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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Das Rechtsgefühl im Wandel der Zeiten

stein für die Möglichkeit einer Volluniversität in Posen abgeben, während die
Regierung es zunächst in der Hand behielte, der einen Fakultät die übrigen zuzu¬
gefellen oder nicht.

Die vorstehenden Betrachtungen sind nicht von der Absicht geleitet, für oder
gegen einen der drei genannten Pläne einzutreten. Vielmehr wollen sie nur
ein objektives Bild des Tatbestandes und der daran sich knüpfenden Möglich¬
keiten entwerfen. Aber die Überzeugung freilich ist nicht zurückzuweisen, daß
die Staatsregierung sich genötigt sehen wird, einen dieser Wege, oder doch einen
verwandten zu gehen, wenn die Königliche Akademie ihrem Zweck, das Deutsch¬
tum in Posen kraftvoll und entschieden zu fördern, entsprechen soll.




Das Rechtsgefühl im Wandel der Zeiten
Nach einem vortrag von Rechtsanwalt Dr. Bruno Marwitz

"
Utzis im vergangenen Jahre die "Titanic", einer jener modernen
Riesendampfer, die eine vollkommene Sicherheit gegen jede See-
l gefahr zu bieten scheinen, mit einem Eisberge zusammenstieß und
Hunderte von Menschen ihr Leben verloren, ging ein Entsetzen
durch die ganze Menschheit. Und noch jedesmal, wenn durch ein
Naturereignis -- sei es mit, sei es ohne Schuld einzelner -- eine Fülle
blühenden Lebens vernichtet wird, bemächtigt sich von neuem die gleiche Er¬
regung der ganzen Mitwelt. Und doch wissen wir, daß zu derselben Zeit, wo
durch ein solches Ereignis Hunderte von Menschen ums Leben kommen, zu der¬
selben Stunde andere Hunderte sterben, hungern, dürsten, frieren oder den
größten Qualen ausgesetzt sind; sie erregen kein Mitgefühl: an ihrem Tode,
an ihren Leiden gehen wir vorüber, ohne eine Rührung zu verspüren, als an
einem Naturnotwendigen, das unabänderlich ist. In erster Linie mag es das
Willkürliche derartiger Katastrophen sein, das die Gemüter geradezu zu einem
Proteste aufpeitscht, obschon einem jeden klar sein müßte, daß solche
Katastrophen unvermeidlich sind und daß sie mit einer gewissen Regelmäßigkeit
wiederkehren. Daneben weckt die Sensation, welche ein plötzlich eintretendes
Ereignis, wie der Untergang eines Schiffes, ein Erdbeben, eine Feuersbrunst,
eine Epidemie hervorruft, die in den Menschen schlummernde Sensationslust
und beschäftigt sie weit über dasjenige Maß hinaus, welches ihnen sonst für
ihr Interesse an dem Leben und den Geschicken anderer Personen zu Gebote


Das Rechtsgefühl im Wandel der Zeiten

stein für die Möglichkeit einer Volluniversität in Posen abgeben, während die
Regierung es zunächst in der Hand behielte, der einen Fakultät die übrigen zuzu¬
gefellen oder nicht.

Die vorstehenden Betrachtungen sind nicht von der Absicht geleitet, für oder
gegen einen der drei genannten Pläne einzutreten. Vielmehr wollen sie nur
ein objektives Bild des Tatbestandes und der daran sich knüpfenden Möglich¬
keiten entwerfen. Aber die Überzeugung freilich ist nicht zurückzuweisen, daß
die Staatsregierung sich genötigt sehen wird, einen dieser Wege, oder doch einen
verwandten zu gehen, wenn die Königliche Akademie ihrem Zweck, das Deutsch¬
tum in Posen kraftvoll und entschieden zu fördern, entsprechen soll.




