Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Einfluß auf die wandernden Schüler auszu¬
üben, aber sie mögen sich Wohl hüten, zu
viel regieren zu wollen. Es bildet sich in
der Jugend von selbst ein neues Ideal freierer
deutscher Manneszucht, was seinen hervor¬
ragendsten Ausdruck Wohl darin findet, daß
die Mitglieder der Berliner Wandervereine
sich verpflichten müssen, die "KientöPPe" zu
meiden. Nach den ausgezeichneten Aufsätzen
des Herrn Dr. Warstat in den Grenzboten
Ur. 6 und 23 des Jgs. 1912 brauche ich hier
Wohl nicht hervorzuheben, wie segensreich diese
Bestimmung für die Berliner Jugend sein wird.

Ich kann auch darin nicht mit den Gegnern
oder "halben Freunden" des Wanderns über¬
einstimmen, daß die Wissenschaft am Montag
unter der Müdigkeit litte. Ist dies der Fall,
so hat man die Sache umgekehrt aufzufassen:
wenn die Schule nicht einmal zur Sonntags¬
wanderung Zeit läßt, so wird zu viel Zeit
mit dem Lernen zugebracht I

Bei allen Wanderungen, die ich als Eufrat
mitgemacht habe, ist's mir immer wieder klar
geworden:

Wo man zupft, laß die Bedenken schweige",
Böse Wandrer zupfen nicht auf Geigen.
Wie natürlich klingen die wieder aufleben¬
den Volkslieder aus unserem Jupfgeigenhansl
zum bescheidenen surren der Klampfe I Wie
schmeckt das selbstgekochte Essen mitten auf
freiem Felde oder an schattiger Waldquelle
und in heimlicher Felsengrotte! Und dann
liegen wir um das verglühende Feuer und
jeder sucht die Freude, wie er sie findet. Wer
klamvfen kann, zupft neue und alte Weisen,
andere hören ihn: zu, singen mit und dichten
neue Strophen zu alten Liedern. Was da
manchmal im Übermut des Augenblicks er¬
sonnen wird, klingt Wohl zu Hause allzu toll,
allzu wild. Aber wer weiß, was das richtige
Gefühl war: der Übermut des Waldes oder
die Besonnenheit der Stubenluft? Überhaupt
an Übermut darf es nicht fehlen. "Jäger,
Soldaten, mühsam Reisende bedürfen gutes
Mutes, der sich leicht zu Übermut steigert",
sagt Goethe, der auch zu wandern wußte.
Erlebnisse, kleine Gefahren, tapfere Über¬
windung, das braucht unsere Schuljugend so
nötig wie die Wissenschaft, und wir wollen
froh sein, daß sie sich selbst neue Wege in der
neuen Wanderform gesunden hat.

[Spaltenumbruch]

Wer allein wandern will, hat jetzt wie
früher Gelegenheit. Wer sich an anderer
Frohsinn laben, von anderen lernen will,
mag sich uns getrost anschließen. Wir lernen
alle viel voneinander. Der eine hat neue
Lieder, der andere neue Suppen; einer zeigt
uns Pflanzen und Vögel und alles andere
Getier und Gewürm, ein anderer schätzt Ent¬
fernungen mit unübertroffener Genauigkeit;
der hat zu Hause am Meßtischblatt den Weg
genau studiert und weiß über jeden Baum
und jeden Stein, jede Quelle und jedes
Dorf Bescheid; einer erzählt lustige schwanke
und Schnurren und ein anderer ist weiter
nichts als ein guter Kamerad.

Ein freier Ton herrscht wie von selbst, da
alles auf Einfachheit und Selbständigkeit ge¬
stimmt ist. Mancher Eufrat zog schon mit
uns aus, der jahrelang nicht aus dem Berufs¬
und Gesellschaftsleben hinaus gekommen war.
Der freie Verkehr zog ihn an und die lang¬
vergessene Lust am Wandern kam ihm wieder;
manch feines Herrchen lernte russige Töpfe
mit Papier und Sand ausscheuern und viele
blasierte und verwöhnte Muttersöhnchen ver¬
kniffen sich den üppigen Sonntagsbraten und
nahmen vorlieb mit Erbssuppe und Kartoffeln.

