerische in hohem Grade ausschlaggebend wird für
ihre Kunst. Das Ideenreich Böcklins ist nur eine andere Form, eine modernere,
farbigere Gestaltung alter romantischer Träume, wie sie uns bei Carstens, Runge,
Caspar David Friedrich in unerschlossener Knospe entgegentreten. Von Böcklin
aus versteht man dann die zeichnerischen Gedankenkünstler unserer Tage: Klinger,
Greiner, Unger, Hans Thoma, Welti; wie man auch von den Nachfolgern des
Carstens: Cornelius, Kaulbach, Piloty aus unsere ganze Historienmalerei, von
ihnen und von Spitzweg aus unsere Genremalerei verstehen lernt. Eine tiefe
Kluft trennt diese Kunst, die bis heilte fast rein zeichnerisch geblieben ist, von
der Wirklichkeitskunst, die ihre Ahnen in Chodowiecki, Schadow, Krüger und in
den französischen Impressionisten ficht; von ihnen kommen Menzel und Lieber¬
mann ebenso wie Leiht und Trübner her. Was lebenskräftig in uuserer Kunst
ist, hängt irgendwie mit diesen vier Meistern zusammen. Es kommt dazu eine
malerische Landschaftsgruppe, die auf den Engländer Constable, auf Schleich und
Stabil zurückgeht; und endlich wird uns auch das neueste Glied in der Ent¬
wicklung kurz beschäftigen: die neue Wege suchenden sogenannten Expressionisten,
deren Größter Ferdinand Hodler ist.



") Karl Scheffler: Deutsche Maler und Zeichner im neunzehnten Jahrhundert. Leipzig,
Insekt'erlng 1911, und': Die Nativnalgalerie. Berlin, Bruno Cassirer 1912.
Die deutsche Malerei der Gegenwart

ursprünglicher verstehen und deuten als die Männer der Wissenschaft und der
Technik — das gilt auch für unsere Zeit! —, ist es dankbarer und verleiht
unvergleichlich viel höhere Befriedigung, unsere eigene Zeit im Spiegel der Kunst
als der Technik etwa zu betrachten.

Wer die letzten hundert Jahre deutscher Malerei genau kennen gelernt hat,
so wie sie sich etwa auf der Jahrhundertausstellung in Berlin 1906 zeigten,
wird am leichtesten zum Verständnis der heutigen Kunst gelangen. Denn auch
die eigenwillige Persönlichkeit haftet mit ihren Wurzeln in der Vergangenheit,
und alles Gesunde und Lebendige ist stolz auf seine Tradition. Karl Scheffler
hat erst jüngst in zwei geistvollen Büchern") den richtigen Weg zum Verständnis
dieser Entwicklung bis in die Gegenwart gewiesen. Zwei Richtungslinien sind
es gewesen, die seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts die deutsche Malerei
beherrschen: die zeichnerische, die von Carstens ausgeht und über die religiöse Kunst
der Nazarener in die Historienmalerei der Kaulbach, Piloty, Anton von Werner
und in die Genremalerei der Düsseldorfer ausmündet, und die malerische,
„Wirklichkeitskunst", die, anfangs kaum beachtet neben der stolzen Jdeendarstellung,
überall an Boden gewinnt, bereits uni 1840 in dem jungen Menzel den ersten
genialen Meister erzeugt und in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in zwei
Künstlern ersten Ranges gipfelt: in Leiht und Liebermann. Und um diese Ent¬
wicklungen und Namen kann man im wesentlichen noch heute unsere lebende
Kunst gruppieren. Wir sehen, wie der Funke des zeichnerischen Genies von
Carstens über seine, außer Genelli, unfähigen Nachfolger überspringt auf Feuerbach
und sein herrliches Lebenswerk bestimmt, wie aber zugleich bei ihm ebenso wie
bei Hans von Marees das Malerische in hohem Grade ausschlaggebend wird für
ihre Kunst. Das Ideenreich Böcklins ist nur eine andere Form, eine modernere,
farbigere Gestaltung alter romantischer Träume, wie sie uns bei Carstens, Runge,
Caspar David Friedrich in unerschlossener Knospe entgegentreten. Von Böcklin
aus versteht man dann die zeichnerischen Gedankenkünstler unserer Tage: Klinger,
Greiner, Unger, Hans Thoma, Welti; wie man auch von den Nachfolgern des
Carstens: Cornelius, Kaulbach, Piloty aus unsere ganze Historienmalerei, von
ihnen und von Spitzweg aus unsere Genremalerei verstehen lernt. Eine tiefe
Kluft trennt diese Kunst, die bis heilte fast rein zeichnerisch geblieben ist, von
der Wirklichkeitskunst, die ihre Ahnen in Chodowiecki, Schadow, Krüger und in
den französischen Impressionisten ficht; von ihnen kommen Menzel und Lieber¬
mann ebenso wie Leiht und Trübner her. Was lebenskräftig in uuserer Kunst
ist, hängt irgendwie mit diesen vier Meistern zusammen. Es kommt dazu eine
malerische Landschaftsgruppe, die auf den Engländer Constable, auf Schleich und
Stabil zurückgeht; und endlich wird uns auch das neueste Glied in der Ent¬
wicklung kurz beschäftigen: die neue Wege suchenden sogenannten Expressionisten,
deren Größter Ferdinand Hodler ist.



