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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

eines geistigen Aristokraten vom reinsten Wasser,
Platons, die den verhältnismäßig breitesten
Raum einnimmt (300 Seiten). Aber gerade
in dessen "Staat" fehlt ein eingehendes
Programm der Wirtschaftspolitik! So ist
das Buch zwar sehr anregend, zumal der
Verfasser moderne Erscheinungen und moderne
volkswirtschaftliche Literatur in weitem Um¬
fange heranzieht, aber es fordert auch oft zum
Widerspruche heraus: wer es mit Kritik liest,
wird viel daraus lernen können, und namentlich
dem Lehrer der alten Geschichte möchten wir
W. A. die Lektüre empfehlen.

Theater

Carl Hauptmanns "Bergschmiede" und
das Naturtheater. Am 14. Juli erfolgte im
Harzer Bergtheater zu Thale die Aufführung
von Carl Hauptmanns "Bergschmiede".

Es ist eine auffällige Erscheinung, daß ein
großer Teil der deutschen Presse seit Jahren
den Dichtungen Carl Hauptmanns verständ¬
nislos gegenübersteht und seinen Dramen das
Theater verschlossen ist. Gewiß, es wäre
verfehlt, nur dem Publikum diesen Vorwurf
zu machen. Der Dichter deutet gar manches
nur an, was deutlich gesagt, die Klarheit
fördern könnte. Wer aber sich die Mühe gibt,
in die schwerblütigen Werke sich zu versenken,
dem wird die tiefe Bedeutung dieser Kunst
aufgehen. Aber dieses Bestreben muß man
leider auch nach der Aufführung der "Berg¬
schmiede" in den Spalten der meisten deut¬
schen Blätter vergeblich suchen. Wenn der
Kritiker einer der gelesensten deutschen Tages¬
zeitungen nach dem Sinn des ganzen Werkes
fragt, einen Fortschritt der Handlung vermißt
und den Schluß des Werkes dahin charakte¬
risiert, daß alles beim alten bleibt, so muß
man doch den Mangel am guten Willen, sich
in die Dichtung einzufühlen, feststellen. Nicht
viel besser ist es bei der Mehrzahl der an¬
deren Blätter zu lesen. Weichen doch die
Inhaltsangaben so stark voneinander ab,
daß man kaum glauben kann, eS seien Re¬
ferate über das gleiche Stück, und doch ist
die klare Erkenntnis der Idee des Stückes
nicht allzu schwer.

In einem einsamen Tale des Riesen¬
gebirges haust ein Schmied, dessen ganzes
Wesen von kerniger Trotzigkeit und unersätt¬

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lichen Wissensdurst erfüllt ist. In den Bergen
irrt er umher und gräbt nach Schätzen. Er
sucht der Natur ihre Geheimnisse abzulocken.
Aber auch diese Faustnatur kommt zu der
schmerzlichen Erkenntnis, daß alles auf Erden
eitel ist. In seinen Händen wird die Bibel
zu einem anderen Buche, aus dem nur Haß
und Verzweiflung zu reden scheinen. Unter
nichts leidet er mehr, als unter der Einsam¬
keit, und so wandelt sich sein Ruf nach Er¬
lösung in die Sehnsucht nach einer Gefährtin
um. Seiner Kampfnatur entspricht es, daß
er die Geliebte, Kathrina, mit Gewalt an
sich reißt. Aber er hält sie nicht gefangen,
sie darf frei wählen. Doch sie reift erst all¬
mählich zu seiner Gefährtin heran. Dem
harten Mann wird es unmöglich, seine Weich¬
heit zu zeigen. So zieht er sich noch mehr
in sich zurück, er glaubt nicht an ihre Liebe
und sich selbst verzehrend gräbt er weiter,
wenn auch seine Seele in unbeobachteten
Augenblicken nach der Gefährtin schreit. Erst in
dunkler Nacht wird ihm durch den "frischen
Wanderer", den frohen Tatmenschen, der Sinn
geöffnet, daß nicht im Wissen, sondern im
Schauen der wahre Kern des Lebens liegt,
daß eS die Liebe ist, die das Leben lebens¬
wert macht:

"Hast du denn je begriffen,
Was Liebe will? Aus welchem dunklen Grunde
Die Menschenseele nach der Liebe schreit
Auf unserm starren, steinigen Erdenrunde?"

Geläutert kehrt er heim und kommt in
einem Augenblicke zurück, wo das Weib im
Begriff ist, der schwersten Verlockung zu folgen
und sich von dem Gesellen befreien zu lassen.
Es scheint zum Kampfe um das Weib zu
kommen, aber dieser Kampf ist schon von
vornherein entschieden. Die Frau fällt dem
Mächtigeren zu. Aus freier Liebe tritt sie dem
Schmiede zur Seite. Denn nur "dem, der
aus allen irdenen Tiefen lebt", kann sie als
treue Gefährtin zur Seite stehen.

Behält man diesen Gedanken vor Augen,
der freilich nicht immer scharf genug ausgedrückt
ist und bei der unzureichenden Darstellung
des Bergschmieds in Thale nicht zur rechten
Geltung kam, so öffnet sich die Dichtung dem
Verständnis in vollem Umfange.

