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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Musik

Leider muß gesagt werden, daß die Über¬
setzung nicht als gelungen betrachtet werden
kann. Manche Partien freilich lesen sich durch¬
aus glatt, ja sogar gut; aber dazwischen stören
immer wieder Wendungen aus der Alltags¬
sprache, die nicht in ein Buch gehören, oder
undeutsche Ausdrücke und Konstruktionen,
welche von zu enger Anlehnung an das Ori¬
ginal herrühren und hier und da sogar den
Sinn unklar lassen. Ich mache diese Be¬
merkungen nicht, um von der Lektüre des
Werkes abzuschrecken, sondern in dem Wunsche,
daß bei einer etwaigen neuen Auflage dem
doch sehr empfindlichen Übelstande abgeholfen
werden möge.

Wir haben in unserer Biographie eine
durchaus selbständige Arbeit vor uns. Natur¬
gemäß hat die Verfasserin die einschlägige
Literatur und für die 2. Auflage, die 1911
erschien und der Übersetzung zugrunde liegt
(die erste Auflage war 1905 herausgekommen),
auch die inzwischen veröffentlichten Bände des
Briefwechsels zwischen Brahms und seinen
Freunden benützt. Aber bei weitem das meiste
Material boten ihr die mit unermüdlicher
Ausdauer zusammengebrachten Mitteilungen

[Spaltenumbruch]

derjenigen, welche dem Meister nahegestanden
hatten. Zudem war sie selbst 1371 einige
Monate hindurch seine Schülerin gewesen und
hatte auch später noch mehrere freundliche
Begegnungen mit ihm gehabt. Ihre persön¬
lichen Erinnerungen sind in einem besonderen
Kapitel niedergelegt, das dem eigentlichen
Buche vorangeht. Das Wichtigste darin ist
das, was wir über Brahms als Klavierlehrer
erfahren, über seine Fähigkeit, technische Fehler
des Schülers zu beseitigen, über die große
Geduld, die er im Gegensatz zu den "reisten
schaffenden Künstlern besaß, über daS nie
erlahmende Interesse und den Ernst, mit dem
er bei der Sache war.

Wie in diesem Kapitel, so erfreut auch in
dem Werke selbst die warme, echte Verehrung
für die Persönlichkeit und die Kunst des
Meisters und der feine Takt, der es nicht
zu Überschwänglichkeiten oder Einseitigkeiten
kommen läßt. Obgleich von einer Frau her¬
rührend, ist die Biographie männlicher, ich
möchte sagen Brahmsscher gehalten als die¬
jenige Kalbecks. Vor allem tut es Wohl, daß
nicht, wie bei diesem, das Verhältnis von
Brahms zu Clara Schumann mit den Augen
des Romanschreibers angesehen wird. Auch
läßt die Verfasserin der abfälligen Kritik,
unter der Brahms bekanntlich lange Zeit zu
leiden hatte, volle Gerechtigkeit widerfahren,
indem sie immer wieder darauf hinweist, daß
es im Wesen jeder neuen und zugleich großen
Kunsterscheinung liege, zunächst nur von
wenigen Auserwählten verstanden zu werden.
So wird auch das Verhalten der neudeutschen
Schule zu Brahms ruhig und objektiv be¬
urteilt.

An Einzelheiten bringt die Verfasserin hie
und da etwas, das sich bei Kalbeck nicht
findet, so die Mitteilungen über die glück¬
lichen Monate, welche Brahms als Knabe
während mehrerer Sommer in dem Hamburg
nahegelegenen Städtchen Winsen bei der Fa¬
milie Giesemann verlebte. Der Tochter des
Hauses, Lischen, die zwei Jahre jünger war
als er, gab er Klavierunterricht und las mit
ihr u. a. Tiecks "Wundersame Geschichte von
der schönen Magelone", aus welcher er später
bekanntlich die Romanzen in Musik setzte.
Auch fügte es sich, daß er den Gesangverein
des Ortes zu leiten bekam, und für diesen

