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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

fertigte er seine ersten VolkSliedbearbei-
tungen an.

Über die Methode, deren sich Brahms'
Lehrer, Eduard Marxsen, beim Kompositions¬
unterricht bediente, macht unser Buch Wohl
zum erstenmal einige positive Angaben.
Wenn es richtig ist, daß er besonderen Wert
auf die mannigfaltigste Umbildung gegebener
Themen legte, so war sein Unterricht, ent¬
gegen der erst kürzlich von Jenner "erfochtenen
Meinung,, für Brahms offenbar doch nicht
bedeutungslos. Wenn der Meister sowohl
Jenner als auch Wendt gegenüber äußerte,
er habe bei Marxsen nichts gelernt, so war
das Wohl eine Übertreibung, die dem Ärger
darüber entsprang, daß er in der Tat noch
als Mann Lücken auszufüllen hatte. Diese
Lücken bestanden, wie sich aus seinen mit
Joachim betriebenen Studien ergibt und wie
die Verfasserin richtig hervorhebt, in dem
Mangel an Beherrschung des strengen Kontra¬
punktes, für welchen Marxsen kein Interesse
hatte.

Gegen die Darstellung von Brahms' Leben
ist die Betrachtung seiner Werke stark in den
Hintergrund gedrängt. Dieses Verfahren er¬
scheint hier durchaus berechtigt; denn Brahms'
Persönlichkeit mit ihrem Stolz und ihrer
Energie, mit ihrer Weichheit, Naivität und
Tiefe, eine Persönlichkeit, die zwar kleine
Schwächen, aber keinen Flecken hat, ist an
sich so anziehend, daß jedem Freund Brahms-
scher Musik schon ein Buch, das nur den
Menschen BrahmS lobendig werden ließe,
willkommen sein müßte. Die Besprechungen
der einzelnen Werke laufen auf einführende
Charakteristiken hinaus, wobei auch eine Ein¬
teilung des Brahmsschen Schaffens in ver¬
schiedene Perioden versucht wird. Im all¬
gemeinen kann man sich mit der Verfasserin
Wohl einverstanden erklären. Ich muß aber
mit aller Entschiedenheit dagegen protestieren,
daß sie die Klaviersonate in i-Moll, Opus 6,
zweimal, also offenbar mit gutem Bedacht,
als ein zwar großes, aber unreifes Werk
bezeichnet. Wenn sich auch Brahms' Empfin¬
dungsweise ganz naturgemäß mit der Zeit
änderte, so hat dock das leidenschaftliche
Schäumen und Drängen dieser Sonate an
sich volle Berechtigung, und nirgends ist etwas
Ungebändigtcs, ein Mangel der Formgebung,

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ein Zurückbleiben des Könnens hinter dem
Wollen zu bemerken. Die fälschlich soge¬
nannte historische Betrachtungsweise, der
Trieb, Rubriken zu bilden, verführt uns so
leicht, das Kunstwerk nicht mehr mit dem
rein künstlerischen Maßstab zu messen und es
daher falsch zu beurteilen. In Wahrheit darf
der Kunsthistoriker die Arbeit des Rubrizierens
nicht beginnen, bevor der künstlerisch gebildete
Ästhetiker in ihm gesprochen hat. Man mag
Brahms' erste Schaffenspcriode als seine
Sturm- und Drangzeit bezeichnen, aber nur,
wenn man dabei nicht an eine unreife Gärung,
sondern an bestimmt geartete Empfindungs¬
weisen denkt.