Wenn nur "die Scham nicht weiter gebeut",
wenn man sich nur mal herausgerissen fühlt
aus den Fesseln gesellschaftlicher Vorurteile,
wie leicht und frei ist da Plötzlich der Verkehr,
wie ungezwungen der Ton der Unterhaltung,
wie erhebend die gemeinsame Begeisterung
an der Schönheit unseres Landes!

Dürfen wir nicht hoffen, unsere Jugend
mit einer unvergeßlichen, tief wurzelnden Liebe
zur deutschen Erde zu erfüllen, wenn wir sie
hinausführen in Wald und Sonne, in Wind
und Regen, auf hohe Felsen und graue Burgen,
in alte Städte und stille Dörfer! Ans der
Heimathliebe stammt die Vaterlandsliebe, die
wir so dringend nötig haben. Unaufdringlich
aber beredter als alles andere drückt das
deutsche Land uns die bewußte Liebe zur
Eigenart und zum Volke ins Herz.

Drum laßt sie spotten, junge Wander¬
kameraden, laßt sie uns unsere Freude be¬
neiden! Aber laßt euch nicht eitel machen
von der kritiklosen Bewunderung alter und

[Ende Spaltensatz]
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Einfluß auf die wandernden Schüler auszu¬
üben, aber sie mögen sich Wohl hüten, zu
viel regieren zu wollen. Es bildet sich in
der Jugend von selbst ein neues Ideal freierer
deutscher Manneszucht, was seinen hervor¬
ragendsten Ausdruck Wohl darin findet, daß
die Mitglieder der Berliner Wandervereine
sich verpflichten müssen, die „KientöPPe" zu
meiden. Nach den ausgezeichneten Aufsätzen
des Herrn Dr. Warstat in den Grenzboten
Ur. 6 und 23 des Jgs. 1912 brauche ich hier
Wohl nicht hervorzuheben, wie segensreich diese
Bestimmung für die Berliner Jugend sein wird.

Ich kann auch darin nicht mit den Gegnern
oder „halben Freunden" des Wanderns über¬
einstimmen, daß die Wissenschaft am Montag
unter der Müdigkeit litte. Ist dies der Fall,
so hat man die Sache umgekehrt aufzufassen:
wenn die Schule nicht einmal zur Sonntags¬
wanderung Zeit läßt, so wird zu viel Zeit
mit dem Lernen zugebracht I

Bei allen Wanderungen, die ich als Eufrat
mitgemacht habe, ist's mir immer wieder klar
geworden:

Wo man zupft, laß die Bedenken schweige»,
Böse Wandrer zupfen nicht auf Geigen.
Wie natürlich klingen die wieder aufleben¬
den Volkslieder aus unserem Jupfgeigenhansl
zum bescheidenen surren der Klampfe I Wie
schmeckt das selbstgekochte Essen mitten auf
freiem Felde oder an schattiger Waldquelle
und in heimlicher Felsengrotte! Und dann
liegen wir um das verglühende Feuer und
jeder sucht die Freude, wie er sie findet. Wer
klamvfen kann, zupft neue und alte Weisen,
andere hören ihn: zu, singen mit und dichten
neue Strophen zu alten Liedern. Was da
manchmal im Übermut des Augenblicks er¬
sonnen wird, klingt Wohl zu Hause allzu toll,
allzu wild. Aber wer weiß, was das richtige
Gefühl war: der Übermut des Waldes oder
die Besonnenheit der Stubenluft? Überhaupt
an Übermut darf es nicht fehlen. „Jäger,
Soldaten, mühsam Reisende bedürfen gutes
Mutes, der sich leicht zu Übermut steigert",
sagt Goethe, der auch zu wandern wußte.
Erlebnisse, kleine Gefahren, tapfere Über¬
windung, das braucht unsere Schuljugend so
nötig wie die Wissenschaft, und wir wollen
froh sein, daß sie sich selbst neue Wege in der
neuen Wanderform gesunden hat.

