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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Der Berliner Roman

einwenden könnte, wäre der Vorwurf, daß Georg Hermann seiner artistischen
Laune etwas über Gebühr die Zügel schießen läßt, daß sein ewig ironisches
Lächeln auf die Dauer ermüdet, und daß er in seinem Verhältnis zu den
Geschöpfen der eigenen Phantasie nicht mehr die richtige dichterische Liebe
aufbringt.

Bei Martin Berate, der in seinem Buche "Das Kind" (bei S. Fischer,
Berlin) ein armseliges ostpreußisches Dienstmädchen zur Romanheldin macht,
findet sich diese dichterische Liebe auf jeder Seite. Berate unterhält jene zarten
menschlichen Beziehungen zu seinen Geschöpfen, die einem Buche erst die rechte
poetische Weihe, die rechte, aus dem Herzen fließende Wärme verleihen. Die
Geschichte, die er erzählt, strömt einen merkwürdig feinen Duft aus. Kultur
ist darin, und seelischer Takt und starkes dichterisches Miterleben. Und wenn
auch, im letzten Grunde, das Großstadtproblem für Berate hier ebensowenig
ausschlaggebend ist wie in seinem früheren klugen, warmen und persönlichen
Buche von den "Eheleuten" (bei S. Fischer, Berlin), so ist doch genug Klang
und genug Lokalkolorit darin, um das Auftauchen dieser Romane in einer
Untersuchung wie der vorliegenden zu rechtfertigen.

In das unterirdische Berlin mit allen seinen erschreckenden Zusammenhängen
leuchtet Hans Hyans Buch: "Die Verführten" (Pan-Verlag). Auch hier hat
eine starke künstlerische Gestaltungskraft sich aus dem buntschillernden Getriebe
der Weltstadt den Ausschnitt gesucht, den sie am gründlichsten kennt und zu dem
ihre Begabung sie treibt. Das Beste an diesem Buche ist die unbeirrbare
Wahrheitsliebe und die ästhetische Unerschrockenheit, von der es beseelt ist. Da
werden den Dingen keine rosafarbenen Mäntelchen vorgeführt. Da spricht das
Leben seine kalte, grausame, unzweideutige Sprache. Und da schlägt ein aus
den Kaschemmen und Schlupfwinkeln des nördlichen Berlin kommender dumpfer
Ton mit bedrohlicher Deutlichkeit an das Ohr des gedankenlosen Philisters.

Felix P. Greve pinselt in dem Roman von "Fanny Eßler" (bei Axel
Juncker, Stuttgart) die dunklen Wege eines Mädchenschicksals in eine Berliner
Umgebung. Auch dies Buch wird von einer tiefen ästhetischen Unerbittlichkeit
getragen. Auch hier fallen unheimlich grelle Lichter in verstohlene Winkel der
Großstadt. Nur möchte man dem Roman hier und da eine stärkere künstlerische
Disziplin, eine straffere Linienführung wünschen.

Eine anspruchslose, aber eben deshalb sehr sympathische Illustration zu
dem Berlin um das Jahr 1830 gibt Felix Holländer in seinem autobiographischen
Roman: "Unser Haus" (bei Erich Reiß, Berlin). Die künstlerische Bedeutung
dieses Buches liegt im Persönlichen, in der starken inneren Leuchtkraft, die es
durchströmt. Aber nebenher, wie unbeabsichtigt, ersteht dann auch das klar-
umrissene Bild einer eben in Berlin seßhaft gewordenen Bürgerfamilie. Aus
dem Persönlichen schält sich das Typische, und wenn man das Buch aus der
Hand legt, sieht man im Geiste ein paar menschliche Silhouetten, die mit dem
Bilde des immer noch werdenden Berlin organisch zusammenhängen.


Der Berliner Roman

einwenden könnte, wäre der Vorwurf, daß Georg Hermann seiner artistischen
Laune etwas über Gebühr die Zügel schießen läßt, daß sein ewig ironisches
Lächeln auf die Dauer ermüdet, und daß er in seinem Verhältnis zu den
Geschöpfen der eigenen Phantasie nicht mehr die richtige dichterische Liebe
aufbringt.

Bei Martin Berate, der in seinem Buche „Das Kind" (bei S. Fischer,
Berlin) ein armseliges ostpreußisches Dienstmädchen zur Romanheldin macht,
findet sich diese dichterische Liebe auf jeder Seite. Berate unterhält jene zarten
menschlichen Beziehungen zu seinen Geschöpfen, die einem Buche erst die rechte
poetische Weihe, die rechte, aus dem Herzen fließende Wärme verleihen. Die
Geschichte, die er erzählt, strömt einen merkwürdig feinen Duft aus. Kultur
ist darin, und seelischer Takt und starkes dichterisches Miterleben. Und wenn
auch, im letzten Grunde, das Großstadtproblem für Berate hier ebensowenig
ausschlaggebend ist wie in seinem früheren klugen, warmen und persönlichen
Buche von den „Eheleuten" (bei S. Fischer, Berlin), so ist doch genug Klang
und genug Lokalkolorit darin, um das Auftauchen dieser Romane in einer
Untersuchung wie der vorliegenden zu rechtfertigen.

