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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Tagesfragen [Spaltenumbruch]

das Kochen will gelernt sein. Deswegen
nehmen wir fast jedesmal den Kochtopf mit
auf die Wanderschaft. Da gibt es viele Prak¬
tische Handgriffe, die nicht beim ersten Male
gelingen. Lodenhüte mit Federn, Kniehosen
und Zupfgeigen sollen auch keine Uniform,
kein Dogma sein, niemand wird abgewiesen,
der ohne sie erscheint; aber jede Erscheinung
hat ihre Form. Hätte der Alkoholismus nicht
durch Trinksitten eine Höheres vorgebende
Form gefunden, so hätte er unter Studenten,
Offizieren und Pennälern nicht seine Orgien
feiern können. Die Form stellt sich von selbst
ein; ist sie so Praktisch und zwanglos, wie
die der Wandervögel, so ist nichts gegen sie
zu sagen.

Aber wir haben einen schlimmen ernst¬
haften Gegner: viel unberufenes Volk, das
sich in Wandertracht hüllt, um die Gastfreiheit,
die wandernden Schülern gern gewährt wird,
zu "schinden". Man hat schon böse Erfah¬
rungen gemacht mit Eseln, die sich in unsere
Haut kleiden, um Rüben, Kartoffeln, Birnen,
Zwetschen und Äpfel zu stehlen und ihren
Witz an fremdem Eigentum 'auszulassen; sie
heißen bei uns "Kohlrabiapostel" und find
unsere ärgsten Feinde, weil sie unsere gute
Sache in argen Verruf bringen können. Zum
Ausweis führen die Wandervögel vom "Bund
Deutscher Wandervereine" Karten bei sich, die
Polizeilich abgestempelt sind und nur durch
Fälschung oder Betrug in unrechte Hände ge¬
langen können.

Es ist ausgeschlossen, daß unsere Wan¬
derer unter geschulten Führern fremdes Eigen¬
tum angreifen oder auch nur schädigen. Denn
die Freude an der Natur, die wir den jungen
Kameraden einzuflößen suchen, bewahrt vor
Verschandelungen. Wir setzen unseren Stolz
darein, daß unser Kochplatz sauber aussieht,
wenn wir weiterziehen, kein Fetzchen Papier,
keine Eierschale darf liegen bleiben; nur die
ausgegossenen Kohlen oder die Stelle, um der
sie vergraben sind, wenn nicht genug Wasser
zum Aufgießen vorhanden War, bleiben Zeugen
unseres Aufenthalts.

In fast jeder Stadt steht ein Eltern- und
Freundesrat (Eufrat) den jungen Wanderern
zur Seite, unterstützt sie mit Geldbeiträgen
zum Anschaffen der Kochtöpfe u. tgi. In dieser
Stellung Pflegen auch dieLehrer,als"Eufräte",

[Ende Spaltensatz]
Wandern.

Man kann sich heute keine Land¬
schaft mehr ohne Wandervögel denken. Überall,
wo es schön ist, ziehen sie in Scharen und kleinen
Schwärmen durch die grüne Waldeswelt.
Eine oft wiederholte Erscheinung, gleichmäßige
Formen, zumal wenn sie mit einigen? Anspruch
des Neuen auftreten, wirken auf einen großen
Teil des deutschen Publikums aufreizend und
locken den Widerspruch hervor. Man erbost
sich, findet nichts Neues, nichts Besonderes
daran, man klammert seine Vorwürfe an
kleine Auswüchse und bedenkt nicht, wie man
durch kleinliche Ausstellungen einer großen
lebendig quellenden Bewegung, einem Jung¬
brunnen der müssiger, in Schulkram und
Alkoholprotzerei stagnierenden Pennälerschaft
schadet. Die Jugend hat hier einmal selbst
den Anstoß gegeben, hat etwas von dem reg¬
samen Geist, von dem Tatendrang, der oft
genug zu üblen Kraftäußerungen treibt, um¬
gesetzt in gesundes, harmloses, poesievolles
Sonntags- und Ferienvergnügen, und nun,
da es endlich einmal gegangen ist, wie wir
eS theoretisch wünschten, steht schon ein Teil
der Lehrerschaft am Ufer wie ängstliche
Glucken, wenn die jungen Entchen aufs Wasser
gehen.