[Spaltenumbruch]

Wer allein wandern will, hat jetzt wie
früher Gelegenheit. Wer sich an anderer
Frohsinn laben, von anderen lernen will,
mag sich uns getrost anschließen. Wir lernen
alle viel voneinander. Der eine hat neue
Lieder, der andere neue Suppen; einer zeigt
uns Pflanzen und Vögel und alles andere
Getier und Gewürm, ein anderer schätzt Ent¬
fernungen mit unübertroffener Genauigkeit;
der hat zu Hause am Meßtischblatt den Weg
genau studiert und weiß über jeden Baum
und jeden Stein, jede Quelle und jedes
Dorf Bescheid; einer erzählt lustige schwanke
und Schnurren und ein anderer ist weiter
nichts als ein guter Kamerad.

Ein freier Ton herrscht wie von selbst, da
alles auf Einfachheit und Selbständigkeit ge¬
stimmt ist. Mancher Eufrat zog schon mit
uns aus, der jahrelang nicht aus dem Berufs¬
und Gesellschaftsleben hinaus gekommen war.
Der freie Verkehr zog ihn an und die lang¬
vergessene Lust am Wandern kam ihm wieder;
manch feines Herrchen lernte russige Töpfe
mit Papier und Sand ausscheuern und viele
blasierte und verwöhnte Muttersöhnchen ver¬
kniffen sich den üppigen Sonntagsbraten und
nahmen vorlieb mit Erbssuppe und Kartoffeln.

Wenn nur „die Scham nicht weiter gebeut",
wenn man sich nur mal herausgerissen fühlt
aus den Fesseln gesellschaftlicher Vorurteile,
wie leicht und frei ist da Plötzlich der Verkehr,
wie ungezwungen der Ton der Unterhaltung,
wie erhebend die gemeinsame Begeisterung
an der Schönheit unseres Landes!

Dürfen wir nicht hoffen, unsere Jugend
mit einer unvergeßlichen, tief wurzelnden Liebe
zur deutschen Erde zu erfüllen, wenn wir sie
hinausführen in Wald und Sonne, in Wind
und Regen, auf hohe Felsen und graue Burgen,
in alte Städte und stille Dörfer! Ans der
Heimathliebe stammt die Vaterlandsliebe, die
wir so dringend nötig haben. Unaufdringlich
aber beredter als alles andere drückt das
deutsche Land uns die bewußte Liebe zur
Eigenart und zum Volke ins Herz.

Drum laßt sie spotten, junge Wander¬
kameraden, laßt sie uns unsere Freude be¬
neiden! Aber laßt euch nicht eitel machen
von der kritiklosen Bewunderung alter und

