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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Kleist ein Klassiker?

nicht etwa vereinzelt wie erratische Blöcke dastehen, sondern daß sie Gipfelpunkte
enggeschlossener Entwicklungsreihen bilden, daß sie bestimmten Entwicklungs¬
tendenzen die letzte abschließende Form geben. Damit hängt zusammen, daß
sie nicht so sehr Erfinder wie Ausgestalter sind, eine Tatsache, die wir auch in
anderen Künsten, man denke an Raffael, wiederfinden. Was hat Shakespeare
erfunden? Alle seine Stoffe waren bereits vorhanden, zum großen Teil sogar
schon dramatisch bearbeitet.

Der Klassiker also erfindet nicht, er gestaltet zu einer allgemeinen über¬
zeugenden Form. Dazu gehört, daß seine Stoffe Allgemeingut sind, zum mindesten
des Kreises, der sein unmittelbares Publikum bildet. Dann erst, wenn der Stoff
allgemein bekannt ist, vermag die formale Gestaltung eindringlich zu überzeugen.
Tatsächlich finden wir dies bei allen Klassikern bestätigt. Die Stoffe der alt¬
griechischen Tragiker waren jedem einzelnen Zuschauer von Kindheit an vertraut,
die künstlerische Formgebung im höchsten Sinne war hier alles. Homer und
Nibelungenlied stehen als Abschluß einer reichen Sagenentwicklung da.
Shakespeare erbt den riesigen Märchen- und Novellenschatz der Renaissance,
Corneille, Racine und Molisre hängen aufs allerengste mit der Theaterentwick¬
lung der jüngst vorhergegangenen Periode zusammen, insbesondere beiMoliöre
gibt es ja kaum ein Motiv, für welches die literarhistorische Forschung nicht
ein Vorbild gefunden hätte. Das gleiche gilt für Schillers "Räuber" und
"Kabale und Liebe" und die Ideen Posas, um nur diese wenigen Beispiele
anzuführen, waren seit mehr als dreißig Jahren bekannt. Bei Goethe machen
wir die interessante Beobachtung, daß die dramatischen Stoffe, die er schlechtweg
erfunden hatte, wie "Elpenor" oder "Die natürliche Tochter", liegen bleiben
oder wie "Stella" nur einen notdürftigen Abschluß fanden, während Goethes
sonstige Erfindungen solange in ihm bewahrt blieben, bis er sie aus jahrzehnte¬
langer Vertrautheit heraus gestalten konnte wie überkommene Mythen. Ein
Beispiel bietet der zweimal in langen Abständen ausgeführte "Wilhelm Meister" ;
von anderen Werken wie "Faust", den "Wahlverwandtschaften" und der Novelle
wissen wir, daß Goethe sie lange vor der endgültigen Niederschrift fertig mit
sich herumtrug.

Mit der Wahl der allgemein bekannten Stoffe, mit ihrer abschließenden
allgemeingültigen Fassung hängt dann der allgemeine Erfolg zusammen. Es
gibt keinen Klassiker, der bei seinem Auftreten nicht gebührende Beachtung
gefunden hätte. Von den Griechen zu schweigen, waren Shakespeares und
Molieres Werke Zugstücke, wie es in unserer so gar nicht klassischen Zeit nur
noch Operetten sind, Cervantes "Don Quixote", Goethes "Götz" und "Werther",
Schillers "Räuber" schlugen ein wie sechs ein heutiger Sensationsschreiber nicht
besser wünschen kann und wenn die Verfasser nicht alle den gewünschten
klingenden Erfolg davontrugen, so lag das nur daran, daß ihnen die zu jedem
materiellen Verdienste nötigen Fähigkeiten abgingen, nicht aber daran, daß man
die betreffenden Werke nicht zu schätzen gewußt hätte.


Kleist ein Klassiker?

nicht etwa vereinzelt wie erratische Blöcke dastehen, sondern daß sie Gipfelpunkte
enggeschlossener Entwicklungsreihen bilden, daß sie bestimmten Entwicklungs¬
tendenzen die letzte abschließende Form geben. Damit hängt zusammen, daß
sie nicht so sehr Erfinder wie Ausgestalter sind, eine Tatsache, die wir auch in
anderen Künsten, man denke an Raffael, wiederfinden. Was hat Shakespeare
erfunden? Alle seine Stoffe waren bereits vorhanden, zum großen Teil sogar
schon dramatisch bearbeitet.

Der Klassiker also erfindet nicht, er gestaltet zu einer allgemeinen über¬
zeugenden Form. Dazu gehört, daß seine Stoffe Allgemeingut sind, zum mindesten
des Kreises, der sein unmittelbares Publikum bildet. Dann erst, wenn der Stoff
allgemein bekannt ist, vermag die formale Gestaltung eindringlich zu überzeugen.
Tatsächlich finden wir dies bei allen Klassikern bestätigt. Die Stoffe der alt¬
griechischen Tragiker waren jedem einzelnen Zuschauer von Kindheit an vertraut,
die künstlerische Formgebung im höchsten Sinne war hier alles. Homer und
Nibelungenlied stehen als Abschluß einer reichen Sagenentwicklung da.
Shakespeare erbt den riesigen Märchen- und Novellenschatz der Renaissance,
Corneille, Racine und Molisre hängen aufs allerengste mit der Theaterentwick¬
lung der jüngst vorhergegangenen Periode zusammen, insbesondere beiMoliöre
gibt es ja kaum ein Motiv, für welches die literarhistorische Forschung nicht
ein Vorbild gefunden hätte. Das gleiche gilt für Schillers „Räuber" und
„Kabale und Liebe" und die Ideen Posas, um nur diese wenigen Beispiele
anzuführen, waren seit mehr als dreißig Jahren bekannt. Bei Goethe machen
wir die interessante Beobachtung, daß die dramatischen Stoffe, die er schlechtweg
erfunden hatte, wie „Elpenor" oder „Die natürliche Tochter", liegen bleiben
oder wie „Stella" nur einen notdürftigen Abschluß fanden, während Goethes
sonstige Erfindungen solange in ihm bewahrt blieben, bis er sie aus jahrzehnte¬
langer Vertrautheit heraus gestalten konnte wie überkommene Mythen. Ein
Beispiel bietet der zweimal in langen Abständen ausgeführte „Wilhelm Meister" ;
von anderen Werken wie „Faust", den „Wahlverwandtschaften" und der Novelle
wissen wir, daß Goethe sie lange vor der endgültigen Niederschrift fertig mit
sich herumtrug.

Mit der Wahl der allgemein bekannten Stoffe, mit ihrer abschließenden
allgemeingültigen Fassung hängt dann der allgemeine Erfolg zusammen. Es
gibt keinen Klassiker, der bei seinem Auftreten nicht gebührende Beachtung
gefunden hätte. Von den Griechen zu schweigen, waren Shakespeares und
Molieres Werke Zugstücke, wie es in unserer so gar nicht klassischen Zeit nur
noch Operetten sind, Cervantes „Don Quixote", Goethes „Götz" und „Werther",
Schillers „Räuber" schlugen ein wie sechs ein heutiger Sensationsschreiber nicht
besser wünschen kann und wenn die Verfasser nicht alle den gewünschten
klingenden Erfolg davontrugen, so lag das nur daran, daß ihnen die zu jedem
materiellen Verdienste nötigen Fähigkeiten abgingen, nicht aber daran, daß man
die betreffenden Werke nicht zu schätzen gewußt hätte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/130>, abgerufen am 06.06.2024.