Wie verständnislos selbst gebildete Jugend¬
erzieher dem Wandervogel gegenüberstehen,
bewies mir ein Oberlehrer, der einer Schar
unserer jungen Kameraden begegnet war.
Vor der Tür eines Hotels hätten sie -- nicht
einmal vierstimmig! ^ zur Zupfgeige ge¬
sungen und sich sicherlich ein Viatikum erfechten
wollen I Nun, derartige Mißverständnisse
kommen selten vor. Unsere Gegner oder
Nörgler machen vielmehr meistens^ geltend,
das Wandern sei in Deutschland nicht neu,
sie selbst wären in ihrer Jugend tagelang
allein gewandert oder mit ein Paar guten
Freunden zusammen, sie hätten keinen Koch¬
topf gebraucht, keine Federn auf malerischen
Hüten, keine Zupfgeige, um ihre Wanderlust
anzufrischen. Das alles seien Äußerlichkeiten,
die von dem eigentlichen Zweck des Wanderns
immer weiter abführten. Zugegeben, bei ein¬
tägigen Touren kann man ohne Kochtopf
fertig werden, aber nicht bei mehrtägigen
oder gar längeren Ferienwanderungen, und


Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
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das Kochen will gelernt sein. Deswegen
nehmen wir fast jedesmal den Kochtopf mit
auf die Wanderschaft. Da gibt es viele Prak¬
tische Handgriffe, die nicht beim ersten Male
gelingen. Lodenhüte mit Federn, Kniehosen
und Zupfgeigen sollen auch keine Uniform,
kein Dogma sein, niemand wird abgewiesen,
der ohne sie erscheint; aber jede Erscheinung
hat ihre Form. Hätte der Alkoholismus nicht
durch Trinksitten eine Höheres vorgebende
Form gefunden, so hätte er unter Studenten,
Offizieren und Pennälern nicht seine Orgien
feiern können. Die Form stellt sich von selbst
ein; ist sie so Praktisch und zwanglos, wie
die der Wandervögel, so ist nichts gegen sie
zu sagen.

Aber wir haben einen schlimmen ernst¬
haften Gegner: viel unberufenes Volk, das
sich in Wandertracht hüllt, um die Gastfreiheit,
die wandernden Schülern gern gewährt wird,
zu „schinden". Man hat schon böse Erfah¬
rungen gemacht mit Eseln, die sich in unsere
Haut kleiden, um Rüben, Kartoffeln, Birnen,
Zwetschen und Äpfel zu stehlen und ihren
Witz an fremdem Eigentum 'auszulassen; sie
heißen bei uns „Kohlrabiapostel" und find
unsere ärgsten Feinde, weil sie unsere gute
Sache in argen Verruf bringen können. Zum
Ausweis führen die Wandervögel vom „Bund
Deutscher Wandervereine" Karten bei sich, die
Polizeilich abgestempelt sind und nur durch
Fälschung oder Betrug in unrechte Hände ge¬
langen können.

Es ist ausgeschlossen, daß unsere Wan¬
derer unter geschulten Führern fremdes Eigen¬
tum angreifen oder auch nur schädigen. Denn
die Freude an der Natur, die wir den jungen
Kameraden einzuflößen suchen, bewahrt vor
Verschandelungen. Wir setzen unseren Stolz
darein, daß unser Kochplatz sauber aussieht,
wenn wir weiterziehen, kein Fetzchen Papier,
keine Eierschale darf liegen bleiben; nur die
ausgegossenen Kohlen oder die Stelle, um der
sie vergraben sind, wenn nicht genug Wasser
zum Aufgießen vorhanden War, bleiben Zeugen
unseres Aufenthalts.

