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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Franz Meilers Martyrium

Weischt denn du, was die Seel üwwerhaupt is? Im Katechismus stehts; ganz
recht. Seite so und so viel. Aber sind denn Begriffe jemals in dir lebendig
geworde? Und sin die Vergleiche, die viele tiefe Vergleiche von der Kinderseel
in dir zum Leine gekomme? Das haschte im Seminar mechanisch auswendig
gelernt, awwer zum Erlebnis is dir's net geworde. Sonscht könnschte dich
unmöglich so an deim Kind versündige. Direkt durch die brutal Behandlung --
tu net so erstaunt -- und indirekt durch das miserawel Ehelewe, das du führscht.
Das wird dir auch was Reich sein, daß die Ehe wie nix forscht auf de Welt
geeignet is, die Seele zu verfeinern und mit Erkenntnisse zu fülle, weil da
Menschen verschiedenen Geschlechts und verschiedengradiger Seelenwerte beisamme
sin. Die sollen sich ausgleiche und im Ausgleich sich ergänze. Ach du liewer
Gott! awwer deine Eh und deine Seel! Was tuscht du dann für deine Seel?
Als frommer chrischtlicher Lehrer gehschte der Gemeind mit gutem Beispiel voran
und alle viertel Jahr beichte und kommuniziere und bischt gerechtfertigt vor --
dir selwer. Und in de Zwischezeit malträtierschte dei Frau und dei Kinner zu
seelische Krüppel. Und den arme Franz am meischte. Denn dem Bub seine
Seel is en Engelslied. Und wenn du mir die kaput nachsehe . . .!"

Frau Elisabeth geht der Atem stoßweise vor Schmerz und Entrüstung.

Der Lehrer steht und putzt die Fingernagel; die Worte der Schwester fallen
in ihn wie Hammerschläge. Aber sein Trotz -- er nennt ihn Männlichkeit --
ist stark und zerbirst nicht. Er sagt spöttelnd zu Frau Elisabeth:

"An dir is en Professor oder en Pfarrer verlöre gange!"

Sie hat ihre Erregung gemeistert und antwortet ihm mit ruhiger Würde:

"Komm ereilt und meinen dein Kind mit. Wenn dir die Auge nur net
emal auf e schrecklich Art und Weis' aufgehn. Du könnscht's schon dazu treiwe.
Komm jetzt, Peter, und hol dein Kind!"

Das hat unterdessen zwischen Hoffen und Bangen gewartet. Als Franz
angezogen war und seine Tante immer noch nicht zurückkam, fing er wahr¬
haftig an zu glauben, sie unterhandele mit dem Vater wegen des Verkaufs.
Und er träumte sich in ein großes Glück, das im süßen Banne einer mütter¬
lichen, weich-starken Frauenseele stand.

Da treten sie zur Tür herein, die Tante und der Vater.

Ein hilfesuchender Blick geht zur Tante. Die zwei Buben, durch Franzens
Schweigen selbst ein wenig traurig gestimmt, hatten aufgehört zu spielen, sich
gegenseitig mit den Schwämmen gefegt und waren eben gerade daran, sich
abzutrocknen, als der Onkel und die Mutter kamen.

Diese zieht ihnen jetzt die Nachtkittel an und kommandiert scherzend:

"Allo, linksum -- kehrt! Ins Bett marschiert!"

Aber sie hüpfen an der Mutter hinauf und ziehen ihren Kopf herab zum Kusse.

"Gu' Nacht, Mama, schlaf gut in Gottes Name!"

Und dann, aber nicht so stürmisch herzlich und ohne Kuß:

"Gu' Nacht, Franz -- Gu' Nacht, Onkel!"


Franz Meilers Martyrium

Weischt denn du, was die Seel üwwerhaupt is? Im Katechismus stehts; ganz
recht. Seite so und so viel. Aber sind denn Begriffe jemals in dir lebendig
geworde? Und sin die Vergleiche, die viele tiefe Vergleiche von der Kinderseel
in dir zum Leine gekomme? Das haschte im Seminar mechanisch auswendig
gelernt, awwer zum Erlebnis is dir's net geworde. Sonscht könnschte dich
unmöglich so an deim Kind versündige. Direkt durch die brutal Behandlung —
tu net so erstaunt — und indirekt durch das miserawel Ehelewe, das du führscht.
Das wird dir auch was Reich sein, daß die Ehe wie nix forscht auf de Welt
geeignet is, die Seele zu verfeinern und mit Erkenntnisse zu fülle, weil da
Menschen verschiedenen Geschlechts und verschiedengradiger Seelenwerte beisamme
sin. Die sollen sich ausgleiche und im Ausgleich sich ergänze. Ach du liewer
Gott! awwer deine Eh und deine Seel! Was tuscht du dann für deine Seel?
Als frommer chrischtlicher Lehrer gehschte der Gemeind mit gutem Beispiel voran
und alle viertel Jahr beichte und kommuniziere und bischt gerechtfertigt vor —
dir selwer. Und in de Zwischezeit malträtierschte dei Frau und dei Kinner zu
seelische Krüppel. Und den arme Franz am meischte. Denn dem Bub seine
Seel is en Engelslied. Und wenn du mir die kaput nachsehe . . .!"

Frau Elisabeth geht der Atem stoßweise vor Schmerz und Entrüstung.