[Ende Spaltensatz]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <pb facs="#f0344" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322091"/>
              <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
              <cb type="start"/>
              <p xml:id="ID_1470" prev="#ID_1469"> Einfluß auf die wandernden Schüler auszu¬<lb/>
üben, aber sie mögen sich Wohl hüten, zu<lb/>
viel regieren zu wollen. Es bildet sich in<lb/>
der Jugend von selbst ein neues Ideal freierer<lb/>
deutscher Manneszucht, was seinen hervor¬<lb/>
ragendsten Ausdruck Wohl darin findet, daß<lb/>
die Mitglieder der Berliner Wandervereine<lb/>
sich verpflichten müssen, die &#x201E;KientöPPe" zu<lb/>
meiden. Nach den ausgezeichneten Aufsätzen<lb/>
des Herrn Dr. Warstat in den Grenzboten<lb/>
Ur. 6 und 23 des Jgs. 1912 brauche ich hier<lb/>
Wohl nicht hervorzuheben, wie segensreich diese<lb/>
Bestimmung für die Berliner Jugend sein wird.</p>
              <p xml:id="ID_1471"> Ich kann auch darin nicht mit den Gegnern<lb/>
oder &#x201E;halben Freunden" des Wanderns über¬<lb/>
einstimmen, daß die Wissenschaft am Montag<lb/>
unter der Müdigkeit litte. Ist dies der Fall,<lb/>
so hat man die Sache umgekehrt aufzufassen:<lb/>
wenn die Schule nicht einmal zur Sonntags¬<lb/>
wanderung Zeit läßt, so wird zu viel Zeit<lb/>
mit dem Lernen zugebracht I</p>
              <p xml:id="ID_1472"> Bei allen Wanderungen, die ich als Eufrat<lb/>
mitgemacht habe, ist's mir immer wieder klar<lb/>
geworden:</p>
              <p xml:id="ID_1473"> Wo man zupft, laß die Bedenken schweige»,<lb/>
Böse Wandrer zupfen nicht auf Geigen.<lb/>
Wie natürlich klingen die wieder aufleben¬<lb/>
den Volkslieder aus unserem Jupfgeigenhansl<lb/>
zum bescheidenen surren der Klampfe I Wie<lb/>
schmeckt das selbstgekochte Essen mitten auf<lb/>
freiem Felde oder an schattiger Waldquelle<lb/>
und in heimlicher Felsengrotte! Und dann<lb/>
liegen wir um das verglühende Feuer und<lb/>
jeder sucht die Freude, wie er sie findet. Wer<lb/>
klamvfen kann, zupft neue und alte Weisen,<lb/>
andere hören ihn: zu, singen mit und dichten<lb/>
neue Strophen zu alten Liedern. Was da<lb/>
manchmal im Übermut des Augenblicks er¬<lb/>
sonnen wird, klingt Wohl zu Hause allzu toll,<lb/>
allzu wild. Aber wer weiß, was das richtige<lb/>
Gefühl war: der Übermut des Waldes oder<lb/>
die Besonnenheit der Stubenluft? Überhaupt<lb/>
an Übermut darf es nicht fehlen. &#x201E;Jäger,<lb/>
Soldaten, mühsam Reisende bedürfen gutes<lb/>
Mutes, der sich leicht zu Übermut steigert",<lb/>
sagt Goethe, der auch zu wandern wußte.<lb/>
Erlebnisse, kleine Gefahren, tapfere Über¬<lb/>
windung, das braucht unsere Schuljugend so<lb/>
nötig wie die Wissenschaft, und wir wollen<lb/>
froh sein, daß sie sich selbst neue Wege in der<lb/>
neuen Wanderform gesunden hat.</p>
              <cb/><lb/>
              <p xml:id="ID_1474"> Wer allein wandern will, hat jetzt wie<lb/>
früher Gelegenheit. Wer sich an anderer<lb/>
Frohsinn laben, von anderen lernen will,<lb/>
mag sich uns getrost anschließen. Wir lernen<lb/>
alle viel voneinander. Der eine hat neue<lb/>
Lieder, der andere neue Suppen; einer zeigt<lb/>
uns Pflanzen und Vögel und alles andere<lb/>
Getier und Gewürm, ein anderer schätzt Ent¬<lb/>
fernungen mit unübertroffener Genauigkeit;<lb/>