In fast jeder Stadt steht ein Eltern- und
Freundesrat (Eufrat) den jungen Wanderern
zur Seite, unterstützt sie mit Geldbeiträgen
zum Anschaffen der Kochtöpfe u. tgi. In dieser
Stellung Pflegen auch dieLehrer,als„Eufräte",

[Ende Spaltensatz]
Wandern.

Man kann sich heute keine Land¬
schaft mehr ohne Wandervögel denken. Überall,
wo es schön ist, ziehen sie in Scharen und kleinen
Schwärmen durch die grüne Waldeswelt.
Eine oft wiederholte Erscheinung, gleichmäßige
Formen, zumal wenn sie mit einigen? Anspruch
des Neuen auftreten, wirken auf einen großen
Teil des deutschen Publikums aufreizend und
locken den Widerspruch hervor. Man erbost
sich, findet nichts Neues, nichts Besonderes
daran, man klammert seine Vorwürfe an
kleine Auswüchse und bedenkt nicht, wie man
durch kleinliche Ausstellungen einer großen
lebendig quellenden Bewegung, einem Jung¬
brunnen der müssiger, in Schulkram und
Alkoholprotzerei stagnierenden Pennälerschaft
schadet. Die Jugend hat hier einmal selbst
den Anstoß gegeben, hat etwas von dem reg¬
samen Geist, von dem Tatendrang, der oft
genug zu üblen Kraftäußerungen treibt, um¬
gesetzt in gesundes, harmloses, poesievolles
Sonntags- und Ferienvergnügen, und nun,
da es endlich einmal gegangen ist, wie wir
eS theoretisch wünschten, steht schon ein Teil
der Lehrerschaft am Ufer wie ängstliche
Glucken, wenn die jungen Entchen aufs Wasser
gehen.

Wie verständnislos selbst gebildete Jugend¬
erzieher dem Wandervogel gegenüberstehen,
bewies mir ein Oberlehrer, der einer Schar
unserer jungen Kameraden begegnet war.
Vor der Tür eines Hotels hätten sie — nicht
einmal vierstimmig! ^ zur Zupfgeige ge¬
sungen und sich sicherlich ein Viatikum erfechten
wollen I Nun, derartige Mißverständnisse
kommen selten vor. Unsere Gegner oder
Nörgler machen vielmehr meistens^ geltend,
das Wandern sei in Deutschland nicht neu,
sie selbst wären in ihrer Jugend tagelang
allein gewandert oder mit ein Paar guten
Freunden zusammen, sie hätten keinen Koch¬
topf gebraucht, keine Federn auf malerischen
Hüten, keine Zupfgeige, um ihre Wanderlust
anzufrischen. Das alles seien Äußerlichkeiten,
die von dem eigentlichen Zweck des Wanderns
immer weiter abführten. Zugegeben, bei ein¬
tägigen Touren kann man ohne Kochtopf
fertig werden, aber nicht bei mehrtägigen
oder gar längeren Ferienwanderungen, und