") Karl Scheffler: Deutsche Maler und Zeichner im neunzehnten Jahrhundert. Leipzig,
Insekt'erlng 1911, und': Die Nativnalgalerie. Berlin, Bruno Cassirer 1912.
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[0520] Die deutsche Malerei der Gegenwart ursprünglicher verstehen und deuten als die Männer der Wissenschaft und der Technik — das gilt auch für unsere Zeit! —, ist es dankbarer und verleiht unvergleichlich viel höhere Befriedigung, unsere eigene Zeit im Spiegel der Kunst als der Technik etwa zu betrachten. Wer die letzten hundert Jahre deutscher Malerei genau kennen gelernt hat, so wie sie sich etwa auf der Jahrhundertausstellung in Berlin 1906 zeigten, wird am leichtesten zum Verständnis der heutigen Kunst gelangen. Denn auch die eigenwillige Persönlichkeit haftet mit ihren Wurzeln in der Vergangenheit, und alles Gesunde und Lebendige ist stolz auf seine Tradition. Karl Scheffler hat erst jüngst in zwei geistvollen Büchern") den richtigen Weg zum Verständnis dieser Entwicklung bis in die Gegenwart gewiesen. Zwei Richtungslinien sind es gewesen, die seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts die deutsche Malerei beherrschen: die zeichnerische, die von Carstens ausgeht und über die religiöse Kunst der Nazarener in die Historienmalerei der Kaulbach, Piloty, Anton von Werner und in die Genremalerei der Düsseldorfer ausmündet, und die malerische, „Wirklichkeitskunst", die, anfangs kaum beachtet neben der stolzen Jdeendarstellung, überall an Boden gewinnt, bereits uni 1840 in dem jungen Menzel den ersten genialen Meister erzeugt und in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in zwei Künstlern ersten Ranges gipfelt: in Leiht und Liebermann. Und um diese Ent¬ wicklungen und Namen kann man im wesentlichen noch heute unsere lebende Kunst gruppieren. Wir sehen, wie der Funke des zeichnerischen Genies von Carstens über seine, außer Genelli, unfähigen Nachfolger überspringt auf Feuerbach und sein herrliches Lebenswerk bestimmt, wie aber zugleich bei ihm ebenso wie bei Hans von Marees das Malerische in hohem Grade ausschlaggebend wird für ihre Kunst. Das Ideenreich Böcklins ist nur eine andere Form, eine modernere, farbigere Gestaltung alter romantischer Träume, wie sie uns bei Carstens, Runge, Caspar David Friedrich in unerschlossener Knospe entgegentreten. Von Böcklin aus versteht man dann die zeichnerischen Gedankenkünstler unserer Tage: Klinger, Greiner, Unger, Hans Thoma, Welti; wie man auch von den Nachfolgern des Carstens: Cornelius, Kaulbach, Piloty aus unsere ganze Historienmalerei, von ihnen und von Spitzweg aus unsere Genremalerei verstehen lernt. Eine tiefe Kluft trennt diese Kunst, die bis heilte fast rein zeichnerisch geblieben ist, von der Wirklichkeitskunst, die ihre Ahnen in Chodowiecki, Schadow, Krüger und in den französischen Impressionisten ficht; von ihnen kommen Menzel und Lieber¬ mann ebenso wie Leiht und Trübner her. Was lebenskräftig in uuserer Kunst ist, hängt irgendwie mit diesen vier Meistern zusammen. Es kommt dazu eine malerische Landschaftsgruppe, die auf den Engländer Constable, auf Schleich und Stabil zurückgeht; und endlich wird uns auch das neueste Glied in der Ent¬ wicklung kurz beschäftigen: die neue Wege suchenden sogenannten Expressionisten, deren Größter Ferdinand Hodler ist. ") Karl Scheffler: Deutsche Maler und Zeichner im neunzehnten Jahrhundert. Leipzig, Insekt'erlng 1911, und': Die Nativnalgalerie. Berlin, Bruno Cassirer 1912.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/520>, abgerufen am 15.05.2024.