der hat zu Hause am Meßtischblatt den Weg<lb/>
genau studiert und weiß über jeden Baum<lb/>
und jeden Stein, jede Quelle und jedes<lb/>
Dorf Bescheid; einer erzählt lustige schwanke<lb/>
und Schnurren und ein anderer ist weiter<lb/>
nichts als ein guter Kamerad.</p>
              <p xml:id="ID_1475"> Ein freier Ton herrscht wie von selbst, da<lb/>
alles auf Einfachheit und Selbständigkeit ge¬<lb/>
stimmt ist. Mancher Eufrat zog schon mit<lb/>
uns aus, der jahrelang nicht aus dem Berufs¬<lb/>
und Gesellschaftsleben hinaus gekommen war.<lb/>
Der freie Verkehr zog ihn an und die lang¬<lb/>
vergessene Lust am Wandern kam ihm wieder;<lb/>
manch feines Herrchen lernte russige Töpfe<lb/>
mit Papier und Sand ausscheuern und viele<lb/>
blasierte und verwöhnte Muttersöhnchen ver¬<lb/>
kniffen sich den üppigen Sonntagsbraten und<lb/>
nahmen vorlieb mit Erbssuppe und Kartoffeln.</p>
              <lg xml:id="POEMID_7" type="poem">
                <l/>
              </lg>
              <p xml:id="ID_1476"> Wenn nur &#x201E;die Scham nicht weiter gebeut",<lb/>
wenn man sich nur mal herausgerissen fühlt<lb/>
aus den Fesseln gesellschaftlicher Vorurteile,<lb/>
wie leicht und frei ist da Plötzlich der Verkehr,<lb/>
wie ungezwungen der Ton der Unterhaltung,<lb/>
wie erhebend die gemeinsame Begeisterung<lb/>
an der Schönheit unseres Landes!</p>
              <p xml:id="ID_1477"> Dürfen wir nicht hoffen, unsere Jugend<lb/>
mit einer unvergeßlichen, tief wurzelnden Liebe<lb/>
zur deutschen Erde zu erfüllen, wenn wir sie<lb/>
hinausführen in Wald und Sonne, in Wind<lb/>
und Regen, auf hohe Felsen und graue Burgen,<lb/>
in alte Städte und stille Dörfer! Ans der<lb/>
Heimathliebe stammt die Vaterlandsliebe, die<lb/>
wir so dringend nötig haben. Unaufdringlich<lb/>
aber beredter als alles andere drückt das<lb/>
deutsche Land uns die bewußte Liebe zur<lb/>
Eigenart und zum Volke ins Herz.</p>
              <p xml:id="ID_1478" next="#ID_1479"> Drum laßt sie spotten, junge Wander¬<lb/>
kameraden, laßt sie uns unsere Freude be¬<lb/>
neiden! Aber laßt euch nicht eitel machen<lb/>
von der kritiklosen Bewunderung alter und</p>
              <cb type="end"/><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0344] Maßgebliches und Unmaßgebliches Einfluß auf die wandernden Schüler auszu¬ üben, aber sie mögen sich Wohl hüten, zu viel regieren zu wollen. Es bildet sich in der Jugend von selbst ein neues Ideal freierer deutscher Manneszucht, was seinen hervor¬ ragendsten Ausdruck Wohl darin findet, daß die Mitglieder der Berliner Wandervereine sich verpflichten müssen, die „KientöPPe" zu meiden. Nach den ausgezeichneten Aufsätzen des Herrn Dr. Warstat in den Grenzboten Ur. 6 und 23 des Jgs. 1912 brauche ich hier Wohl nicht hervorzuheben, wie segensreich diese Bestimmung für die Berliner Jugend sein wird. Ich kann auch darin nicht mit den Gegnern oder „halben Freunden" des Wanderns über¬ einstimmen, daß die Wissenschaft am Montag unter der Müdigkeit litte. Ist dies der Fall, so hat man die Sache umgekehrt aufzufassen: wenn die Schule nicht einmal zur Sonntags¬ wanderung Zeit läßt, so wird zu viel Zeit mit dem Lernen zugebracht I Bei allen Wanderungen, die ich als Eufrat mitgemacht habe, ist's mir immer wieder klar geworden: Wo man zupft, laß die Bedenken schweige», Böse