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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Ländliche Sozialpolitik in England

nähme, die der Landwirtschaft nur auf Kosten der Industriearbeiter zugute
kommen könnte, verbietet sich dem liberalen Ministerium von vornherein. Die
Regierung wird auf dem dreifachen Wege der bürgerlichen Gesetzgebung, der
Verwaltungsverordnung und der finanziellen Beihilfe ihre Landreform lebens¬
fähig zu machen suchen. (Also doch auch durch neue Steuern, die den Industrie¬
arbeiter nicht weniger drücken werden, wie ein eventueller Schutzzoll es tun
würde! G. Cl.)

Am brennendsten ist für die breiten Schichten der ländlichen Bevölkerung
Englands die Lohn- und die Wohnungsfrage. Mehr als 60 Prozent der
erwachsenen Landarbeiter erhalten noch keine 18 Mark Wochenlohn, allen Neben¬
verdienst miteingerechnet. Bei fast 30 000 Mann dieser Kategorie beträgt der
gesamte Wochenverdienst nicht einmal 16 Mark. Diesen statistischen Angaben
sind die eingehenden Ausweise des englischen Handelsamtes vom Jahre 1907
zugrunde gelegt. Wenn man die inzwischen eingetretene Verteuerung des not¬
wendigen Lebensunterhalts in Rechnung stellt, so hat sich der tatsächliche Ver¬
dienst des englischen Landarbeiters seither relativ noch verringert. Die Graf¬
schaften in England und Wales, in denen das Durchschnittseinkommen des
gewöhnlichen Landarbeiters dazu ausreicht, eine Familie in erträglichen Lebens¬
verhältnissen zu unterhalten, gehören zu den Ausnahmen.

Der Tiefstand des Lohnes ist zugleich die Wurzel des Wohnungselends
auf dem Lande, da der ländliche Arbeiter den Mietswert für eine angemessene
Wohnung in den meisten Fällen nicht aufzubringen vermag. Unter diesen Um¬
ständen hat gerade bei dem intelligenten, unabhängigen und energischen Teil
der Landarbeiter die Abwanderung nach den Städten und die Auswanderung
nach den Kolonien in verstärktem Maße eingesetzt. In dem letzten Jahre (1912)
fand jeder Fünfzigste der männlichen Landbevölkerung die Aussichten in der
Heimat so unbefriedigend, daß er für immer außer Landes ging. Bei dem
zurückbleibenden Teil zeigt sich infolge der niedrigen Löhne der circuIuZ vitiosus,
daß die körperliche und geistige Entwicklung herabgedrückt wird und daß der
geringwertige Lebensstandard wiederum den Arbeiter hindert, eines höheren
Lohnes wert zu werden.

Dem Landarbeiter wird in 23 Prozent der 2292 Landgemeinden, auf die
sich die Ermittlungen des Ausschusses erstrecken, der Lohn nicht in barem Geld
ausgezahlt, sondern ein Teil ^des Verdienstes für freie Wohnung verrechnet.
Die Wohnung ist also an den Arbeitsvertrag gebunden (tieä LvttaZe). Diese
Abart der in der Nationalökonomie als Trucksystem berüchtigten Zahlungs¬
methode macht die wirtschaftliche Abhängigkeit des Landarbeiters in England
noch drückender, da die Kündigung des Dienstes die Wohnungskündigung in
sich schließt. Die Gesetze der Jahre 1907, 1908 und 1910 halten zwar die
unseren Provinziallandtagen ungefähr entsprechenden Grafschafts Verwaltungen
zum Landaufkauf zwecks Bildung kleiner Pachtgüter und pachtweiser Abgabe
von Landparzellen (8maII liolciin^ ana allotments act) an, lassen aber die


Ländliche Sozialpolitik in England

nähme, die der Landwirtschaft nur auf Kosten der Industriearbeiter zugute
kommen könnte, verbietet sich dem liberalen Ministerium von vornherein. Die
Regierung wird auf dem dreifachen Wege der bürgerlichen Gesetzgebung, der
Verwaltungsverordnung und der finanziellen Beihilfe ihre Landreform lebens¬
fähig zu machen suchen. (Also doch auch durch neue Steuern, die den Industrie¬
arbeiter nicht weniger drücken werden, wie ein eventueller Schutzzoll es tun
würde! G. Cl.)

Am brennendsten ist für die breiten Schichten der ländlichen Bevölkerung
Englands die Lohn- und die Wohnungsfrage. Mehr als 60 Prozent der
erwachsenen Landarbeiter erhalten noch keine 18 Mark Wochenlohn, allen Neben¬
verdienst miteingerechnet. Bei fast 30 000 Mann dieser Kategorie beträgt der
gesamte Wochenverdienst nicht einmal 16 Mark. Diesen statistischen Angaben
sind die eingehenden Ausweise des englischen Handelsamtes vom Jahre 1907
zugrunde gelegt. Wenn man die inzwischen eingetretene Verteuerung des not¬
wendigen Lebensunterhalts in Rechnung stellt, so hat sich der tatsächliche Ver¬
dienst des englischen Landarbeiters seither relativ noch verringert. Die Graf¬
schaften in England und Wales, in denen das Durchschnittseinkommen des
gewöhnlichen Landarbeiters dazu ausreicht, eine Familie in erträglichen Lebens¬
verhältnissen zu unterhalten, gehören zu den Ausnahmen.

