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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Kleist ein Klassiker?

so sieht man leicht ein, wie die Begeisterung für Kleist so groß werden konnte,
daß man ihn heute schlechtweg als den größten Dramatiker nach Shakespeare
preist, ihn über Schiller stellt und ihn als Klassiker feiert, mit einem Titel
also, der hier nicht lediglich, wie etwa neuerdings bei Gutzkow, eine Buch¬
händlerspekulation bedeutet, sondern einen Oualitätsgrad, wie man meint den
höchsten, ausdrücken soll.

Damit dürfte die Kleist-Bewegung den Höhepunkt erreicht haben und
scheinbar besteht kein Grund, sich über dieses Resultat aufzuregen. Denn es
vermag ja niemand die Qualität Kleistischer Poesie wegzuleugnen, und was in
der Bewegung vorderhand übers Ziel hinausschießt, dürfte sich mit der Zeit
wieder von selbst korrigieren. Aber so einfach liegt die Sache doch nicht. Denn
mit der Bezeichnung Kleists als Klassiker erhebt sich die Forderung, daß auch
die Schule sich des Dichters mehr annimmt als bisher, und da der Lehrstoff
schon sowieso viel zu reichlich bemessen ist, muß dies notwendig auf Kosten der
bisher allgemein behandelten Schullektüre geschehen, also wie die Dinge liegen,
hauptsächlich auf Kosten Schillers. Und eben dies gibt zu Bedenken Anlaß.
Die Schule darf nicht experimentieren und einmal begangene Systemfehler
pflegen sich für Jahrzehnte und damit für eine ganze Generation zu rächen.
Ehe man Schiller gegen Kleist in weitgehendem Maße eintauscht, bedarf es
genauester und kühlster Überlegung.

Man kann darüber streiten, ob in der Schule überhaupt Klassiker gelesen
werden sollen, ob nicht vielmehr die allermeisten Werke unserer Klassiker, selbst
mit Erklärung des Lehrers, viel zu schwer für die heranwachsende Jugend sind,
und ob statt dessen nicht lieber volkstümliche Sagen, Erzählungen und einfache
Gedichte behandelt werden sollten. Entscheidet man sich aber für Klassiker, so
tue man es nicht einfach, weil es Klassiker sind, sondern weil man ihnen einen
ganz bestimmten, bei der Behandlung herauszuarbeitenden Bildungsgehalt, zu¬
erkannt hat.

Welche Dichter wollen oder können wir nun in diesem Sinne klassisch
nennen? Es gilt zunächst, das Vorurteil abzuweisen, als ob klassisch soviel wie
außerordentlich gut bedeute. Die Franzosen, die in diesen Dingen häufig sehr
viel klarer sehen als wir, stellen ihre neueren Dichter außerordentlich hoch und
es hat nicht an solchen gefehlt, die Victor Hugo oder Verlaine höher stellten
als Corneille und Racine, dennoch wäre es ihnen nie eingefallen, jene als
Klassiker zu bezeichnen. Die Schätzung dichterischer Qualität wechselt bekanntlich,
das Klassische aber ist ein von diesem Wechsel völlig unabhängiger Begriff.
Man mag für die dichterischen Qualitäten des Sophokles z. B. kein Organ
haben, und doch wird man nie seine Bedeutung als Klassiker wegleugnen
wollen, denn klassisch bedeutet eben nicht sehr gut oder das beste, sondern es
hat einen viel umfassenderen Sinn.

Betrachten wir nämlich die Stellung der Klassiker in der Literatur der Zeit,
so machen wir die noch lange nicht genugsam bekannte Beobachtung, daß sie


Kleist ein Klassiker?

so sieht man leicht ein, wie die Begeisterung für Kleist so groß werden konnte,
daß man ihn heute schlechtweg als den größten Dramatiker nach Shakespeare
preist, ihn über Schiller stellt und ihn als Klassiker feiert, mit einem Titel
also, der hier nicht lediglich, wie etwa neuerdings bei Gutzkow, eine Buch¬
händlerspekulation bedeutet, sondern einen Oualitätsgrad, wie man meint den
höchsten, ausdrücken soll.

Damit dürfte die Kleist-Bewegung den Höhepunkt erreicht haben und
scheinbar besteht kein Grund, sich über dieses Resultat aufzuregen. Denn es
vermag ja niemand die Qualität Kleistischer Poesie wegzuleugnen, und was in
der Bewegung vorderhand übers Ziel hinausschießt, dürfte sich mit der Zeit
wieder von selbst korrigieren. Aber so einfach liegt die Sache doch nicht. Denn
mit der Bezeichnung Kleists als Klassiker erhebt sich die Forderung, daß auch
die Schule sich des Dichters mehr annimmt als bisher, und da der Lehrstoff
schon sowieso viel zu reichlich bemessen ist, muß dies notwendig auf Kosten der
bisher allgemein behandelten Schullektüre geschehen, also wie die Dinge liegen,
hauptsächlich auf Kosten Schillers. Und eben dies gibt zu Bedenken Anlaß.
Die Schule darf nicht experimentieren und einmal begangene Systemfehler
pflegen sich für Jahrzehnte und damit für eine ganze Generation zu rächen.
Ehe man Schiller gegen Kleist in weitgehendem Maße eintauscht, bedarf es
genauester und kühlster Überlegung.

Man kann darüber streiten, ob in der Schule überhaupt Klassiker gelesen
werden sollen, ob nicht vielmehr die allermeisten Werke unserer Klassiker, selbst
mit Erklärung des Lehrers, viel zu schwer für die heranwachsende Jugend sind,
und ob statt dessen nicht lieber volkstümliche Sagen, Erzählungen und einfache
Gedichte behandelt werden sollten. Entscheidet man sich aber für Klassiker, so
tue man es nicht einfach, weil es Klassiker sind, sondern weil man ihnen einen
ganz bestimmten, bei der Behandlung herauszuarbeitenden Bildungsgehalt, zu¬
erkannt hat.

Welche Dichter wollen oder können wir nun in diesem Sinne klassisch
nennen? Es gilt zunächst, das Vorurteil abzuweisen, als ob klassisch soviel wie
außerordentlich gut bedeute. Die Franzosen, die in diesen Dingen häufig sehr
viel klarer sehen als wir, stellen ihre neueren Dichter außerordentlich hoch und
es hat nicht an solchen gefehlt, die Victor Hugo oder Verlaine höher stellten
als Corneille und Racine, dennoch wäre es ihnen nie eingefallen, jene als
Klassiker zu bezeichnen. Die Schätzung dichterischer Qualität wechselt bekanntlich,
das Klassische aber ist ein von diesem Wechsel völlig unabhängiger Begriff.
Man mag für die dichterischen Qualitäten des Sophokles z. B. kein Organ
haben, und doch wird man nie seine Bedeutung als Klassiker wegleugnen
wollen, denn klassisch bedeutet eben nicht sehr gut oder das beste, sondern es
hat einen viel umfassenderen Sinn.

Betrachten wir nämlich die Stellung der Klassiker in der Literatur der Zeit,
so machen wir die noch lange nicht genugsam bekannte Beobachtung, daß sie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/129>, abgerufen am 12.05.2024.