Der Lehrer steht und putzt die Fingernagel; die Worte der Schwester fallen
in ihn wie Hammerschläge. Aber sein Trotz — er nennt ihn Männlichkeit —
ist stark und zerbirst nicht. Er sagt spöttelnd zu Frau Elisabeth:

„An dir is en Professor oder en Pfarrer verlöre gange!"

Sie hat ihre Erregung gemeistert und antwortet ihm mit ruhiger Würde:

„Komm ereilt und meinen dein Kind mit. Wenn dir die Auge nur net
emal auf e schrecklich Art und Weis' aufgehn. Du könnscht's schon dazu treiwe.
Komm jetzt, Peter, und hol dein Kind!"

Das hat unterdessen zwischen Hoffen und Bangen gewartet. Als Franz
angezogen war und seine Tante immer noch nicht zurückkam, fing er wahr¬
haftig an zu glauben, sie unterhandele mit dem Vater wegen des Verkaufs.
Und er träumte sich in ein großes Glück, das im süßen Banne einer mütter¬
lichen, weich-starken Frauenseele stand.

Da treten sie zur Tür herein, die Tante und der Vater.

Ein hilfesuchender Blick geht zur Tante. Die zwei Buben, durch Franzens
Schweigen selbst ein wenig traurig gestimmt, hatten aufgehört zu spielen, sich
gegenseitig mit den Schwämmen gefegt und waren eben gerade daran, sich
abzutrocknen, als der Onkel und die Mutter kamen.

Diese zieht ihnen jetzt die Nachtkittel an und kommandiert scherzend:

„Allo, linksum — kehrt! Ins Bett marschiert!"

Aber sie hüpfen an der Mutter hinauf und ziehen ihren Kopf herab zum Kusse.

„Gu' Nacht, Mama, schlaf gut in Gottes Name!"

Und dann, aber nicht so stürmisch herzlich und ohne Kuß:

„Gu' Nacht, Franz — Gu' Nacht, Onkel!"


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[0584] Franz Meilers Martyrium Weischt denn du, was die Seel üwwerhaupt is? Im Katechismus stehts; ganz recht. Seite so und so viel. Aber sind denn Begriffe jemals in dir lebendig geworde? Und sin die Vergleiche, die viele tiefe Vergleiche von der Kinderseel in dir zum Leine gekomme? Das haschte im Seminar mechanisch auswendig gelernt, awwer zum Erlebnis is dir's net geworde. Sonscht könnschte dich unmöglich so an deim Kind versündige. Direkt durch die brutal Behandlung — tu net so erstaunt — und indirekt durch das miserawel Ehelewe, das du führscht. Das wird dir auch was Reich sein, daß die Ehe wie nix forscht auf de Welt geeignet is, die Seele zu verfeinern und mit Erkenntnisse zu fülle, weil da Menschen verschiedenen Geschlechts und verschiedengradiger Seelenwerte beisamme sin. Die sollen sich ausgleiche und im Ausgleich sich ergänze. Ach du liewer Gott! awwer deine Eh und deine Seel! Was tuscht du dann für deine Seel? Als frommer chrischtlicher Lehrer gehschte der Gemeind mit gutem Beispiel voran und alle viertel Jahr beichte und kommuniziere und bischt gerechtfertigt vor — dir selwer. Und in de Zwischezeit malträtierschte dei Frau und dei Kinner zu seelische Krüppel. Und den arme Franz am meischte. Denn dem Bub seine Seel is en Engelslied. Und wenn du mir die kaput nachsehe . . .!" Frau Elisabeth geht der Atem stoßweise vor Schmerz und Entrüstung. Der Lehrer steht und putzt die Fingernagel; die Worte der Schwester fallen in ihn wie Hammerschläge. Aber sein Trotz — er nennt ihn Männlichkeit — ist stark und zerbirst nicht. Er sagt spöttelnd zu Frau Elisabeth: „An dir is en Professor oder en Pfarrer verlöre gange!" Sie hat ihre Erregung gemeistert und antwortet ihm mit ruhiger Würde: „Komm ereilt und meinen dein Kind mit. Wenn dir die Auge nur net emal auf e schrecklich Art und Weis' aufgehn. Du könnscht's schon dazu treiwe. Komm jetzt, Peter, und hol dein Kind!" Das hat unterdessen zwischen Hoffen und Bangen gewartet. Als Franz angezogen war und seine Tante immer noch nicht zurückkam, fing er wahr¬ haftig an zu glauben, sie unterhandele mit dem Vater wegen des Verkaufs. Und er träumte sich in ein großes Glück, das im süßen Banne einer mütter¬ lichen, weich-starken Frauenseele stand. Da treten sie zur Tür herein, die Tante und der Vater. Ein hilfesuchender Blick geht zur Tante. Die zwei Buben, durch Franzens Schweigen selbst ein wenig traurig gestimmt, hatten aufgehört zu spielen, sich gegenseitig mit den Schwämmen gefegt und waren eben gerade daran, sich abzutrocknen, als der Onkel und die Mutter kamen. Diese zieht ihnen jetzt die Nachtkittel an und kommandiert scherzend: „Allo, linksum — kehrt! Ins Bett marschiert!" Aber sie hüpfen an der Mutter hinauf und ziehen ihren Kopf herab zum Kusse. „Gu' Nacht, Mama, schlaf gut in Gottes Name!" Und dann, aber nicht so stürmisch herzlich und ohne Kuß: „Gu' Nacht, Franz — Gu' Nacht, Onkel!"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/584>, abgerufen am 05.06.2024.