Wandrer zupfen nicht auf Geigen. Wie natürlich klingen die wieder aufleben¬ den Volkslieder aus unserem Jupfgeigenhansl zum bescheidenen surren der Klampfe I Wie schmeckt das selbstgekochte Essen mitten auf freiem Felde oder an schattiger Waldquelle und in heimlicher Felsengrotte! Und dann liegen wir um das verglühende Feuer und jeder sucht die Freude, wie er sie findet. Wer klamvfen kann, zupft neue und alte Weisen, andere hören ihn: zu, singen mit und dichten neue Strophen zu alten Liedern. Was da manchmal im Übermut des Augenblicks er¬ sonnen wird, klingt Wohl zu Hause allzu toll, allzu wild. Aber wer weiß, was das richtige Gefühl war: der Übermut des Waldes oder die Besonnenheit der Stubenluft? Überhaupt an Übermut darf es nicht fehlen. „Jäger, Soldaten, mühsam Reisende bedürfen gutes Mutes, der sich leicht zu Übermut steigert", sagt Goethe, der auch zu wandern wußte. Erlebnisse, kleine Gefahren, tapfere Über¬ windung, das braucht unsere Schuljugend so nötig wie die Wissenschaft, und wir wollen froh sein, daß sie sich selbst neue Wege in der neuen Wanderform gesunden hat. Wer allein wandern will, hat jetzt wie früher Gelegenheit. Wer sich an anderer Frohsinn laben, von anderen lernen will, mag sich uns getrost anschließen. Wir lernen alle viel voneinander. Der eine hat neue Lieder, der andere neue Suppen; einer zeigt uns Pflanzen und Vögel und alles andere Getier und Gewürm, ein anderer schätzt Ent¬ fernungen mit unübertroffener Genauigkeit; der hat zu Hause am Meßtischblatt den Weg genau studiert und weiß über jeden Baum und jeden Stein, jede Quelle und jedes Dorf Bescheid; einer erzählt lustige schwanke und Schnurren und ein anderer ist weiter nichts als ein guter Kamerad. Ein freier Ton herrscht wie von selbst, da alles auf Einfachheit und Selbständigkeit ge¬ stimmt ist. Mancher Eufrat zog schon mit uns aus, der jahrelang nicht aus dem Berufs¬ und Gesellschaftsleben hinaus gekommen war. Der freie Verkehr zog ihn an und die lang¬ vergessene Lust am Wandern kam ihm wieder; manch feines Herrchen lernte russige Töpfe mit Papier und Sand ausscheuern und viele blasierte und verwöhnte Muttersöhnchen ver¬ kniffen sich den üppigen Sonntagsbraten und nahmen vorlieb mit Erbssuppe und Kartoffeln. Wenn nur „die Scham nicht weiter gebeut", wenn man sich nur mal herausgerissen fühlt aus den Fesseln gesellschaftlicher Vorurteile, wie leicht und frei ist da Plötzlich der Verkehr, wie ungezwungen der Ton der Unterhaltung, wie erhebend die gemeinsame Begeisterung an der Schönheit unseres Landes! Dürfen wir nicht hoffen, unsere Jugend mit einer unvergeßlichen, tief wurzelnden Liebe zur deutschen Erde zu erfüllen, wenn wir sie hinausführen in Wald und Sonne, in Wind und Regen, auf hohe Felsen und graue Burgen, in alte Städte und stille Dörfer! Ans der Heimathliebe stammt die Vaterlandsliebe, die wir so dringend nötig haben. Unaufdringlich aber beredter als alles andere drückt das deutsche Land uns die bewußte Liebe zur Eigenart und zum Volke ins Herz. Drum laßt sie spotten, junge Wander¬ kameraden, laßt sie uns unsere Freude be¬ neiden! Aber laßt euch nicht eitel machen von der kritiklosen Bewunderung alter und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/344
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/344>, abgerufen am 18.05.2024.