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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Die bcmausenhafte Freude an intimen
Bekenntnissen hat in unserer Zeit schon einen
Berg von Tagebuch- und Briefveröffent-
lichungen hervorgebracht, deren Wert oft in
umgekehrtem Verhältnis zu ihrem Umfang
stand. Bei den Briefen, die der junge Kainz
in dem Jahrzehnt vom fünfzehnten bis zum
fünfundzwanzigsten Lebensjahre an seine
Eltern schrieb, ist es nicht so, wenngleich man
irgendeinen literarischen Wert in ihnen nicht
findet und naturgemäß auch nicht suchen darf.
Als die Zeugnisse einer selten ursprünglichen
Künstlernatur indessen, als die Zeugnisse der
Menschlichkeit des großen Schauspielers, den
das Geschick frühzeitig zu einem König der
Bühne machte und ihm diese Würde drei
Jahrzehnte hindurch unbestritten bewahrte,
sind diese Briefe wertvoll; sie gewähren das
erlaubte, reizvoll-intime Vergnügen, in das
ungeschminkte Antlitz, in die Seele dessen zu
schauen, den wir ini Leben als den Meister
der wechselnden Mienen bewunderten. In
den Briefen, die der erstaunlich geschwinde
Mensch in einem sehr lebhaften und ungenierter
Stil hinwischte, erleben wir das erste Stück
dieser sonderartigen Lebenskurve mit, erfahren,
daß der Knabe Kainz hier und da auf die
Bühne sprang, um dann im steirischen Mar¬
burg, wo er alles spielt, den ersten Tummel¬
platz seines Temperaments zu finden. In
Leipzig kann den allzu schmächtigen jugend¬
lichen "Helden" August Förster nicht halten,
nach einem Krach zieht Kainz davon und
findet bei den Meiningern offene Arme. Sein
Ruhm fängt auf den Gastspielreisen an zu
blühen, so daß er, dreiundzwanzigjährig, nach
München berufen wird, wo ihn die Freund¬
schaft König Ludwigs beglückt. Mit dem
Telegramm aus Berlin über den "sensatio¬
nellen" Erfolg der ersten "Kabale und Liebe"-
Vorstellung im Deutschen Theater, in der
Kainz den Ferdinand spielte, schließt das
Buch. Es kennzeichnet sich in diesen Briefen
ein schönes Verhältnis zwischen Eltern und
Sohn, das durch die Liebe und das Ver¬
ständnis der Eltern zu dem Schauspielerberuf
des Sohnes etwas Seltenes bekommt. Aber die
zärtlichen und "raunzenden" Sohnesbriefe sind
auch die Briefe eines jungen Genies, das durch
sein loderndes Temperament die Welt ent¬
flammte und doch, ohne viel zu reflektieren,

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schon genau wußte, was ihm zur Vollendung
noch fehlte und sich den Weg zum Außer¬
ordentlichen genau vorschrieb.

So lebt in diesem seinem Briefbuche der
junge Kainz wieder vor uns auf, man glaubt
das Feuer seines Auges, das Romeos Liebes¬
glut stammen konnte, zu sehen; er gewinnt
uns aufs neue durch den sympathischen Zauber
seiner Persönlichkeit und das nachdenkliche,
Besonnene, das später in Hamlets königlicher
Philosophennatur seinen besten schauspiele¬
rischen Ausdruck fand, kündigt sich von ferne
an. Aber noch ist er ganz der junge Kainz,
mit heiterem, sieghaften Antlitz und von
keiner pessimistisch-intellektuellen Falte durch¬
Dr. Max Adam- furcht.