[Ende Spaltensatz]

Johannes Brahms von Florence May,
aus dem Englischen übersetzt von Ludmille
Kirschblium, zwei Teile in einem Bande, mit
zehn Abbildungen und zwei Faksimiles.
Leipzig, Breitkopf u, Härtel, 1911. XVI.
314 und 862 Seiten. Wenn die Darstellung
der Lebensgeschichte eines deutschen Meisters
aus einer fremden Sprache ins Deutsche über¬
setzt wird, so hat man vor allem nach der
Notwendigkeit oder doch Zweckmäßigkeit einer
solchen Übersetzung zu fragen. Im vorliegen¬
den Falle trat die deutsche Ausgabe zu einer
Zeit hervor, da bereits ein Landsmann des
Meisters eine grundlegende Biographie zum
größten Teil veröffentlicht hatte. Aber trotz
des Werkes von Max Kalbeck könnte und
sollte daS Buch von Florence May in Deutsch¬
land seinen Leserkreis finden; denn es ist nicht
eines jeden Sache, sich durch eine vielbändige
Biographie durchzuarbeiten, und Florence
May hält die glückliche Mitte zwischen der
Ausführlichkeit Kalbecks und der Knappheit
etwa der Darstellung H, Reimarus.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Musik

Leider muß gesagt werden, daß die Über¬
setzung nicht als gelungen betrachtet werden
kann. Manche Partien freilich lesen sich durch¬
aus glatt, ja sogar gut; aber dazwischen stören
immer wieder Wendungen aus der Alltags¬
sprache, die nicht in ein Buch gehören, oder
undeutsche Ausdrücke und Konstruktionen,
welche von zu enger Anlehnung an das Ori¬
ginal herrühren und hier und da sogar den
Sinn unklar lassen. Ich mache diese Be¬
merkungen nicht, um von der Lektüre des
Werkes abzuschrecken, sondern in dem Wunsche,
daß bei einer etwaigen neuen Auflage dem
doch sehr empfindlichen Übelstande abgeholfen
werden möge.

Wir haben in unserer Biographie eine
durchaus selbständige Arbeit vor uns. Natur¬
gemäß hat die Verfasserin die einschlägige
Literatur und für die 2. Auflage, die 1911
erschien und der Übersetzung zugrunde liegt
(die erste Auflage war 1905 herausgekommen),
auch die inzwischen veröffentlichten Bände des
Briefwechsels zwischen Brahms und seinen
Freunden benützt. Aber bei weitem das meiste
Material boten ihr die mit unermüdlicher
Ausdauer zusammengebrachten Mitteilungen

[Spaltenumbruch]

derjenigen, welche dem Meister nahegestanden
hatten. Zudem war sie selbst 1371 einige
Monate hindurch seine Schülerin gewesen und
hatte auch später noch mehrere freundliche
Begegnungen mit ihm gehabt. Ihre persön¬
lichen Erinnerungen sind in einem besonderen
Kapitel niedergelegt, das dem eigentlichen
Buche vorangeht. Das Wichtigste darin ist
das, was wir über Brahms als Klavierlehrer
erfahren, über seine Fähigkeit, technische Fehler
des Schülers zu beseitigen, über die große
Geduld, die er im Gegensatz zu den »reisten
schaffenden Künstlern besaß, über daS nie
erlahmende Interesse und den Ernst, mit dem
er bei der Sache war.