Das Rechtsgefühl im Wandel der Zeiten
Nach einem vortrag von Rechtsanwalt Dr. Bruno Marwitz

«
Utzis im vergangenen Jahre die „Titanic", einer jener modernen
Riesendampfer, die eine vollkommene Sicherheit gegen jede See-
l gefahr zu bieten scheinen, mit einem Eisberge zusammenstieß und
Hunderte von Menschen ihr Leben verloren, ging ein Entsetzen
durch die ganze Menschheit. Und noch jedesmal, wenn durch ein
Naturereignis — sei es mit, sei es ohne Schuld einzelner — eine Fülle
blühenden Lebens vernichtet wird, bemächtigt sich von neuem die gleiche Er¬
regung der ganzen Mitwelt. Und doch wissen wir, daß zu derselben Zeit, wo
durch ein solches Ereignis Hunderte von Menschen ums Leben kommen, zu der¬
selben Stunde andere Hunderte sterben, hungern, dürsten, frieren oder den
größten Qualen ausgesetzt sind; sie erregen kein Mitgefühl: an ihrem Tode,
an ihren Leiden gehen wir vorüber, ohne eine Rührung zu verspüren, als an
einem Naturnotwendigen, das unabänderlich ist. In erster Linie mag es das
Willkürliche derartiger Katastrophen sein, das die Gemüter geradezu zu einem
Proteste aufpeitscht, obschon einem jeden klar sein müßte, daß solche
Katastrophen unvermeidlich sind und daß sie mit einer gewissen Regelmäßigkeit
wiederkehren. Daneben weckt die Sensation, welche ein plötzlich eintretendes
Ereignis, wie der Untergang eines Schiffes, ein Erdbeben, eine Feuersbrunst,
eine Epidemie hervorruft, die in den Menschen schlummernde Sensationslust
und beschäftigt sie weit über dasjenige Maß hinaus, welches ihnen sonst für
ihr Interesse an dem Leben und den Geschicken anderer Personen zu Gebote


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[0023] Das Rechtsgefühl im Wandel der Zeiten stein für die Möglichkeit einer Volluniversität in Posen abgeben, während die Regierung es zunächst in der Hand behielte, der einen Fakultät die übrigen zuzu¬ gefellen oder nicht. Die vorstehenden Betrachtungen sind nicht von der Absicht geleitet, für oder gegen einen der drei genannten Pläne einzutreten. Vielmehr wollen sie nur ein objektives Bild des Tatbestandes und der daran sich knüpfenden Möglich¬ keiten entwerfen. Aber die Überzeugung freilich ist nicht zurückzuweisen, daß die Staatsregierung sich genötigt sehen wird, einen dieser Wege, oder doch einen verwandten zu gehen, wenn die Königliche Akademie ihrem Zweck, das Deutsch¬ tum in Posen kraftvoll und entschieden zu fördern, entsprechen soll. Das Rechtsgefühl im Wandel der Zeiten Nach einem vortrag von Rechtsanwalt Dr. Bruno Marwitz « Utzis im vergangenen Jahre die „Titanic", einer jener modernen Riesendampfer, die eine vollkommene Sicherheit gegen jede See- l gefahr zu bieten scheinen, mit einem Eisberge zusammenstieß und Hunderte von Menschen ihr Leben verloren, ging ein Entsetzen durch die ganze Menschheit. Und noch jedesmal, wenn durch ein Naturereignis — sei es mit, sei es ohne Schuld einzelner — eine Fülle blühenden Lebens vernichtet wird, bemächtigt sich von neuem die gleiche Er¬ regung der ganzen Mitwelt. Und doch wissen wir, daß zu derselben Zeit, wo durch ein solches Ereignis Hunderte von Menschen ums Leben kommen, zu der¬ selben Stunde andere Hunderte sterben, hungern, dürsten, frieren oder den größten Qualen ausgesetzt sind; sie erregen kein Mitgefühl: an ihrem Tode, an ihren Leiden gehen wir vorüber, ohne eine Rührung zu verspüren, als an einem Naturnotwendigen, das unabänderlich ist. In erster Linie mag es das Willkürliche derartiger Katastrophen sein, das die Gemüter geradezu zu einem Proteste aufpeitscht, obschon einem jeden klar sein müßte, daß solche Katastrophen unvermeidlich sind und daß sie mit einer gewissen Regelmäßigkeit wiederkehren. Daneben weckt die Sensation, welche ein plötzlich eintretendes Ereignis, wie der Untergang eines Schiffes, ein Erdbeben, eine Feuersbrunst, eine Epidemie hervorruft, die in den Menschen schlummernde Sensationslust und beschäftigt sie weit über dasjenige Maß hinaus, welches ihnen sonst für ihr Interesse an dem Leben und den Geschicken anderer Personen zu Gebote

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/23>, abgerufen am 26.05.2024.