Tagesfragen

Das Recht auf Klatsch. Es scheint mit
der heutigen Verehrung des Athletischen, das
einen leichten Kopf und ein leichtes Gemüt
voraussetzt, zusammenzuhängen, wenn sich
Stimmen erheben, die den Philister als eigent¬
lichen "Kulturbewahrer" feiern und die in:
Klatsch eine Art gesunder Übung der Sprech¬
werkzeuge erblicken. So hat ein mutiger
Anonymus vor nicht langer Zeit in einer
aufstrebenden Berliner Tageszeitung gewagt,
die Unschädlichkeit des Klatsches mit Feuer zu
vertreten, und die aufstrebende Redaktion
unterließ jede Andeutung, daß sie die dreisten
Syllogismen des Autors etwa durchschaute.
Seine Schlußfolgerung lautete wörtlich: "Im
allgemeinen ist der Klatsch ein harmloses Ge¬
wächs. Sogar harmloser als irgendwelche
andere Unterhaltung . .. Man denke nur an
den Klatsch ins Wasser. Wenn man die Hände
zurückzieht, glättet sich der Wasserspiegel wieder.
Es ist dabei gar nicht nötig, daß einer in den
Fluten versunken ist." Der ehrliche Mann,
der sich hier ganz erkennbar rechtfertigte, hatte
nämlich, um sein Bild zu gewinnen, das
Wasserpatschen wegeSkamotiert und dafür
"klatschen" gesetzt, als sei der Volksmund ebenso
unbeholfen wie mancher gewissenskranke Ano¬
nymus. Doch schon in unserer deutschen Bibel
erscheint das Händeklatschen "über" jemand
als herabsetzendes Verfahren, und der Klatsch
-- als Hauptwort im Sprachgebrauch noch
nicht sehr alt -- kommt vom Laut der Pritsche
her, der die Aufmerksamkeit auf den hinter-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Die bcmausenhafte Freude an intimen
Bekenntnissen hat in unserer Zeit schon einen
Berg von Tagebuch- und Briefveröffent-
lichungen hervorgebracht, deren Wert oft in
umgekehrtem Verhältnis zu ihrem Umfang
stand. Bei den Briefen, die der junge Kainz
in dem Jahrzehnt vom fünfzehnten bis zum
fünfundzwanzigsten Lebensjahre an seine
Eltern schrieb, ist es nicht so, wenngleich man
irgendeinen literarischen Wert in ihnen nicht
findet und naturgemäß auch nicht suchen darf.
Als die Zeugnisse einer selten ursprünglichen
Künstlernatur indessen, als die Zeugnisse der
Menschlichkeit des großen Schauspielers, den
das Geschick frühzeitig zu einem König der
Bühne machte und ihm diese Würde drei
Jahrzehnte hindurch unbestritten bewahrte,
sind diese Briefe wertvoll; sie gewähren das
erlaubte, reizvoll-intime Vergnügen, in das
ungeschminkte Antlitz, in die Seele dessen zu
schauen, den wir ini Leben als den Meister
der wechselnden Mienen bewunderten. In
den Briefen, die der erstaunlich geschwinde
Mensch in einem sehr lebhaften und ungenierter
Stil hinwischte, erleben wir das erste Stück
dieser sonderartigen Lebenskurve mit, erfahren,
daß der Knabe Kainz hier und da auf die
Bühne sprang, um dann im steirischen Mar¬
burg, wo er alles spielt, den ersten Tummel¬
platz seines Temperaments zu finden. In
Leipzig kann den allzu schmächtigen jugend¬
lichen „Helden" August Förster nicht halten,
nach einem Krach zieht Kainz davon und
findet bei den Meiningern offene Arme. Sein
Ruhm fängt auf den Gastspielreisen an zu
blühen, so daß er, dreiundzwanzigjährig, nach
München berufen wird, wo ihn die Freund¬
schaft König Ludwigs beglückt. Mit dem
Telegramm aus Berlin über den „sensatio¬
nellen" Erfolg der ersten „Kabale und Liebe"-
Vorstellung im Deutschen Theater, in der
Kainz den Ferdinand spielte, schließt das
Buch. Es kennzeichnet sich in diesen Briefen
ein schönes Verhältnis zwischen Eltern und
Sohn, das durch die Liebe und das Ver¬
ständnis der Eltern zu dem Schauspielerberuf
des Sohnes etwas Seltenes bekommt. Aber die
zärtlichen und „raunzenden" Sohnesbriefe sind
auch die Briefe eines jungen Genies, das durch
sein loderndes Temperament die Welt ent¬
flammte und doch, ohne viel zu reflektieren,

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schon genau wußte, was ihm zur Vollendung
noch fehlte und sich den Weg zum Außer¬
ordentlichen genau vorschrieb.