Der Tiefstand des Lohnes ist zugleich die Wurzel des Wohnungselends
auf dem Lande, da der ländliche Arbeiter den Mietswert für eine angemessene
Wohnung in den meisten Fällen nicht aufzubringen vermag. Unter diesen Um¬
ständen hat gerade bei dem intelligenten, unabhängigen und energischen Teil
der Landarbeiter die Abwanderung nach den Städten und die Auswanderung
nach den Kolonien in verstärktem Maße eingesetzt. In dem letzten Jahre (1912)
fand jeder Fünfzigste der männlichen Landbevölkerung die Aussichten in der
Heimat so unbefriedigend, daß er für immer außer Landes ging. Bei dem
zurückbleibenden Teil zeigt sich infolge der niedrigen Löhne der circuIuZ vitiosus,
daß die körperliche und geistige Entwicklung herabgedrückt wird und daß der
geringwertige Lebensstandard wiederum den Arbeiter hindert, eines höheren
Lohnes wert zu werden.

Dem Landarbeiter wird in 23 Prozent der 2292 Landgemeinden, auf die
sich die Ermittlungen des Ausschusses erstrecken, der Lohn nicht in barem Geld
ausgezahlt, sondern ein Teil ^des Verdienstes für freie Wohnung verrechnet.
Die Wohnung ist also an den Arbeitsvertrag gebunden (tieä LvttaZe). Diese
Abart der in der Nationalökonomie als Trucksystem berüchtigten Zahlungs¬
methode macht die wirtschaftliche Abhängigkeit des Landarbeiters in England
noch drückender, da die Kündigung des Dienstes die Wohnungskündigung in
sich schließt. Die Gesetze der Jahre 1907, 1908 und 1910 halten zwar die
unseren Provinziallandtagen ungefähr entsprechenden Grafschafts Verwaltungen
zum Landaufkauf zwecks Bildung kleiner Pachtgüter und pachtweiser Abgabe
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[0211] Ländliche Sozialpolitik in England nähme, die der Landwirtschaft nur auf Kosten der Industriearbeiter zugute kommen könnte, verbietet sich dem liberalen Ministerium von vornherein. Die Regierung wird auf dem dreifachen Wege der bürgerlichen Gesetzgebung, der Verwaltungsverordnung und der finanziellen Beihilfe ihre Landreform lebens¬ fähig zu machen suchen. (Also doch auch durch neue Steuern, die den Industrie¬ arbeiter nicht weniger drücken werden, wie ein eventueller Schutzzoll es tun würde! G. Cl.) Am brennendsten ist für die breiten Schichten der ländlichen Bevölkerung Englands die Lohn- und die Wohnungsfrage. Mehr als 60 Prozent der erwachsenen Landarbeiter erhalten noch keine 18 Mark Wochenlohn, allen Neben¬ verdienst miteingerechnet. Bei fast 30 000 Mann dieser Kategorie beträgt der gesamte Wochenverdienst nicht einmal 16 Mark. Diesen statistischen Angaben sind die eingehenden Ausweise des englischen Handelsamtes vom Jahre 1907 zugrunde gelegt. Wenn man die inzwischen eingetretene Verteuerung des not¬ wendigen Lebensunterhalts in Rechnung stellt, so hat sich der tatsächliche Ver¬ dienst des englischen Landarbeiters seither relativ noch verringert. Die Graf¬ schaften in England und Wales, in denen das Durchschnittseinkommen des gewöhnlichen Landarbeiters dazu ausreicht, eine Familie in erträglichen Lebens¬ verhältnissen zu unterhalten, gehören zu den Ausnahmen. Der Tiefstand des Lohnes ist zugleich die Wurzel des Wohnungselends auf dem Lande, da der ländliche Arbeiter den Mietswert für eine angemessene Wohnung in den meisten Fällen nicht aufzubringen vermag. Unter diesen Um¬ ständen hat gerade bei dem intelligenten, unabhängigen und energischen Teil der Landarbeiter die Abwanderung nach den Städten und die Auswanderung nach den Kolonien in verstärktem Maße eingesetzt. In dem letzten Jahre (1912) fand jeder Fünfzigste der männlichen Landbevölkerung die Aussichten in der Heimat so unbefriedigend, daß er für immer außer Landes ging. Bei dem zurückbleibenden Teil zeigt sich infolge der niedrigen Löhne der circuIuZ vitiosus, daß die körperliche und geistige Entwicklung herabgedrückt wird und daß der geringwertige Lebensstandard wiederum den Arbeiter hindert, eines höheren Lohnes wert zu werden. Dem Landarbeiter wird in 23 Prozent der 2292 Landgemeinden, auf die sich die Ermittlungen des Ausschusses erstrecken, der Lohn nicht in barem Geld ausgezahlt, sondern ein Teil ^des Verdienstes für freie Wohnung verrechnet. Die Wohnung ist also an den Arbeitsvertrag gebunden (tieä LvttaZe). Diese Abart der in der Nationalökonomie als Trucksystem berüchtigten Zahlungs¬ methode macht die wirtschaftliche Abhängigkeit des Landarbeiters in England noch drückender, da die Kündigung des Dienstes die Wohnungskündigung in sich schließt. Die Gesetze der Jahre 1907, 1908 und 1910 halten zwar die unseren Provinziallandtagen ungefähr entsprechenden Grafschafts Verwaltungen zum Landaufkauf zwecks Bildung kleiner Pachtgüter und pachtweiser Abgabe von Landparzellen (8maII liolciin^ ana allotments act) an, lassen aber die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/211>, abgerufen am 23.05.2024.