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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Franz jvcilers Martyrium

Sie gehen auf die zu den Schlafzimmern führende Tür zu. Doch plötzlich
wendet sich Willem noch einmal um und ruft seinem verängstigten Vetter zu:

"Franz, schlaf auch gut in Gottes Name!"

Er legt Nachdruck darauf. Er meint, damit ein Unrecht gut zu machen,
deshalb, weil er nicht gleich so gesagt hat. Den Onkel befiehlt er nicht in
Gottes Namen, nur den Franz will seine Liebe auszeichnen.

Frau Elisabeth schließt die Doppeltür hinter den Buben.

Gerade sagt ihr Bruder zu Franz:

"Un mir gehen jetzt auch heim!"

Wieder geht Franzens Blick hilfesuchend zur Tante. Sie bemerkt es, geht
auf das Kind zu und faßt es bei der Hand:

"Henne gehschte noch emal heim. . ."

Franz zieht seine Hand zurück. Sein Gesicht ist graufahl. Eine Welt ist
untergegangen in ihm. Sie ist nicht tosend eingestürzt, ein unermeßliches Ver¬
trauen glaubt sich getäuscht. Franz sühlt in seiner Brust wie eine Falltür
geöffnet, aus der etwas hinabsinkt. Es könnte ein Atemzug verdichteter Luft
sein. So empfindet man's. Es sinkt durch den Leib, durch die Beine; die Erde
öffnet einen Abgrund von unendlicher Tiefe. Und auch dahinein fühlt man
sinken, was vor einem Atemzug noch in der Brust war; aber die ist jetzt wie hohl.

Franz meint, seine Beine spreizen zu müssen, um nicht auf die Seite zu fallen.

Die Neugeburt einer Seele aus der geliebten anderen wurde im Keime
getötet.

Frau Elisabeth bleibt das Grauen des Kindes nicht verborgen. Sie streckt
die Hand nach ihm aus. Franz weicht abermals zurück und schiebt instinktiv
die Hand in die des Vaters.

Nun beugt sich die Frau nieder und flüstert dem Kinde ins Ohr:

"Gib mer noch en Kuß!"

Ein geistesabwesender Blick aus vergebens sinnender, irrer Seele trifft sie.
Man könnte ihn so auslegen:

"Was willst du? Du bist eine seltsame Fremde! Ich kenne dich nicht.
Was willst du?"

Der Lehrer sagt zu seiner Schwester:

"Gu' Nacht!"

Sie gehen. Franz läßt sich widerstandslos fortführen. Er fühlt und
denkt nichts, beachtet nicht den Abschied der Tante am Tor.

Auch auf den Gassen tapst er gleichgültig neben dem Vater her. Sie sind
still und dunkel. Es ist die Zeit des Vollmondes; da steckt man im Dorfe die
Straßenlaternen nicht an, auch dann nicht, wenn sich wie heute dichte Wolken
vor die Himmelsnachtlampe legen.

Erst vor dem Elternhause geht ein Ruck durch Franzens Körper.

(Schluß folgt)




Franz jvcilers Martyrium

Sie gehen auf die zu den Schlafzimmern führende Tür zu. Doch plötzlich
wendet sich Willem noch einmal um und ruft seinem verängstigten Vetter zu:

„Franz, schlaf auch gut in Gottes Name!"

Er legt Nachdruck darauf. Er meint, damit ein Unrecht gut zu machen,
deshalb, weil er nicht gleich so gesagt hat. Den Onkel befiehlt er nicht in
Gottes Namen, nur den Franz will seine Liebe auszeichnen.

Frau Elisabeth schließt die Doppeltür hinter den Buben.

Gerade sagt ihr Bruder zu Franz:

„Un mir gehen jetzt auch heim!"

Wieder geht Franzens Blick hilfesuchend zur Tante. Sie bemerkt es, geht
auf das Kind zu und faßt es bei der Hand:

„Henne gehschte noch emal heim. . ."

Franz zieht seine Hand zurück. Sein Gesicht ist graufahl. Eine Welt ist
untergegangen in ihm. Sie ist nicht tosend eingestürzt, ein unermeßliches Ver¬
trauen glaubt sich getäuscht. Franz sühlt in seiner Brust wie eine Falltür
geöffnet, aus der etwas hinabsinkt. Es könnte ein Atemzug verdichteter Luft
sein. So empfindet man's. Es sinkt durch den Leib, durch die Beine; die Erde
öffnet einen Abgrund von unendlicher Tiefe. Und auch dahinein fühlt man
sinken, was vor einem Atemzug noch in der Brust war; aber die ist jetzt wie hohl.