So lebt in diesem seinem Briefbuche der
junge Kainz wieder vor uns auf, man glaubt
das Feuer seines Auges, das Romeos Liebes¬
glut stammen konnte, zu sehen; er gewinnt
uns aufs neue durch den sympathischen Zauber
seiner Persönlichkeit und das nachdenkliche,
Besonnene, das später in Hamlets königlicher
Philosophennatur seinen besten schauspiele¬
rischen Ausdruck fand, kündigt sich von ferne
an. Aber noch ist er ganz der junge Kainz,
mit heiterem, sieghaften Antlitz und von
keiner pessimistisch-intellektuellen Falte durch¬
Dr. Max Adam- furcht.

Tagesfragen

Das Recht auf Klatsch. Es scheint mit
der heutigen Verehrung des Athletischen, das
einen leichten Kopf und ein leichtes Gemüt
voraussetzt, zusammenzuhängen, wenn sich
Stimmen erheben, die den Philister als eigent¬
lichen „Kulturbewahrer" feiern und die in:
Klatsch eine Art gesunder Übung der Sprech¬
werkzeuge erblicken. So hat ein mutiger
Anonymus vor nicht langer Zeit in einer
aufstrebenden Berliner Tageszeitung gewagt,
die Unschädlichkeit des Klatsches mit Feuer zu
vertreten, und die aufstrebende Redaktion
unterließ jede Andeutung, daß sie die dreisten
Syllogismen des Autors etwa durchschaute.
Seine Schlußfolgerung lautete wörtlich: „Im
allgemeinen ist der Klatsch ein harmloses Ge¬
wächs. Sogar harmloser als irgendwelche
andere Unterhaltung . .. Man denke nur an
den Klatsch ins Wasser. Wenn man die Hände
zurückzieht, glättet sich der Wasserspiegel wieder.
Es ist dabei gar nicht nötig, daß einer in den
Fluten versunken ist." Der ehrliche Mann,
der sich hier ganz erkennbar rechtfertigte, hatte
nämlich, um sein Bild zu gewinnen, das
Wasserpatschen wegeSkamotiert und dafür
„klatschen" gesetzt, als sei der Volksmund ebenso
unbeholfen wie mancher gewissenskranke Ano¬
nymus. Doch schon in unserer deutschen Bibel
erscheint das Händeklatschen „über" jemand
als herabsetzendes Verfahren, und der Klatsch
— als Hauptwort im Sprachgebrauch noch
nicht sehr alt — kommt vom Laut der Pritsche
her, der die Aufmerksamkeit auf den hinter-