Wie in diesem Kapitel, so erfreut auch in
dem Werke selbst die warme, echte Verehrung
für die Persönlichkeit und die Kunst des
Meisters und der feine Takt, der es nicht
zu Überschwänglichkeiten oder Einseitigkeiten
kommen läßt. Obgleich von einer Frau her¬
rührend, ist die Biographie männlicher, ich
möchte sagen Brahmsscher gehalten als die¬
jenige Kalbecks. Vor allem tut es Wohl, daß
nicht, wie bei diesem, das Verhältnis von
Brahms zu Clara Schumann mit den Augen
des Romanschreibers angesehen wird. Auch
läßt die Verfasserin der abfälligen Kritik,
unter der Brahms bekanntlich lange Zeit zu
leiden hatte, volle Gerechtigkeit widerfahren,
indem sie immer wieder darauf hinweist, daß
es im Wesen jeder neuen und zugleich großen
Kunsterscheinung liege, zunächst nur von
wenigen Auserwählten verstanden zu werden.
So wird auch das Verhalten der neudeutschen
Schule zu Brahms ruhig und objektiv be¬
urteilt.

An Einzelheiten bringt die Verfasserin hie
und da etwas, das sich bei Kalbeck nicht
findet, so die Mitteilungen über die glück¬
lichen Monate, welche Brahms als Knabe
während mehrerer Sommer in dem Hamburg
nahegelegenen Städtchen Winsen bei der Fa¬
milie Giesemann verlebte. Der Tochter des
Hauses, Lischen, die zwei Jahre jünger war
als er, gab er Klavierunterricht und las mit
ihr u. a. Tiecks „Wundersame Geschichte von
der schönen Magelone", aus welcher er später
bekanntlich die Romanzen in Musik setzte.
Auch fügte es sich, daß er den Gesangverein
des Ortes zu leiten bekam, und für diesen

[Ende Spaltensatz]

Johannes Brahms von Florence May,
aus dem Englischen übersetzt von Ludmille
Kirschblium, zwei Teile in einem Bande, mit
zehn Abbildungen und zwei Faksimiles.
Leipzig, Breitkopf u, Härtel, 1911. XVI.
314 und 862 Seiten. Wenn die Darstellung
der Lebensgeschichte eines deutschen Meisters
aus einer fremden Sprache ins Deutsche über¬
setzt wird, so hat man vor allem nach der
Notwendigkeit oder doch Zweckmäßigkeit einer
solchen Übersetzung zu fragen. Im vorliegen¬
den Falle trat die deutsche Ausgabe zu einer
Zeit hervor, da bereits ein Landsmann des
Meisters eine grundlegende Biographie zum
größten Teil veröffentlicht hatte. Aber trotz
des Werkes von Max Kalbeck könnte und
sollte daS Buch von Florence May in Deutsch¬
land seinen Leserkreis finden; denn es ist nicht
eines jeden Sache, sich durch eine vielbändige
Biographie durchzuarbeiten, und Florence
May hält die glückliche Mitte zwischen der
Ausführlichkeit Kalbecks und der Knappheit
etwa der Darstellung H, Reimarus.