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[0343] Maßgebliches und Unmaßgebliches Tagesfragen das Kochen will gelernt sein. Deswegen nehmen wir fast jedesmal den Kochtopf mit auf die Wanderschaft. Da gibt es viele Prak¬ tische Handgriffe, die nicht beim ersten Male gelingen. Lodenhüte mit Federn, Kniehosen und Zupfgeigen sollen auch keine Uniform, kein Dogma sein, niemand wird abgewiesen, der ohne sie erscheint; aber jede Erscheinung hat ihre Form. Hätte der Alkoholismus nicht durch Trinksitten eine Höheres vorgebende Form gefunden, so hätte er unter Studenten, Offizieren und Pennälern nicht seine Orgien feiern können. Die Form stellt sich von selbst ein; ist sie so Praktisch und zwanglos, wie die der Wandervögel, so ist nichts gegen sie zu sagen. Aber wir haben einen schlimmen ernst¬ haften Gegner: viel unberufenes Volk, das sich in Wandertracht hüllt, um die Gastfreiheit, die wandernden Schülern gern gewährt wird, zu „schinden". Man hat schon böse Erfah¬ rungen gemacht mit Eseln, die sich in unsere Haut kleiden, um Rüben, Kartoffeln, Birnen, Zwetschen und Äpfel zu stehlen und ihren Witz an fremdem Eigentum 'auszulassen; sie heißen bei uns „Kohlrabiapostel" und find unsere ärgsten Feinde, weil sie unsere gute Sache in argen Verruf bringen können. Zum Ausweis führen die Wandervögel vom „Bund Deutscher Wandervereine" Karten bei sich, die Polizeilich abgestempelt sind und nur durch Fälschung oder Betrug in unrechte Hände ge¬ langen können. Es ist ausgeschlossen, daß unsere Wan¬ derer unter geschulten Führern fremdes Eigen¬ tum angreifen oder auch nur schädigen. Denn die Freude an der Natur, die wir den jungen Kameraden einzuflößen suchen, bewahrt vor Verschandelungen. Wir setzen unseren Stolz darein, daß unser Kochplatz sauber aussieht, wenn wir weiterziehen, kein Fetzchen Papier, keine Eierschale darf liegen bleiben; nur die ausgegossenen Kohlen oder die Stelle, um der sie vergraben sind, wenn nicht genug Wasser zum Aufgießen vorhanden War, bleiben Zeugen unseres Aufenthalts. In fast jeder Stadt steht ein Eltern- und Freundesrat (Eufrat) den jungen Wanderern zur Seite, unterstützt sie mit Geldbeiträgen zum Anschaffen der Kochtöpfe u. tgi. In dieser Stellung Pflegen auch dieLehrer,als„Eufräte", Wandern. Man kann sich heute keine Land¬ schaft mehr ohne Wandervögel denken. Überall, wo es schön ist, ziehen sie in Scharen und kleinen Schwärmen durch die grüne Waldeswelt. Eine oft wiederholte Erscheinung, gleichmäßige Formen, zumal wenn sie mit einigen? Anspruch des Neuen auftreten, wirken auf einen großen Teil des deutschen Publikums aufreizend und locken den Widerspruch hervor. Man erbost sich, findet nichts Neues, nichts Besonderes daran, man klammert seine Vorwürfe an kleine Auswüchse und bedenkt nicht, wie man durch kleinliche Ausstellungen einer großen lebendig quellenden Bewegung, einem Jung¬ brunnen der müssiger, in Schulkram und Alkoholprotzerei stagnierenden Pennälerschaft schadet. Die Jugend hat hier einmal selbst den Anstoß gegeben, hat etwas von dem reg¬ samen Geist, von dem Tatendrang, der oft genug zu üblen Kraftäußerungen treibt, um¬ gesetzt in gesundes, harmloses, poesievolles Sonntags- und Ferienvergnügen, und nun, da es endlich einmal gegangen ist, wie wir eS theoretisch wünschten, steht schon ein Teil der Lehrerschaft am Ufer wie ängstliche Glucken, wenn die jungen Entchen aufs Wasser gehen. Wie verständnislos selbst gebildete Jugend¬ erzieher dem Wandervogel gegenüberstehen, bewies mir ein Oberlehrer, der einer Schar unserer jungen Kameraden begegnet war. Vor der Tür eines Hotels hätten sie — nicht einmal vierstimmig! ^ zur Zupfgeige ge¬ sungen und sich sicherlich ein Viatikum erfechten wollen I Nun, derartige Mißverständnisse kommen selten vor. Unsere Gegner oder Nörgler machen vielmehr meistens^ geltend, das Wandern sei in Deutschland nicht neu, sie selbst wären in ihrer Jugend tagelang allein gewandert oder mit ein Paar guten Freunden zusammen, sie hätten keinen Koch¬ topf gebraucht, keine Federn auf malerischen Hüten, keine Zupfgeige, um ihre Wanderlust anzufrischen. Das alles seien Äußerlichkeiten, die von dem eigentlichen Zweck des Wanderns immer weiter abführten. Zugegeben, bei ein¬ tägigen Touren kann man ohne Kochtopf fertig werden, aber nicht bei mehrtägigen oder gar längeren Ferienwanderungen, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/343>, abgerufen am 02.06.2024.