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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

Während sich so für die nationalen Parteien wirklich nationale Aufgaben
bieten, arbeitet in ihnen der Gärungsprozeß, der zunächst einmal die ungleich
gewachsenen Glieder der einzelnen Parteien an den Platz bringen soll, an den
sie gehören. Die schwerste Krisis macht in dieser Beziehung die national¬
liberale Partei durch.

Am Sonntag hat in Berlin die Zentralvorstandssitzung dieser Partei statt¬
gefunden, und, wie es scheint, mit einer Niederlage der jüngeren, moderne Aufgaben
in den Vordergrund rückender Kreise geendet. Wie es heißt, sollen die
sogenannten Jungliberalen, die hinter Bassermann stehen, durch die Altliberalen
vollständig aufs Haupt geschlagen sein und gezwungen werden, sich entweder
den Anordnungen der Älteren zu fügen oder aus der Partei auszuscheiden.
Die in die Öffentlichkeit gedrungene Nachricht enthält allerdings einen Bericht,
derben Tatsachen eine schiefe Beleuchtung gibt. So wird gesagt, daß die Einberufung
des allgemeinen Vertretertages der Partei auf Veranlassung des rechten Flügels
erfolgte, während es tatsächlich der unterliegende linke Flügel war, der diese Ein¬
berufung forderte. Die Haltung des linken Flügels wird erklärt durch die Vor¬
gänge auf den jüngst vergangenen Parteitagen, die genau erkennen ließen, welcher
Flügel im Lande die Mehrheit hinter sich vereinigt. Von den Berliner Jung¬
liberalen will ich nicht sprechen ^ obwohl sie in der letzten Zeit viel von sich reden
gemacht haben -- da sie keine Abgeordneten in den Reichstag entsenden. Auf dem
letzten Parteitage in Hannover wurden zum Beispiel nach den Reden des
Parteisekretärs Hugo und des Neichstagsavgeordneten Freiherrn v. Richthofen
von dreihundertachtzig Stimmen nur sechs gegen Bassermann abgegeben, und
diese sechs Stimmen gehörten den Mitgliedern der preußischen Landtagsfraktion
an. Hannover delegierte zur gestrigen Vorstandssitzung acht Herren, darunter
die sechs Mitglieder der preußischen Landtagsfraktion, die ohne weiteres dem Zentral-
Vorstände angehören. Von diesen acht hannoverschen Delegierten haben die sechs
Mitglieder der preußischen Landtagsfraktion ihre Stimme für die Provinz Hannover
gegen Bassermann abgegeben. Man wird aus der Gegenüberstellung der Ab¬
stimmung in Hannover und in Berlin erkennen, daß die sechs gegen Bassermann
abgegebenen Stimmen der Stimmung in Hannover selbst nicht entsprechen. Doch
ich möchte nicht auf Einzelheiten eingehen. Es fragt sich nun, ob die national¬
liberale Partei in ihrer heutigen Zusammensetzung noch eine Aussicht hat,
geschlossen bestehen zu bleiben, und ob es wünschenswert ist, diese Geschlossenheit
selbst mit künstlichen Mitteln zu fördern. Die Lesxr der Grenzboten werden
sich vielleicht erinnern, daß an dieser Stelle schon wiederholt die Notwendigkeit
einer schärferen Scheidung vorausgesagt wurde. Wenn wir von reinen Welt¬
anschauungsfragen absehen, über die in den erwerbstätigen Kreisen doch nur
sehr wenig gerechtet wird, so tragen die Angehörigen der liberalen Partei aus
der Industrie durchaus konservative Merkmale an sich. Die Zechen-, Kohlen¬
gruben- und Fabrikbesitzer aus Rheinland und Westfalen können heute kaum
noch als liberal im Sinne der alten Parteigrundsätze angesprochen werden. Sie


Reichsspiegel

Während sich so für die nationalen Parteien wirklich nationale Aufgaben
bieten, arbeitet in ihnen der Gärungsprozeß, der zunächst einmal die ungleich
gewachsenen Glieder der einzelnen Parteien an den Platz bringen soll, an den
sie gehören. Die schwerste Krisis macht in dieser Beziehung die national¬
liberale Partei durch.

