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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Ländliche Sozialpolitik in England

können wir bereits jetzt die Grundzüge der beabsichtigten ländlichen Wohlfahrts¬
pflege klar erkennen. Der Bericht gibt uns nicht allein ein plastisches Bild der
stillstehenden und noch öfter rückschrittlichen Entwicklung des ländlichen Englands,
sondern ist vor allem deshalb auch in Deutschland interessant, weil sich trotz
aller Verschiedenheit der englischen und der deutschen landwirtschaftlichen Be¬
dingungen doch wohl Vergleichspunkte finden lassen und weil uns die weit¬
gehenden englischen Reformvorschläge -- natürlich mutati8 mutandi8 -- eine
Fülle wertvoller Anregungen für den Ausbau unserer eigenen Landpolitik bieten.

Der Ermittlungsausschuß, der jetzt mit seinem Bericht an die Öffentlichkeit
tritt, hatte sich vor geraumer Zeit auf Veranlassung Lloyd Georges, des größten
sozialen Organisators Englands, aus "Freunden der Regierung", wie es in
dem Gründungsprotokoll heißt, gebildet. Zumeist waren es sozialpolitisch
rührige, liberale Parlamentsmitglieder, wie E. G. Hemmerde, B. Seeboden
Rowntree und Baron de Forest, die sich unter dem Vorsitz des bekannten Politikers
A. H. Dyke Acland zusammengefunden hatten. Vorweggenommen sei, daß
Baron de Forest eigene Wege wandelt und in einem dem Komiteebericht bei¬
gegebenen besonderen Memorandum einen Plan zum Zwangsaufkauf und zur
Nationalisierung des gesamten Grund und Bodens ausgearbeitet hat. Diese
Extreme und prinzipielle Forderung, die eine Umwälzung der bestehenden Ge¬
sellschaftsordnung bedeuten würde, wird von den übrigen Komiteemitgliedern
nicht geteilt. Der Komiteebericht -- und mit ihm die englische Regierung --
geht darauf aus, nicht den Bestand des individuellen Landeigentums umzu¬
werfen, sondern lediglich seine Auswüchse festzustellen und zu beseitigen.

Die zunehmende Verelendung der ländlichen Bevölkerungsklassen Englands
wird letzten Grundes auf das drückende wirtschaftliche Übergewicht der Land¬
barone zurückgeführt. So schließt Dr. Slate den "historischen Umriß", der dem
Bericht vorausgeschickt ist, mit dem Satz: "Bislang ist wenig getan worden, um
die Wirkungen wettzumachen, die eine zweihundertjährige Herrschaft der land-
sässigen britischen Arrstrokratie auf das landwirtschaftliche System Englands und
insbesondere auf den wirklichen Bebauer des Landes ausgeübt hat." Hier setzt
die Landreform ein mit ihrem Bestreben, dem Staate wieder eine unabhängige
und aufstrebende ländliche Bevölkerung zu schaffen. Die Aufgabe ist nach den
Worten des Komiteevorsitzenden Mr. Acland gleichzeitig eine soziale und eine
nationale. Das soziale Ziel geht vornehmlich dahin, das dörfliche Leben zu
sanieren, die Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen der ländlichen Klassen
auf ein höheres Niveau zu bringen. Daneben spielt eine gleich wichtige Rolle
das volkswirtschaftliche Moment, daß eine dauernde Gesundung nur dann zu
erwarten steht, wenn die Landwirtschaft gleichzeitig wieder einen gewinn-
abwerfenden Beruf darstellt. An dieser Stelle sei bemerkt, daß die Regierung
natürlich weder die im Jahre 1846 außer Kraft gesetzten Getreidezölle, die
sogenannten "Corn Laws", wieder einführen noch irgendwelche andere Abgaben
auf Nahrungsmittel (5vo(Z Wxe3) erheben wird. Jede derartige Schutzmaß"


Ländliche Sozialpolitik in England

können wir bereits jetzt die Grundzüge der beabsichtigten ländlichen Wohlfahrts¬
pflege klar erkennen. Der Bericht gibt uns nicht allein ein plastisches Bild der
stillstehenden und noch öfter rückschrittlichen Entwicklung des ländlichen Englands,
sondern ist vor allem deshalb auch in Deutschland interessant, weil sich trotz
aller Verschiedenheit der englischen und der deutschen landwirtschaftlichen Be¬
dingungen doch wohl Vergleichspunkte finden lassen und weil uns die weit¬
gehenden englischen Reformvorschläge — natürlich mutati8 mutandi8 — eine
Fülle wertvoller Anregungen für den Ausbau unserer eigenen Landpolitik bieten.

Der Ermittlungsausschuß, der jetzt mit seinem Bericht an die Öffentlichkeit
tritt, hatte sich vor geraumer Zeit auf Veranlassung Lloyd Georges, des größten
sozialen Organisators Englands, aus „Freunden der Regierung", wie es in
dem Gründungsprotokoll heißt, gebildet. Zumeist waren es sozialpolitisch
rührige, liberale Parlamentsmitglieder, wie E. G. Hemmerde, B. Seeboden
Rowntree und Baron de Forest, die sich unter dem Vorsitz des bekannten Politikers
A. H. Dyke Acland zusammengefunden hatten. Vorweggenommen sei, daß
Baron de Forest eigene Wege wandelt und in einem dem Komiteebericht bei¬
gegebenen besonderen Memorandum einen Plan zum Zwangsaufkauf und zur
Nationalisierung des gesamten Grund und Bodens ausgearbeitet hat. Diese
Extreme und prinzipielle Forderung, die eine Umwälzung der bestehenden Ge¬
sellschaftsordnung bedeuten würde, wird von den übrigen Komiteemitgliedern
nicht geteilt. Der Komiteebericht — und mit ihm die englische Regierung —
geht darauf aus, nicht den Bestand des individuellen Landeigentums umzu¬
werfen, sondern lediglich seine Auswüchse festzustellen und zu beseitigen.