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[0208] Maßgebliches und Unmaßgebliches Musik Leider muß gesagt werden, daß die Über¬ setzung nicht als gelungen betrachtet werden kann. Manche Partien freilich lesen sich durch¬ aus glatt, ja sogar gut; aber dazwischen stören immer wieder Wendungen aus der Alltags¬ sprache, die nicht in ein Buch gehören, oder undeutsche Ausdrücke und Konstruktionen, welche von zu enger Anlehnung an das Ori¬ ginal herrühren und hier und da sogar den Sinn unklar lassen. Ich mache diese Be¬ merkungen nicht, um von der Lektüre des Werkes abzuschrecken, sondern in dem Wunsche, daß bei einer etwaigen neuen Auflage dem doch sehr empfindlichen Übelstande abgeholfen werden möge. Wir haben in unserer Biographie eine durchaus selbständige Arbeit vor uns. Natur¬ gemäß hat die Verfasserin die einschlägige Literatur und für die 2. Auflage, die 1911 erschien und der Übersetzung zugrunde liegt (die erste Auflage war 1905 herausgekommen), auch die inzwischen veröffentlichten Bände des Briefwechsels zwischen Brahms und seinen Freunden benützt. Aber bei weitem das meiste Material boten ihr die mit unermüdlicher Ausdauer zusammengebrachten Mitteilungen derjenigen, welche dem Meister nahegestanden hatten. Zudem war sie selbst 1371 einige Monate hindurch seine Schülerin gewesen und hatte auch später noch mehrere freundliche Begegnungen mit ihm gehabt. Ihre persön¬ lichen Erinnerungen sind in einem besonderen Kapitel niedergelegt, das dem eigentlichen Buche vorangeht. Das Wichtigste darin ist das, was wir über Brahms als Klavierlehrer erfahren, über seine Fähigkeit, technische Fehler des Schülers zu beseitigen, über die große Geduld, die er im Gegensatz zu den »reisten schaffenden Künstlern besaß, über daS nie erlahmende Interesse und den Ernst, mit dem er bei der Sache war. Wie in diesem Kapitel, so erfreut auch in dem Werke selbst die warme, echte Verehrung für die Persönlichkeit und die Kunst des Meisters und der feine Takt, der es nicht zu Überschwänglichkeiten oder Einseitigkeiten kommen läßt. Obgleich von einer Frau her¬ rührend, ist die Biographie männlicher, ich möchte sagen Brahmsscher gehalten als die¬ jenige Kalbecks. Vor allem tut es Wohl, daß nicht, wie bei diesem, das Verhältnis von Brahms zu Clara Schumann mit den Augen des Romanschreibers angesehen wird. Auch läßt die Verfasserin der abfälligen Kritik, unter der Brahms bekanntlich lange Zeit zu leiden hatte, volle Gerechtigkeit widerfahren, indem sie immer wieder darauf hinweist, daß es im Wesen jeder neuen und zugleich großen Kunsterscheinung liege, zunächst nur von wenigen Auserwählten verstanden zu werden. So wird auch das Verhalten der neudeutschen Schule zu Brahms ruhig und objektiv be¬ urteilt. An Einzelheiten bringt die Verfasserin hie und da etwas, das sich bei Kalbeck nicht findet, so die Mitteilungen über die glück¬ lichen Monate, welche Brahms als Knabe während mehrerer Sommer in dem Hamburg nahegelegenen Städtchen Winsen bei der Fa¬ milie Giesemann verlebte. Der Tochter des Hauses, Lischen, die zwei Jahre jünger war als er, gab er Klavierunterricht und las mit ihr u. a. Tiecks „Wundersame Geschichte von der schönen Magelone", aus welcher er später bekanntlich die Romanzen in Musik setzte. Auch fügte es sich, daß er den Gesangverein des Ortes zu leiten bekam, und für diesen Johannes Brahms von Florence May, aus dem Englischen übersetzt von Ludmille Kirschblium, zwei Teile in einem Bande, mit zehn Abbildungen und zwei Faksimiles. Leipzig, Breitkopf u, Härtel, 1911. XVI. 314 und 862 Seiten. Wenn die Darstellung der Lebensgeschichte eines deutschen Meisters aus einer fremden Sprache ins Deutsche über¬ setzt wird, so hat man vor allem nach der Notwendigkeit oder doch Zweckmäßigkeit einer solchen Übersetzung zu fragen. Im vorliegen¬ den Falle trat die deutsche Ausgabe zu einer Zeit hervor, da bereits ein Landsmann des Meisters eine grundlegende Biographie zum größten Teil veröffentlicht hatte. Aber trotz des Werkes von Max Kalbeck könnte und sollte daS Buch von Florence May in Deutsch¬ land seinen Leserkreis finden; denn es ist nicht eines jeden Sache, sich durch eine vielbändige Biographie durchzuarbeiten, und Florence May hält die glückliche Mitte zwischen der Ausführlichkeit Kalbecks und der Knappheit etwa der Darstellung H, Reimarus.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/208>, abgerufen am 26.05.2024.