Am Sonntag hat in Berlin die Zentralvorstandssitzung dieser Partei statt¬
gefunden, und, wie es scheint, mit einer Niederlage der jüngeren, moderne Aufgaben
in den Vordergrund rückender Kreise geendet. Wie es heißt, sollen die
sogenannten Jungliberalen, die hinter Bassermann stehen, durch die Altliberalen
vollständig aufs Haupt geschlagen sein und gezwungen werden, sich entweder
den Anordnungen der Älteren zu fügen oder aus der Partei auszuscheiden.
Die in die Öffentlichkeit gedrungene Nachricht enthält allerdings einen Bericht,
derben Tatsachen eine schiefe Beleuchtung gibt. So wird gesagt, daß die Einberufung
des allgemeinen Vertretertages der Partei auf Veranlassung des rechten Flügels
erfolgte, während es tatsächlich der unterliegende linke Flügel war, der diese Ein¬
berufung forderte. Die Haltung des linken Flügels wird erklärt durch die Vor¬
gänge auf den jüngst vergangenen Parteitagen, die genau erkennen ließen, welcher
Flügel im Lande die Mehrheit hinter sich vereinigt. Von den Berliner Jung¬
liberalen will ich nicht sprechen ^ obwohl sie in der letzten Zeit viel von sich reden
gemacht haben — da sie keine Abgeordneten in den Reichstag entsenden. Auf dem
letzten Parteitage in Hannover wurden zum Beispiel nach den Reden des
Parteisekretärs Hugo und des Neichstagsavgeordneten Freiherrn v. Richthofen
von dreihundertachtzig Stimmen nur sechs gegen Bassermann abgegeben, und
diese sechs Stimmen gehörten den Mitgliedern der preußischen Landtagsfraktion
an. Hannover delegierte zur gestrigen Vorstandssitzung acht Herren, darunter
die sechs Mitglieder der preußischen Landtagsfraktion, die ohne weiteres dem Zentral-
Vorstände angehören. Von diesen acht hannoverschen Delegierten haben die sechs
Mitglieder der preußischen Landtagsfraktion ihre Stimme für die Provinz Hannover
gegen Bassermann abgegeben. Man wird aus der Gegenüberstellung der Ab¬
stimmung in Hannover und in Berlin erkennen, daß die sechs gegen Bassermann
abgegebenen Stimmen der Stimmung in Hannover selbst nicht entsprechen. Doch
ich möchte nicht auf Einzelheiten eingehen. Es fragt sich nun, ob die national¬
liberale Partei in ihrer heutigen Zusammensetzung noch eine Aussicht hat,
geschlossen bestehen zu bleiben, und ob es wünschenswert ist, diese Geschlossenheit
selbst mit künstlichen Mitteln zu fördern. Die Lesxr der Grenzboten werden
sich vielleicht erinnern, daß an dieser Stelle schon wiederholt die Notwendigkeit
einer schärferen Scheidung vorausgesagt wurde. Wenn wir von reinen Welt¬
anschauungsfragen absehen, über die in den erwerbstätigen Kreisen doch nur
sehr wenig gerechtet wird, so tragen die Angehörigen der liberalen Partei aus
der Industrie durchaus konservative Merkmale an sich. Die Zechen-, Kohlen¬
gruben- und Fabrikbesitzer aus Rheinland und Westfalen können heute kaum
noch als liberal im Sinne der alten Parteigrundsätze angesprochen werden. Sie


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[0651] Reichsspiegel Während sich so für die nationalen Parteien wirklich nationale Aufgaben bieten, arbeitet in ihnen der Gärungsprozeß, der zunächst einmal die ungleich gewachsenen Glieder der einzelnen Parteien an den Platz bringen soll, an den sie gehören. Die schwerste Krisis macht in dieser Beziehung die national¬ liberale Partei durch. Am Sonntag hat in Berlin die Zentralvorstandssitzung dieser Partei statt¬ gefunden, und, wie es scheint, mit einer Niederlage der jüngeren, moderne Aufgaben in den Vordergrund rückender Kreise geendet. Wie es heißt, sollen die sogenannten Jungliberalen, die hinter Bassermann stehen, durch die Altliberalen vollständig aufs Haupt geschlagen sein und gezwungen werden, sich entweder den Anordnungen der Älteren zu fügen oder aus der Partei auszuscheiden. Die in die Öffentlichkeit gedrungene Nachricht enthält allerdings einen Bericht, derben Tatsachen eine schiefe Beleuchtung gibt. So wird gesagt, daß die Einberufung des allgemeinen Vertretertages der Partei auf Veranlassung des rechten Flügels erfolgte, während es tatsächlich der unterliegende linke Flügel war, der diese Ein¬ berufung forderte. Die Haltung des linken Flügels wird erklärt durch die Vor¬ gänge auf den jüngst vergangenen Parteitagen, die genau erkennen ließen, welcher Flügel im Lande die Mehrheit hinter sich vereinigt. Von den Berliner Jung¬ liberalen will ich nicht sprechen ^ obwohl sie in der letzten Zeit viel von sich reden gemacht haben — da sie keine Abgeordneten in den Reichstag entsenden. Auf dem letzten Parteitage in Hannover wurden zum Beispiel nach den Reden des Parteisekretärs Hugo und des Neichstagsavgeordneten Freiherrn v. Richthofen von dreihundertachtzig Stimmen nur sechs gegen Bassermann abgegeben, und diese sechs Stimmen gehörten den Mitgliedern der preußischen Landtagsfraktion an. Hannover delegierte zur gestrigen Vorstandssitzung acht Herren, darunter die sechs Mitglieder der preußischen Landtagsfraktion, die ohne weiteres dem Zentral- Vorstände angehören. Von diesen acht hannoverschen Delegierten haben die sechs Mitglieder der preußischen Landtagsfraktion ihre Stimme für die Provinz Hannover gegen Bassermann abgegeben. Man wird aus der Gegenüberstellung der Ab¬ stimmung in Hannover und in Berlin erkennen, daß die sechs gegen Bassermann abgegebenen Stimmen der Stimmung in Hannover selbst nicht entsprechen. Doch ich möchte nicht auf Einzelheiten eingehen. Es fragt sich nun, ob die national¬ liberale Partei in ihrer heutigen Zusammensetzung noch eine Aussicht hat, geschlossen bestehen zu bleiben, und ob es wünschenswert ist, diese Geschlossenheit selbst mit künstlichen Mitteln zu fördern. Die Lesxr der Grenzboten werden sich vielleicht erinnern, daß an dieser Stelle schon wiederholt die Notwendigkeit einer schärferen Scheidung vorausgesagt wurde. Wenn wir von reinen Welt¬ anschauungsfragen absehen, über die in den erwerbstätigen Kreisen doch nur sehr wenig gerechtet wird, so tragen die Angehörigen der liberalen Partei aus der Industrie durchaus konservative Merkmale an sich. Die Zechen-, Kohlen¬ gruben- und Fabrikbesitzer aus Rheinland und Westfalen können heute kaum noch als liberal im Sinne der alten Parteigrundsätze angesprochen werden. Sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/651>, abgerufen am 31.05.2024.