Seltsam ist es, daß die fünf Männerchöre,
Opus 41, zwar in dem Verzeichnis der ge¬
druckten Werke angeführt, aber in dem Buche
selbst mit keinem Worte erwähnt werden.
Daraus erklärt sich auch die unrichtige An¬
gabe, Brahms' Lied "Ich Schelk mein Horn
ins Jammertal" sei von Heuberger für
Männerchor gesetzt worden; vielmehr geschah
das durch Brahms selbst, und diese Bearbei¬
tung bildet die erste Nummer von Opus 41.
Auch sonst finden sich in dem Werke hie und
da kleine Versehen verstreut: das erste
deutsche Gesangbuch wurde nicht von Michael
Weisse, sondern bekanntlich von Luthers
Freund Walther 1524 herausgegeben; die
Wiener philharmonischen Konzerte wurden
nicht 1849, sondern 1843 durch Otto Nicolai
begründet; Serenade bedeutet Abendmusik
und hat nichts mit "heiterem Wetter" zu tun.
Andere Angaben erscheinen schon jetzt veraltet,
weil sie auf einer, bei einer Ausländerin
allerdings verzeihlichen Unkenntnis der deut¬
schen Verhältnisse beruhen. So wirkt es fast
komisch, Wenn man liest, das Violinkonzert
erobere sich allmählich die Gunst des Publi¬
kums, während es doch bei uns schon seit
Jahren zu den meistgespielten Konzerten ge¬
hört. Solche Dinge hätten aus der deutschen
Ausgabe entfernt werden sollen.

Sehr dankenswert sind dagegen die Daten
über die Einführung der Brahmsschen Musik
in England und Amerika, aus welchen man
ersieht, daß sie dort sehr früh Fuß faßte und
rasch bleibende Bedeutung gewann. Es ist
bezeichnend für die Wertschätzung, welche man
Brahms in Großbritannien entgegenbringt,

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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fertigte er seine ersten VolkSliedbearbei-
tungen an.

Über die Methode, deren sich Brahms'
Lehrer, Eduard Marxsen, beim Kompositions¬
unterricht bediente, macht unser Buch Wohl
zum erstenmal einige positive Angaben.
Wenn es richtig ist, daß er besonderen Wert
auf die mannigfaltigste Umbildung gegebener
Themen legte, so war sein Unterricht, ent¬
gegen der erst kürzlich von Jenner «erfochtenen
Meinung,, für Brahms offenbar doch nicht
bedeutungslos. Wenn der Meister sowohl
Jenner als auch Wendt gegenüber äußerte,
er habe bei Marxsen nichts gelernt, so war
das Wohl eine Übertreibung, die dem Ärger
darüber entsprang, daß er in der Tat noch
als Mann Lücken auszufüllen hatte. Diese
Lücken bestanden, wie sich aus seinen mit
Joachim betriebenen Studien ergibt und wie
die Verfasserin richtig hervorhebt, in dem
Mangel an Beherrschung des strengen Kontra¬
punktes, für welchen Marxsen kein Interesse
hatte.

Gegen die Darstellung von Brahms' Leben
ist die Betrachtung seiner Werke stark in den
Hintergrund gedrängt. Dieses Verfahren er¬
scheint hier durchaus berechtigt; denn Brahms'
Persönlichkeit mit ihrem Stolz und ihrer
Energie, mit ihrer Weichheit, Naivität und
Tiefe, eine Persönlichkeit, die zwar kleine
Schwächen, aber keinen Flecken hat, ist an
sich so anziehend, daß jedem Freund Brahms-
scher Musik schon ein Buch, das nur den
Menschen BrahmS lobendig werden ließe,
willkommen sein müßte. Die Besprechungen
der einzelnen Werke laufen auf einführende
Charakteristiken hinaus, wobei auch eine Ein¬
teilung des Brahmsschen Schaffens in ver¬
schiedene Perioden versucht wird. Im all¬
gemeinen kann man sich mit der Verfasserin
Wohl einverstanden erklären. Ich muß aber
mit aller Entschiedenheit dagegen protestieren,
daß sie die Klaviersonate in i-Moll, Opus 6,
zweimal, also offenbar mit gutem Bedacht,
als ein zwar großes, aber unreifes Werk
bezeichnet. Wenn sich auch Brahms' Empfin¬
dungsweise ganz naturgemäß mit der Zeit
änderte, so hat dock das leidenschaftliche
Schäumen und Drängen dieser Sonate an
sich volle Berechtigung, und nirgends ist etwas
Ungebändigtcs, ein Mangel der Formgebung,