Aber noch ein weiterer Umstand kam für
die Wirkung der Dichtung auf dem Harzer

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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eines geistigen Aristokraten vom reinsten Wasser,
Platons, die den verhältnismäßig breitesten
Raum einnimmt (300 Seiten). Aber gerade
in dessen „Staat" fehlt ein eingehendes
Programm der Wirtschaftspolitik! So ist
das Buch zwar sehr anregend, zumal der
Verfasser moderne Erscheinungen und moderne
volkswirtschaftliche Literatur in weitem Um¬
fange heranzieht, aber es fordert auch oft zum
Widerspruche heraus: wer es mit Kritik liest,
wird viel daraus lernen können, und namentlich
dem Lehrer der alten Geschichte möchten wir
W. A. die Lektüre empfehlen.

Theater

Carl Hauptmanns „Bergschmiede" und
das Naturtheater. Am 14. Juli erfolgte im
Harzer Bergtheater zu Thale die Aufführung
von Carl Hauptmanns „Bergschmiede".

Es ist eine auffällige Erscheinung, daß ein
großer Teil der deutschen Presse seit Jahren
den Dichtungen Carl Hauptmanns verständ¬
nislos gegenübersteht und seinen Dramen das
Theater verschlossen ist. Gewiß, es wäre
verfehlt, nur dem Publikum diesen Vorwurf
zu machen. Der Dichter deutet gar manches
nur an, was deutlich gesagt, die Klarheit
fördern könnte. Wer aber sich die Mühe gibt,
in die schwerblütigen Werke sich zu versenken,
dem wird die tiefe Bedeutung dieser Kunst
aufgehen. Aber dieses Bestreben muß man
leider auch nach der Aufführung der „Berg¬
schmiede" in den Spalten der meisten deut¬
schen Blätter vergeblich suchen. Wenn der
Kritiker einer der gelesensten deutschen Tages¬
zeitungen nach dem Sinn des ganzen Werkes
fragt, einen Fortschritt der Handlung vermißt
und den Schluß des Werkes dahin charakte¬
risiert, daß alles beim alten bleibt, so muß
man doch den Mangel am guten Willen, sich
in die Dichtung einzufühlen, feststellen. Nicht
viel besser ist es bei der Mehrzahl der an¬
deren Blätter zu lesen. Weichen doch die
Inhaltsangaben so stark voneinander ab,
daß man kaum glauben kann, eS seien Re¬
ferate über das gleiche Stück, und doch ist
die klare Erkenntnis der Idee des Stückes
nicht allzu schwer.

In einem einsamen Tale des Riesen¬
gebirges haust ein Schmied, dessen ganzes
Wesen von kerniger Trotzigkeit und unersätt¬

[Spaltenumbruch]

lichen Wissensdurst erfüllt ist. In den Bergen
irrt er umher und gräbt nach Schätzen. Er
sucht der Natur ihre Geheimnisse abzulocken.
Aber auch diese Faustnatur kommt zu der
schmerzlichen Erkenntnis, daß alles auf Erden
eitel ist. In seinen Händen wird die Bibel
zu einem anderen Buche, aus dem nur Haß
und Verzweiflung zu reden scheinen. Unter
nichts leidet er mehr, als unter der Einsam¬
keit, und so wandelt sich sein Ruf nach Er¬
lösung in die Sehnsucht nach einer Gefährtin
um. Seiner Kampfnatur entspricht es, daß
er die Geliebte, Kathrina, mit Gewalt an
sich reißt. Aber er hält sie nicht gefangen,
sie darf frei wählen. Doch sie reift erst all¬
mählich zu seiner Gefährtin heran. Dem
harten Mann wird es unmöglich, seine Weich¬
heit zu zeigen. So zieht er sich noch mehr
in sich zurück, er glaubt nicht an ihre Liebe
und sich selbst verzehrend gräbt er weiter,
wenn auch seine Seele in unbeobachteten
Augenblicken nach der Gefährtin schreit. Erst in
dunkler Nacht wird ihm durch den „frischen
Wanderer", den frohen Tatmenschen, der Sinn
geöffnet, daß nicht im Wissen, sondern im
Schauen der wahre Kern des Lebens liegt,
daß eS die Liebe ist, die das Leben lebens¬
wert macht:

„Hast du denn je begriffen,
Was Liebe will? Aus welchem dunklen Grunde
Die Menschenseele nach der Liebe schreit
Auf unserm starren, steinigen Erdenrunde?"

Geläutert kehrt er heim und kommt in
einem Augenblicke zurück, wo das Weib im
Begriff ist, der schwersten Verlockung zu folgen
und sich von dem Gesellen befreien zu lassen.
Es scheint zum Kampfe um das Weib zu
kommen, aber dieser Kampf ist schon von
vornherein entschieden. Die Frau fällt dem
Mächtigeren zu. Aus freier Liebe tritt sie dem
Schmiede zur Seite. Denn nur „dem, der
aus allen irdenen Tiefen lebt", kann sie als
treue Gefährtin zur Seite stehen.

Behält man diesen Gedanken vor Augen,
der freilich nicht immer scharf genug ausgedrückt
ist und bei der unzureichenden Darstellung
des Bergschmieds in Thale nicht zur rechten
Geltung kam, so öffnet sich die Dichtung dem
Verständnis in vollem Umfange.

Aber noch ein weiterer Umstand kam für
die Wirkung der Dichtung auf dem Harzer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/246>, abgerufen am 16.06.2024.