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[0151] Maßgebliches und Unmaßgebliches Die bcmausenhafte Freude an intimen Bekenntnissen hat in unserer Zeit schon einen Berg von Tagebuch- und Briefveröffent- lichungen hervorgebracht, deren Wert oft in umgekehrtem Verhältnis zu ihrem Umfang stand. Bei den Briefen, die der junge Kainz in dem Jahrzehnt vom fünfzehnten bis zum fünfundzwanzigsten Lebensjahre an seine Eltern schrieb, ist es nicht so, wenngleich man irgendeinen literarischen Wert in ihnen nicht findet und naturgemäß auch nicht suchen darf. Als die Zeugnisse einer selten ursprünglichen Künstlernatur indessen, als die Zeugnisse der Menschlichkeit des großen Schauspielers, den das Geschick frühzeitig zu einem König der Bühne machte und ihm diese Würde drei Jahrzehnte hindurch unbestritten bewahrte, sind diese Briefe wertvoll; sie gewähren das erlaubte, reizvoll-intime Vergnügen, in das ungeschminkte Antlitz, in die Seele dessen zu schauen, den wir ini Leben als den Meister der wechselnden Mienen bewunderten. In den Briefen, die der erstaunlich geschwinde Mensch in einem sehr lebhaften und ungenierter Stil hinwischte, erleben wir das erste Stück dieser sonderartigen Lebenskurve mit, erfahren, daß der Knabe Kainz hier und da auf die Bühne sprang, um dann im steirischen Mar¬ burg, wo er alles spielt, den ersten Tummel¬ platz seines Temperaments zu finden. In Leipzig kann den allzu schmächtigen jugend¬ lichen „Helden" August Förster nicht halten, nach einem Krach zieht Kainz davon und findet bei den Meiningern offene Arme. Sein Ruhm fängt auf den Gastspielreisen an zu blühen, so daß er, dreiundzwanzigjährig, nach München berufen wird, wo ihn die Freund¬ schaft König Ludwigs beglückt. Mit dem Telegramm aus Berlin über den „sensatio¬ nellen" Erfolg der ersten „Kabale und Liebe"- Vorstellung im Deutschen Theater, in der Kainz den Ferdinand spielte, schließt das Buch. Es kennzeichnet sich in diesen Briefen ein schönes Verhältnis zwischen Eltern und Sohn, das durch die Liebe und das Ver¬ ständnis der Eltern zu dem Schauspielerberuf des Sohnes etwas Seltenes bekommt. Aber die zärtlichen und „raunzenden" Sohnesbriefe sind auch die Briefe eines jungen Genies, das durch sein loderndes Temperament die Welt ent¬ flammte und doch, ohne viel zu reflektieren, schon genau wußte, was ihm zur Vollendung noch fehlte und sich den Weg zum Außer¬ ordentlichen genau vorschrieb. So lebt in diesem seinem Briefbuche der junge Kainz wieder vor uns auf, man glaubt das Feuer seines Auges, das Romeos Liebes¬ glut stammen konnte, zu sehen; er gewinnt uns aufs neue durch den sympathischen Zauber seiner Persönlichkeit und das nachdenkliche, Besonnene, das später in Hamlets königlicher Philosophennatur seinen besten schauspiele¬ rischen Ausdruck fand, kündigt sich von ferne an. Aber noch ist er ganz der junge Kainz, mit heiterem, sieghaften Antlitz und von keiner pessimistisch-intellektuellen Falte durch¬ Dr. Max Adam- furcht. Tagesfragen Das Recht auf Klatsch. Es scheint mit der heutigen Verehrung des Athletischen, das einen leichten Kopf und ein leichtes Gemüt voraussetzt, zusammenzuhängen, wenn sich Stimmen erheben, die den Philister als eigent¬ lichen „Kulturbewahrer" feiern und die in: Klatsch eine Art gesunder Übung der Sprech¬ werkzeuge erblicken. So hat ein mutiger Anonymus vor nicht langer Zeit in einer aufstrebenden Berliner Tageszeitung gewagt, die Unschädlichkeit des Klatsches mit Feuer zu vertreten, und die aufstrebende Redaktion unterließ jede Andeutung, daß sie die dreisten Syllogismen des Autors etwa durchschaute. Seine Schlußfolgerung lautete wörtlich: „Im allgemeinen ist der Klatsch ein harmloses Ge¬ wächs. Sogar harmloser als irgendwelche andere Unterhaltung . .. Man denke nur an den Klatsch ins Wasser. Wenn man die Hände zurückzieht, glättet sich der Wasserspiegel wieder. Es ist dabei gar nicht nötig, daß einer in den Fluten versunken ist." Der ehrliche Mann, der sich hier ganz erkennbar rechtfertigte, hatte nämlich, um sein Bild zu gewinnen, das Wasserpatschen wegeSkamotiert und dafür „klatschen" gesetzt, als sei der Volksmund ebenso unbeholfen wie mancher gewissenskranke Ano¬ nymus. Doch schon in unserer deutschen Bibel erscheint das Händeklatschen „über" jemand als herabsetzendes Verfahren, und der Klatsch — als Hauptwort im Sprachgebrauch noch nicht sehr alt — kommt vom Laut der Pritsche her, der die Aufmerksamkeit auf den hinter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/151>, abgerufen am 10.06.2024.