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ein Zurückbleiben des Könnens hinter dem
Wollen zu bemerken. Die fälschlich soge¬
nannte historische Betrachtungsweise, der
Trieb, Rubriken zu bilden, verführt uns so
leicht, das Kunstwerk nicht mehr mit dem
rein künstlerischen Maßstab zu messen und es
daher falsch zu beurteilen. In Wahrheit darf
der Kunsthistoriker die Arbeit des Rubrizierens
nicht beginnen, bevor der künstlerisch gebildete
Ästhetiker in ihm gesprochen hat. Man mag
Brahms' erste Schaffenspcriode als seine
Sturm- und Drangzeit bezeichnen, aber nur,
wenn man dabei nicht an eine unreife Gärung,
sondern an bestimmt geartete Empfindungs¬
weisen denkt.

Seltsam ist es, daß die fünf Männerchöre,
Opus 41, zwar in dem Verzeichnis der ge¬
druckten Werke angeführt, aber in dem Buche
selbst mit keinem Worte erwähnt werden.
Daraus erklärt sich auch die unrichtige An¬
gabe, Brahms' Lied „Ich Schelk mein Horn
ins Jammertal" sei von Heuberger für
Männerchor gesetzt worden; vielmehr geschah
das durch Brahms selbst, und diese Bearbei¬
tung bildet die erste Nummer von Opus 41.
Auch sonst finden sich in dem Werke hie und
da kleine Versehen verstreut: das erste
deutsche Gesangbuch wurde nicht von Michael
Weisse, sondern bekanntlich von Luthers
Freund Walther 1524 herausgegeben; die
Wiener philharmonischen Konzerte wurden
nicht 1849, sondern 1843 durch Otto Nicolai
begründet; Serenade bedeutet Abendmusik
und hat nichts mit „heiterem Wetter" zu tun.
Andere Angaben erscheinen schon jetzt veraltet,
weil sie auf einer, bei einer Ausländerin
allerdings verzeihlichen Unkenntnis der deut¬
schen Verhältnisse beruhen. So wirkt es fast
komisch, Wenn man liest, das Violinkonzert
erobere sich allmählich die Gunst des Publi¬
kums, während es doch bei uns schon seit
Jahren zu den meistgespielten Konzerten ge¬
hört. Solche Dinge hätten aus der deutschen
Ausgabe entfernt werden sollen.

Sehr dankenswert sind dagegen die Daten
über die Einführung der Brahmsschen Musik
in England und Amerika, aus welchen man
ersieht, daß sie dort sehr früh Fuß faßte und
rasch bleibende Bedeutung gewann. Es ist
bezeichnend für die Wertschätzung, welche man
Brahms in Großbritannien entgegenbringt,