Franz meint, seine Beine spreizen zu müssen, um nicht auf die Seite zu fallen.

Die Neugeburt einer Seele aus der geliebten anderen wurde im Keime
getötet.

Frau Elisabeth bleibt das Grauen des Kindes nicht verborgen. Sie streckt
die Hand nach ihm aus. Franz weicht abermals zurück und schiebt instinktiv
die Hand in die des Vaters.

Nun beugt sich die Frau nieder und flüstert dem Kinde ins Ohr:

„Gib mer noch en Kuß!"

Ein geistesabwesender Blick aus vergebens sinnender, irrer Seele trifft sie.
Man könnte ihn so auslegen:

„Was willst du? Du bist eine seltsame Fremde! Ich kenne dich nicht.
Was willst du?"

Der Lehrer sagt zu seiner Schwester:

„Gu' Nacht!"

Sie gehen. Franz läßt sich widerstandslos fortführen. Er fühlt und
denkt nichts, beachtet nicht den Abschied der Tante am Tor.

Auch auf den Gassen tapst er gleichgültig neben dem Vater her. Sie sind
still und dunkel. Es ist die Zeit des Vollmondes; da steckt man im Dorfe die
Straßenlaternen nicht an, auch dann nicht, wenn sich wie heute dichte Wolken
vor die Himmelsnachtlampe legen.

Erst vor dem Elternhause geht ein Ruck durch Franzens Körper.

(Schluß folgt)




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[0585] Franz jvcilers Martyrium Sie gehen auf die zu den Schlafzimmern führende Tür zu. Doch plötzlich wendet sich Willem noch einmal um und ruft seinem verängstigten Vetter zu: „Franz, schlaf auch gut in Gottes Name!" Er legt Nachdruck darauf. Er meint, damit ein Unrecht gut zu machen, deshalb, weil er nicht gleich so gesagt hat. Den Onkel befiehlt er nicht in Gottes Namen, nur den Franz will seine Liebe auszeichnen. Frau Elisabeth schließt die Doppeltür hinter den Buben. Gerade sagt ihr Bruder zu Franz: „Un mir gehen jetzt auch heim!" Wieder geht Franzens Blick hilfesuchend zur Tante. Sie bemerkt es, geht auf das Kind zu und faßt es bei der Hand: „Henne gehschte noch emal heim. . ." Franz zieht seine Hand zurück. Sein Gesicht ist graufahl. Eine Welt ist untergegangen in ihm. Sie ist nicht tosend eingestürzt, ein unermeßliches Ver¬ trauen glaubt sich getäuscht. Franz sühlt in seiner Brust wie eine Falltür geöffnet, aus der etwas hinabsinkt. Es könnte ein Atemzug verdichteter Luft sein. So empfindet man's. Es sinkt durch den Leib, durch die Beine; die Erde öffnet einen Abgrund von unendlicher Tiefe. Und auch dahinein fühlt man sinken, was vor einem Atemzug noch in der Brust war; aber die ist jetzt wie hohl. Franz meint, seine Beine spreizen zu müssen, um nicht auf die Seite zu fallen. Die Neugeburt einer Seele aus der geliebten anderen wurde im Keime getötet. Frau Elisabeth bleibt das Grauen des Kindes nicht verborgen. Sie streckt die Hand nach ihm aus. Franz weicht abermals zurück und schiebt instinktiv die Hand in die des Vaters. Nun beugt sich die Frau nieder und flüstert dem Kinde ins Ohr: „Gib mer noch en Kuß!" Ein geistesabwesender Blick aus vergebens sinnender, irrer Seele trifft sie. Man könnte ihn so auslegen: „Was willst du? Du bist eine seltsame Fremde! Ich kenne dich nicht. Was willst du?" Der Lehrer sagt zu seiner Schwester: „Gu' Nacht!" Sie gehen. Franz läßt sich widerstandslos fortführen. Er fühlt und denkt nichts, beachtet nicht den Abschied der Tante am Tor. Auch auf den Gassen tapst er gleichgültig neben dem Vater her. Sie sind still und dunkel. Es ist die Zeit des Vollmondes; da steckt man im Dorfe die Straßenlaternen nicht an, auch dann nicht, wenn sich wie heute dichte Wolken vor die Himmelsnachtlampe legen. Erst vor dem Elternhause geht ein Ruck durch Franzens Körper. (Schluß folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/585>, abgerufen am 16.05.2024.