Die zunehmende Verelendung der ländlichen Bevölkerungsklassen Englands
wird letzten Grundes auf das drückende wirtschaftliche Übergewicht der Land¬
barone zurückgeführt. So schließt Dr. Slate den „historischen Umriß", der dem
Bericht vorausgeschickt ist, mit dem Satz: „Bislang ist wenig getan worden, um
die Wirkungen wettzumachen, die eine zweihundertjährige Herrschaft der land-
sässigen britischen Arrstrokratie auf das landwirtschaftliche System Englands und
insbesondere auf den wirklichen Bebauer des Landes ausgeübt hat." Hier setzt
die Landreform ein mit ihrem Bestreben, dem Staate wieder eine unabhängige
und aufstrebende ländliche Bevölkerung zu schaffen. Die Aufgabe ist nach den
Worten des Komiteevorsitzenden Mr. Acland gleichzeitig eine soziale und eine
nationale. Das soziale Ziel geht vornehmlich dahin, das dörfliche Leben zu
sanieren, die Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen der ländlichen Klassen
auf ein höheres Niveau zu bringen. Daneben spielt eine gleich wichtige Rolle
das volkswirtschaftliche Moment, daß eine dauernde Gesundung nur dann zu
erwarten steht, wenn die Landwirtschaft gleichzeitig wieder einen gewinn-
abwerfenden Beruf darstellt. An dieser Stelle sei bemerkt, daß die Regierung
natürlich weder die im Jahre 1846 außer Kraft gesetzten Getreidezölle, die
sogenannten „Corn Laws", wieder einführen noch irgendwelche andere Abgaben
auf Nahrungsmittel (5vo(Z Wxe3) erheben wird. Jede derartige Schutzmaß"


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[0210] Ländliche Sozialpolitik in England können wir bereits jetzt die Grundzüge der beabsichtigten ländlichen Wohlfahrts¬ pflege klar erkennen. Der Bericht gibt uns nicht allein ein plastisches Bild der stillstehenden und noch öfter rückschrittlichen Entwicklung des ländlichen Englands, sondern ist vor allem deshalb auch in Deutschland interessant, weil sich trotz aller Verschiedenheit der englischen und der deutschen landwirtschaftlichen Be¬ dingungen doch wohl Vergleichspunkte finden lassen und weil uns die weit¬ gehenden englischen Reformvorschläge — natürlich mutati8 mutandi8 — eine Fülle wertvoller Anregungen für den Ausbau unserer eigenen Landpolitik bieten. Der Ermittlungsausschuß, der jetzt mit seinem Bericht an die Öffentlichkeit tritt, hatte sich vor geraumer Zeit auf Veranlassung Lloyd Georges, des größten sozialen Organisators Englands, aus „Freunden der Regierung", wie es in dem Gründungsprotokoll heißt, gebildet. Zumeist waren es sozialpolitisch rührige, liberale Parlamentsmitglieder, wie E. G. Hemmerde, B. Seeboden Rowntree und Baron de Forest, die sich unter dem Vorsitz des bekannten Politikers A. H. Dyke Acland zusammengefunden hatten. Vorweggenommen sei, daß Baron de Forest eigene Wege wandelt und in einem dem Komiteebericht bei¬ gegebenen besonderen Memorandum einen Plan zum Zwangsaufkauf und zur Nationalisierung des gesamten Grund und Bodens ausgearbeitet hat. Diese Extreme und prinzipielle Forderung, die eine Umwälzung der bestehenden Ge¬ sellschaftsordnung bedeuten würde, wird von den übrigen Komiteemitgliedern nicht geteilt. Der Komiteebericht — und mit ihm die englische Regierung — geht darauf aus, nicht den Bestand des individuellen Landeigentums umzu¬ werfen, sondern lediglich seine Auswüchse festzustellen und zu beseitigen. Die zunehmende Verelendung der ländlichen Bevölkerungsklassen Englands wird letzten Grundes auf das drückende wirtschaftliche Übergewicht der Land¬ barone zurückgeführt. So schließt Dr. Slate den „historischen Umriß", der dem Bericht vorausgeschickt ist, mit dem Satz: „Bislang ist wenig getan worden, um die Wirkungen wettzumachen, die eine zweihundertjährige Herrschaft der land- sässigen britischen Arrstrokratie auf das landwirtschaftliche System Englands und insbesondere auf den wirklichen Bebauer des Landes ausgeübt hat." Hier setzt die Landreform ein mit ihrem Bestreben, dem Staate wieder eine unabhängige und aufstrebende ländliche Bevölkerung zu schaffen. Die Aufgabe ist nach den Worten des Komiteevorsitzenden Mr. Acland gleichzeitig eine soziale und eine nationale. Das soziale Ziel geht vornehmlich dahin, das dörfliche Leben zu sanieren, die Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen der ländlichen Klassen auf ein höheres Niveau zu bringen. Daneben spielt eine gleich wichtige Rolle das volkswirtschaftliche Moment, daß eine dauernde Gesundung nur dann zu erwarten steht, wenn die Landwirtschaft gleichzeitig wieder einen gewinn- abwerfenden Beruf darstellt. An dieser Stelle sei bemerkt, daß die Regierung natürlich weder die im Jahre 1846 außer Kraft gesetzten Getreidezölle, die sogenannten „Corn Laws", wieder einführen noch irgendwelche andere Abgaben auf Nahrungsmittel (5vo(Z Wxe3) erheben wird. Jede derartige Schutzmaß"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/210>, abgerufen am 12.05.2024.