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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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widerspricht kraß den Hoffnungen und Verheißungen -- und nur der Zulauf
und der materielle Erfolg übertrifft alle Erwartungen, was man ebensogut zu¬
gunsten wie zum Schaden der Kinodramatik auslegen mag.

Unter solchen Umständen lohnt es sich, die künstlerischen Möglichkeiten des
Films einmal rein theoretisch abzuwägen. Denn wenn auch die Veredelung
dieser Dramatik von allen Seiten gefordert wird, so hat doch wohl bisher
niemand eine Ahnung, auf welche Weise Aufstieg und Läuterung eigentlich vor
sich gehen sollen. Versuchen wir also, noch vor dem klassischen Kinodrama, eine
Kinodramaturgie.

Zufällig las ich jüngst ein primitives Wortdrama aus dem Anfang des
siebzehnten Jahrhunderts, das bekannte Endinger Judenspiel. Da werden, ohne
jeden Versuch einer Komposition, die Szenen einfach aneinander gereiht: wie
die Juden das Verbrechen beschließen, wie sie es ausführen, wie man Verdacht
schöpft, wie man verhört, entdeckt, und wie die Übeltäter bestraft werden. Der
ganze. Vorgang in allen Einzelheiten wird einfach gezeigt, und das Interesse
des Zuschauers ist nur darauf gerichtet zu sehen; vor ihren Augen soll sich
alles abspielen, und der Phantasie soll nichts zu ergänzen übrig bleiben. AIs
ich dieses alte Spiel las, fiel mir auf: das ist genau die Technik und genau
das Niveau des Kinostückes von heute. Und in der Tat wird nicht nur das
Kino durch jene primitive Dramatik erläutert, sondern wir können umgekehrt
aus den Filmstücken auf den Ursprung des Theaters schließen. Das Drama
ist offenbar entstanden aus der Lust des naiven Menschen zu schauen; es ist
dasselbe Vergnügen, das sich die Leute bereiten, wenn sie aus dem Fenster
gucken oder wenn sie behaglich bei einem Straßenauflauf stehen bleiben. Es
soll etwas vorgehen, und zwar mit allen Einzelheiten; das Volk ist wie die
Kinder, die auch nicht gestatten, daß irgend etwas ihrer Phantasie über¬
lassen wird.

Wie ist nun aus jener primitiven Technik des Theaters Kunst geworden?
Das ist freilich eine schwierige Doktorfrage, über die man Bände schreiben
könnte. Wir wollen das hier nicht tun, sondern uns mit der einfachen Fest¬
stellung begnügen: durch Stilisierung, d. h. dadurch, daß man die Ausdrucks¬
möglichkeiten der Bühne, entsprechend der technischen Eigenart dieses Instrumentes
entwickelte und verfeinerte und sich dadurch von der bloßen Wiedergabe eines
Vorganges mehr und mehr entfernte. Dies ist, wie bekannt, in allen Künsten
der Weg zur 'Kunst. Beim Theater bedeutet es aber folgendes: sein
Hauptinstrument ist der Mensch selber, der handelnde, insbesondere der redende
Mensch. Das Menschliche am Menschen aber ist uns nicht seine Körperlichkeit,
sondern sein seelisches. Also ging die Entwicklung der dramatischen Kunst
dahin, daß die äußeren Geschehnisse unwichtig wurden und nur als Mittel
dienten, um seelische Erlebnisse, und diese wieder, um Charaktere darzustellen.
Die Ereignisse wurden nicht mehr lückenlos gegeben, wie sie in Wirklichkeit
vorkommen, sondern es wurde eine ganz unrealistische Auswahl getroffen, so zwar,


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widerspricht kraß den Hoffnungen und Verheißungen — und nur der Zulauf
und der materielle Erfolg übertrifft alle Erwartungen, was man ebensogut zu¬
gunsten wie zum Schaden der Kinodramatik auslegen mag.

Unter solchen Umständen lohnt es sich, die künstlerischen Möglichkeiten des
Films einmal rein theoretisch abzuwägen. Denn wenn auch die Veredelung
dieser Dramatik von allen Seiten gefordert wird, so hat doch wohl bisher
niemand eine Ahnung, auf welche Weise Aufstieg und Läuterung eigentlich vor
sich gehen sollen. Versuchen wir also, noch vor dem klassischen Kinodrama, eine
Kinodramaturgie.

Zufällig las ich jüngst ein primitives Wortdrama aus dem Anfang des
siebzehnten Jahrhunderts, das bekannte Endinger Judenspiel. Da werden, ohne
jeden Versuch einer Komposition, die Szenen einfach aneinander gereiht: wie
die Juden das Verbrechen beschließen, wie sie es ausführen, wie man Verdacht
schöpft, wie man verhört, entdeckt, und wie die Übeltäter bestraft werden. Der
ganze. Vorgang in allen Einzelheiten wird einfach gezeigt, und das Interesse
des Zuschauers ist nur darauf gerichtet zu sehen; vor ihren Augen soll sich
alles abspielen, und der Phantasie soll nichts zu ergänzen übrig bleiben. AIs
ich dieses alte Spiel las, fiel mir auf: das ist genau die Technik und genau
das Niveau des Kinostückes von heute. Und in der Tat wird nicht nur das
Kino durch jene primitive Dramatik erläutert, sondern wir können umgekehrt
aus den Filmstücken auf den Ursprung des Theaters schließen. Das Drama
ist offenbar entstanden aus der Lust des naiven Menschen zu schauen; es ist
dasselbe Vergnügen, das sich die Leute bereiten, wenn sie aus dem Fenster
gucken oder wenn sie behaglich bei einem Straßenauflauf stehen bleiben. Es
soll etwas vorgehen, und zwar mit allen Einzelheiten; das Volk ist wie die
Kinder, die auch nicht gestatten, daß irgend etwas ihrer Phantasie über¬
lassen wird.

Wie ist nun aus jener primitiven Technik des Theaters Kunst geworden?
Das ist freilich eine schwierige Doktorfrage, über die man Bände schreiben
könnte. Wir wollen das hier nicht tun, sondern uns mit der einfachen Fest¬
stellung begnügen: durch Stilisierung, d. h. dadurch, daß man die Ausdrucks¬
möglichkeiten der Bühne, entsprechend der technischen Eigenart dieses Instrumentes
entwickelte und verfeinerte und sich dadurch von der bloßen Wiedergabe eines
Vorganges mehr und mehr entfernte. Dies ist, wie bekannt, in allen Künsten
der Weg zur 'Kunst. Beim Theater bedeutet es aber folgendes: sein
Hauptinstrument ist der Mensch selber, der handelnde, insbesondere der redende
Mensch. Das Menschliche am Menschen aber ist uns nicht seine Körperlichkeit,
sondern sein seelisches. Also ging die Entwicklung der dramatischen Kunst
dahin, daß die äußeren Geschehnisse unwichtig wurden und nur als Mittel
dienten, um seelische Erlebnisse, und diese wieder, um Charaktere darzustellen.
Die Ereignisse wurden nicht mehr lückenlos gegeben, wie sie in Wirklichkeit
vorkommen, sondern es wurde eine ganz unrealistische Auswahl getroffen, so zwar,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/139>, abgerufen am 20.05.2024.