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[0209] Maßgebliches und Unmaßgebliches fertigte er seine ersten VolkSliedbearbei- tungen an. Über die Methode, deren sich Brahms' Lehrer, Eduard Marxsen, beim Kompositions¬ unterricht bediente, macht unser Buch Wohl zum erstenmal einige positive Angaben. Wenn es richtig ist, daß er besonderen Wert auf die mannigfaltigste Umbildung gegebener Themen legte, so war sein Unterricht, ent¬ gegen der erst kürzlich von Jenner «erfochtenen Meinung,, für Brahms offenbar doch nicht bedeutungslos. Wenn der Meister sowohl Jenner als auch Wendt gegenüber äußerte, er habe bei Marxsen nichts gelernt, so war das Wohl eine Übertreibung, die dem Ärger darüber entsprang, daß er in der Tat noch als Mann Lücken auszufüllen hatte. Diese Lücken bestanden, wie sich aus seinen mit Joachim betriebenen Studien ergibt und wie die Verfasserin richtig hervorhebt, in dem Mangel an Beherrschung des strengen Kontra¬ punktes, für welchen Marxsen kein Interesse hatte. Gegen die Darstellung von Brahms' Leben ist die Betrachtung seiner Werke stark in den Hintergrund gedrängt. Dieses Verfahren er¬ scheint hier durchaus berechtigt; denn Brahms' Persönlichkeit mit ihrem Stolz und ihrer Energie, mit ihrer Weichheit, Naivität und Tiefe, eine Persönlichkeit, die zwar kleine Schwächen, aber keinen Flecken hat, ist an sich so anziehend, daß jedem Freund Brahms- scher Musik schon ein Buch, das nur den Menschen BrahmS lobendig werden ließe, willkommen sein müßte. Die Besprechungen der einzelnen Werke laufen auf einführende Charakteristiken hinaus, wobei auch eine Ein¬ teilung des Brahmsschen Schaffens in ver¬ schiedene Perioden versucht wird. Im all¬ gemeinen kann man sich mit der Verfasserin Wohl einverstanden erklären. Ich muß aber mit aller Entschiedenheit dagegen protestieren, daß sie die Klaviersonate in i-Moll, Opus 6, zweimal, also offenbar mit gutem Bedacht, als ein zwar großes, aber unreifes Werk bezeichnet. Wenn sich auch Brahms' Empfin¬ dungsweise ganz naturgemäß mit der Zeit änderte, so hat dock das leidenschaftliche Schäumen und Drängen dieser Sonate an sich volle Berechtigung, und nirgends ist etwas Ungebändigtcs, ein Mangel der Formgebung, ein Zurückbleiben des Könnens hinter dem Wollen zu bemerken. Die fälschlich soge¬ nannte historische Betrachtungsweise, der Trieb, Rubriken zu bilden, verführt uns so leicht, das Kunstwerk nicht mehr mit dem rein künstlerischen Maßstab zu messen und es daher falsch zu beurteilen. In Wahrheit darf der Kunsthistoriker die Arbeit des Rubrizierens nicht beginnen, bevor der künstlerisch gebildete Ästhetiker in ihm gesprochen hat. Man mag Brahms' erste Schaffenspcriode als seine Sturm- und Drangzeit bezeichnen, aber nur, wenn man dabei nicht an eine unreife Gärung, sondern an bestimmt geartete Empfindungs¬ weisen denkt. Seltsam ist es, daß die fünf Männerchöre, Opus 41, zwar in dem Verzeichnis der ge¬ druckten Werke angeführt, aber in dem Buche selbst mit keinem Worte erwähnt werden. Daraus erklärt sich auch die unrichtige An¬ gabe, Brahms' Lied „Ich Schelk mein Horn ins Jammertal" sei von Heuberger für Männerchor gesetzt worden; vielmehr geschah das durch Brahms selbst, und diese Bearbei¬ tung bildet die erste Nummer von Opus 41. Auch sonst finden sich in dem Werke hie und da kleine Versehen verstreut: das erste deutsche Gesangbuch wurde nicht von Michael Weisse, sondern bekanntlich von Luthers Freund Walther 1524 herausgegeben; die Wiener philharmonischen Konzerte wurden nicht 1849, sondern 1843 durch Otto Nicolai begründet; Serenade bedeutet Abendmusik und hat nichts mit „heiterem Wetter" zu tun. Andere Angaben erscheinen schon jetzt veraltet, weil sie auf einer, bei einer Ausländerin allerdings verzeihlichen Unkenntnis der deut¬ schen Verhältnisse beruhen. So wirkt es fast komisch, Wenn man liest, das Violinkonzert erobere sich allmählich die Gunst des Publi¬ kums, während es doch bei uns schon seit Jahren zu den meistgespielten Konzerten ge¬ hört. Solche Dinge hätten aus der deutschen Ausgabe entfernt werden sollen. Sehr dankenswert sind dagegen die Daten über die Einführung der Brahmsschen Musik in England und Amerika, aus welchen man ersieht, daß sie dort sehr früh Fuß faßte und rasch bleibende Bedeutung gewann. Es ist bezeichnend für die Wertschätzung, welche man Brahms in Großbritannien entgegenbringt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/209>, abgerufen am 17.06.2024.