In das unterirdische Berlin mit allen seinen erschreckenden Zusammenhängen
leuchtet Hans Hyans Buch: „Die Verführten" (Pan-Verlag). Auch hier hat
eine starke künstlerische Gestaltungskraft sich aus dem buntschillernden Getriebe
der Weltstadt den Ausschnitt gesucht, den sie am gründlichsten kennt und zu dem
ihre Begabung sie treibt. Das Beste an diesem Buche ist die unbeirrbare
Wahrheitsliebe und die ästhetische Unerschrockenheit, von der es beseelt ist. Da
werden den Dingen keine rosafarbenen Mäntelchen vorgeführt. Da spricht das
Leben seine kalte, grausame, unzweideutige Sprache. Und da schlägt ein aus
den Kaschemmen und Schlupfwinkeln des nördlichen Berlin kommender dumpfer
Ton mit bedrohlicher Deutlichkeit an das Ohr des gedankenlosen Philisters.

Felix P. Greve pinselt in dem Roman von „Fanny Eßler" (bei Axel
Juncker, Stuttgart) die dunklen Wege eines Mädchenschicksals in eine Berliner
Umgebung. Auch dies Buch wird von einer tiefen ästhetischen Unerbittlichkeit
getragen. Auch hier fallen unheimlich grelle Lichter in verstohlene Winkel der
Großstadt. Nur möchte man dem Roman hier und da eine stärkere künstlerische
Disziplin, eine straffere Linienführung wünschen.

Eine anspruchslose, aber eben deshalb sehr sympathische Illustration zu
dem Berlin um das Jahr 1830 gibt Felix Holländer in seinem autobiographischen
Roman: „Unser Haus" (bei Erich Reiß, Berlin). Die künstlerische Bedeutung
dieses Buches liegt im Persönlichen, in der starken inneren Leuchtkraft, die es
durchströmt. Aber nebenher, wie unbeabsichtigt, ersteht dann auch das klar-
umrissene Bild einer eben in Berlin seßhaft gewordenen Bürgerfamilie. Aus
dem Persönlichen schält sich das Typische, und wenn man das Buch aus der
Hand legt, sieht man im Geiste ein paar menschliche Silhouetten, die mit dem
Bilde des immer noch werdenden Berlin organisch zusammenhängen.


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[0534] Der Berliner Roman einwenden könnte, wäre der Vorwurf, daß Georg Hermann seiner artistischen Laune etwas über Gebühr die Zügel schießen läßt, daß sein ewig ironisches Lächeln auf die Dauer ermüdet, und daß er in seinem Verhältnis zu den Geschöpfen der eigenen Phantasie nicht mehr die richtige dichterische Liebe aufbringt. Bei Martin Berate, der in seinem Buche „Das Kind" (bei S. Fischer, Berlin) ein armseliges ostpreußisches Dienstmädchen zur Romanheldin macht, findet sich diese dichterische Liebe auf jeder Seite. Berate unterhält jene zarten menschlichen Beziehungen zu seinen Geschöpfen, die einem Buche erst die rechte poetische Weihe, die rechte, aus dem Herzen fließende Wärme verleihen. Die Geschichte, die er erzählt, strömt einen merkwürdig feinen Duft aus. Kultur ist darin, und seelischer Takt und starkes dichterisches Miterleben. Und wenn auch, im letzten Grunde, das Großstadtproblem für Berate hier ebensowenig ausschlaggebend ist wie in seinem früheren klugen, warmen und persönlichen Buche von den „Eheleuten" (bei S. Fischer, Berlin), so ist doch genug Klang und genug Lokalkolorit darin, um das Auftauchen dieser Romane in einer Untersuchung wie der vorliegenden zu rechtfertigen. In das unterirdische Berlin mit allen seinen erschreckenden Zusammenhängen leuchtet Hans Hyans Buch: „Die Verführten" (Pan-Verlag). Auch hier hat eine starke künstlerische Gestaltungskraft sich aus dem buntschillernden Getriebe der Weltstadt den Ausschnitt gesucht, den sie am gründlichsten kennt und zu dem ihre Begabung sie treibt. Das Beste an diesem Buche ist die unbeirrbare Wahrheitsliebe und die ästhetische Unerschrockenheit, von der es beseelt ist. Da werden den Dingen keine rosafarbenen Mäntelchen vorgeführt. Da spricht das Leben seine kalte, grausame, unzweideutige Sprache. Und da schlägt ein aus den Kaschemmen und Schlupfwinkeln des nördlichen Berlin kommender dumpfer Ton mit bedrohlicher Deutlichkeit an das Ohr des gedankenlosen Philisters. Felix P. Greve pinselt in dem Roman von „Fanny Eßler" (bei Axel Juncker, Stuttgart) die dunklen Wege eines Mädchenschicksals in eine Berliner Umgebung. Auch dies Buch wird von einer tiefen ästhetischen Unerbittlichkeit getragen. Auch hier fallen unheimlich grelle Lichter in verstohlene Winkel der Großstadt. Nur möchte man dem Roman hier und da eine stärkere künstlerische Disziplin, eine straffere Linienführung wünschen. Eine anspruchslose, aber eben deshalb sehr sympathische Illustration zu dem Berlin um das Jahr 1830 gibt Felix Holländer in seinem autobiographischen Roman: „Unser Haus" (bei Erich Reiß, Berlin). Die künstlerische Bedeutung dieses Buches liegt im Persönlichen, in der starken inneren Leuchtkraft, die es durchströmt. Aber nebenher, wie unbeabsichtigt, ersteht dann auch das klar- umrissene Bild einer eben in Berlin seßhaft gewordenen Bürgerfamilie. Aus dem Persönlichen schält sich das Typische, und wenn man das Buch aus der Hand legt, sieht man im Geiste ein paar menschliche Silhouetten, die mit dem Bilde des immer noch werdenden Berlin organisch zusammenhängen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/534>, abgerufen am 17.06.2024.