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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Das Rechtsgefühl im Wandel der Zeiten

fremd und ungerecht an; sie erschrecken uns durch ihre Wildheit, ihre Rücksichts¬
losigkeit gegen die Güter anderer Menschen; aber ein endgültiges Urteil über sie
können wir nicht abgeben, solange wir nicht wissen, unter welchen Verhältnissen
sie entstanden sind. Hinzuweisen ist auf die Bibel. Adam und Eva im Para¬
dies konnten vor dem Sündenfalle nicht zwischen gut und böse unterscheiden, sie
konnten also ein Rechtsgefühl nicht besitzen, das sich gerade auf diesen Unter¬
schied gründet. Wenn Adam von der verbotenen Frucht nicht essen wollte, so
tat er es nicht, weil er das Gefühl des Unrechts hatte, sondern lediglich, weil
es ihm verboten war, und weil er sich vor den Folgen der Übertretung des
Verbotes fürchtete. Aber auch für spätere Zeiten müssen Zweifel bestehen, ob
das Rechtsgefühl im Empfindungs- und Willensleben des Menschen den über¬
ragenden Platz einnimmt, den ihm La Fontaine zuweist. Wenn in einem so
hoch kultivierten Volke wie in dem Volke von Athen einem seiner besten Männer.
Aristides, der Beiname "Der Gerechte" gegeben wurde, so beweist dies, wie
selbst in einem hochstehenden Volke und in großen Zeiten die Gerechtigkeit nicht
als selbstverständliche Tugend eines hochstehenden Mannes angesehen wurde.
Wenn aber egoistische Motive wie Gewinnsucht, Liebe, Haß, Ehrgeiz, Neid der
Betätigung des Rechtsgefühls in so starkem Maße entgegenstehen, so muß es
fraglich werden, ob das Gerechtigkeitsgefühl im Menschen wirklich so sehr stark
ausgebildet sein kann. Es würde ein Fehlschluß sein zu meinen, daß das
Rechtsgefühl des einzelnen durch derartige egoistische Momente nur in seinen
Wirkungen gehemmt, in seinem Bestände aber nicht gefährdet wird. Wäre dem
so, so würde jeder Lump letzten Endes doch wissen und sich sagen müssen, daß
er ein Lump sei und würde sich lediglich vor sich selbst mit allerhand Beschöni¬
gungen entschuldigen müssen. Aber so viele Lumpen und Halunken es in der
Welt gibt, so wenige werden wie Richard der Dritte sagen wollen:


"Und darum, weil ich nicht als ein Verliebter
Kann kürzen diese feil beredten Tage,
Bin ich gewillt, ein Bösewicht zu werden,"

In den meisten dieser Menschen ist das Rechtsgefühl, wenigstens soweit
es ihre eigenen Interessen angeht, vollständig erstickt, und es bedarf großer, im
Leben der meisten nie eintretender Ereignisse, um es zu neuem Leben zu
erwecken.

Die Beobachtungen, die die einzelnen an ihren Mitmenschen machen, werden
stets voneinander abweichen. Die Stellung jedes einzelnen der moralischen Welt
gegenüber, seine Beobachtungsgabe, seine Fähigkeit, sich in die Motive des
anderen zu versetzen, die Verschiedenheit der Ereignisse, die an den einzelnen
herantreten, werden in jedem ein anderes Bild zeichnen. Nur die Geschichte
vermag Aufschluß darüber zu gewähren, wie das Rechtsgefühl Wirkung geübt,
ob und wie es sich entwickelt, wie es sich verschieden gestaltet hat.

Bei Shakespeare, vielleicht dem besten Kenner der Menschen, dem darum
auch ein tiefer Einblick in die Geschichte des Menschengeschlechtes offen stand.


Das Rechtsgefühl im Wandel der Zeiten

fremd und ungerecht an; sie erschrecken uns durch ihre Wildheit, ihre Rücksichts¬
losigkeit gegen die Güter anderer Menschen; aber ein endgültiges Urteil über sie
können wir nicht abgeben, solange wir nicht wissen, unter welchen Verhältnissen
sie entstanden sind. Hinzuweisen ist auf die Bibel. Adam und Eva im Para¬
dies konnten vor dem Sündenfalle nicht zwischen gut und böse unterscheiden, sie
konnten also ein Rechtsgefühl nicht besitzen, das sich gerade auf diesen Unter¬
schied gründet. Wenn Adam von der verbotenen Frucht nicht essen wollte, so
tat er es nicht, weil er das Gefühl des Unrechts hatte, sondern lediglich, weil
es ihm verboten war, und weil er sich vor den Folgen der Übertretung des
Verbotes fürchtete. Aber auch für spätere Zeiten müssen Zweifel bestehen, ob
das Rechtsgefühl im Empfindungs- und Willensleben des Menschen den über¬
ragenden Platz einnimmt, den ihm La Fontaine zuweist. Wenn in einem so
hoch kultivierten Volke wie in dem Volke von Athen einem seiner besten Männer.
Aristides, der Beiname „Der Gerechte" gegeben wurde, so beweist dies, wie
selbst in einem hochstehenden Volke und in großen Zeiten die Gerechtigkeit nicht
als selbstverständliche Tugend eines hochstehenden Mannes angesehen wurde.
Wenn aber egoistische Motive wie Gewinnsucht, Liebe, Haß, Ehrgeiz, Neid der
Betätigung des Rechtsgefühls in so starkem Maße entgegenstehen, so muß es
fraglich werden, ob das Gerechtigkeitsgefühl im Menschen wirklich so sehr stark
ausgebildet sein kann. Es würde ein Fehlschluß sein zu meinen, daß das
Rechtsgefühl des einzelnen durch derartige egoistische Momente nur in seinen
Wirkungen gehemmt, in seinem Bestände aber nicht gefährdet wird. Wäre dem
so, so würde jeder Lump letzten Endes doch wissen und sich sagen müssen, daß
er ein Lump sei und würde sich lediglich vor sich selbst mit allerhand Beschöni¬
gungen entschuldigen müssen. Aber so viele Lumpen und Halunken es in der
Welt gibt, so wenige werden wie Richard der Dritte sagen wollen:


„Und darum, weil ich nicht als ein Verliebter
Kann kürzen diese feil beredten Tage,
Bin ich gewillt, ein Bösewicht zu werden,"

In den meisten dieser Menschen ist das Rechtsgefühl, wenigstens soweit
es ihre eigenen Interessen angeht, vollständig erstickt, und es bedarf großer, im
Leben der meisten nie eintretender Ereignisse, um es zu neuem Leben zu
erwecken.

Die Beobachtungen, die die einzelnen an ihren Mitmenschen machen, werden
stets voneinander abweichen. Die Stellung jedes einzelnen der moralischen Welt
gegenüber, seine Beobachtungsgabe, seine Fähigkeit, sich in die Motive des
anderen zu versetzen, die Verschiedenheit der Ereignisse, die an den einzelnen
herantreten, werden in jedem ein anderes Bild zeichnen. Nur die Geschichte
vermag Aufschluß darüber zu gewähren, wie das Rechtsgefühl Wirkung geübt,
ob und wie es sich entwickelt, wie es sich verschieden gestaltet hat.

Bei Shakespeare, vielleicht dem besten Kenner der Menschen, dem darum
auch ein tiefer Einblick in die Geschichte des Menschengeschlechtes offen stand.


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[0026] Das Rechtsgefühl im Wandel der Zeiten fremd und ungerecht an; sie erschrecken uns durch ihre Wildheit, ihre Rücksichts¬ losigkeit gegen die Güter anderer Menschen; aber ein endgültiges Urteil über sie können wir nicht abgeben, solange wir nicht wissen, unter welchen Verhältnissen sie entstanden sind. Hinzuweisen ist auf die Bibel. Adam und Eva im Para¬ dies konnten vor dem Sündenfalle nicht zwischen gut und böse unterscheiden, sie konnten also ein Rechtsgefühl nicht besitzen, das sich gerade auf diesen Unter¬ schied gründet. Wenn Adam von der verbotenen Frucht nicht essen wollte, so tat er es nicht, weil er das Gefühl des Unrechts hatte, sondern lediglich, weil es ihm verboten war, und weil er sich vor den Folgen der Übertretung des Verbotes fürchtete. Aber auch für spätere Zeiten müssen Zweifel bestehen, ob das Rechtsgefühl im Empfindungs- und Willensleben des Menschen den über¬ ragenden Platz einnimmt, den ihm La Fontaine zuweist. Wenn in einem so hoch kultivierten Volke wie in dem Volke von Athen einem seiner besten Männer. Aristides, der Beiname „Der Gerechte" gegeben wurde, so beweist dies, wie selbst in einem hochstehenden Volke und in großen Zeiten die Gerechtigkeit nicht als selbstverständliche Tugend eines hochstehenden Mannes angesehen wurde. Wenn aber egoistische Motive wie Gewinnsucht, Liebe, Haß, Ehrgeiz, Neid der Betätigung des Rechtsgefühls in so starkem Maße entgegenstehen, so muß es fraglich werden, ob das Gerechtigkeitsgefühl im Menschen wirklich so sehr stark ausgebildet sein kann. Es würde ein Fehlschluß sein zu meinen, daß das Rechtsgefühl des einzelnen durch derartige egoistische Momente nur in seinen Wirkungen gehemmt, in seinem Bestände aber nicht gefährdet wird. Wäre dem so, so würde jeder Lump letzten Endes doch wissen und sich sagen müssen, daß er ein Lump sei und würde sich lediglich vor sich selbst mit allerhand Beschöni¬ gungen entschuldigen müssen. Aber so viele Lumpen und Halunken es in der Welt gibt, so wenige werden wie Richard der Dritte sagen wollen: „Und darum, weil ich nicht als ein Verliebter Kann kürzen diese feil beredten Tage, Bin ich gewillt, ein Bösewicht zu werden," In den meisten dieser Menschen ist das Rechtsgefühl, wenigstens soweit es ihre eigenen Interessen angeht, vollständig erstickt, und es bedarf großer, im Leben der meisten nie eintretender Ereignisse, um es zu neuem Leben zu erwecken. Die Beobachtungen, die die einzelnen an ihren Mitmenschen machen, werden stets voneinander abweichen. Die Stellung jedes einzelnen der moralischen Welt gegenüber, seine Beobachtungsgabe, seine Fähigkeit, sich in die Motive des anderen zu versetzen, die Verschiedenheit der Ereignisse, die an den einzelnen herantreten, werden in jedem ein anderes Bild zeichnen. Nur die Geschichte vermag Aufschluß darüber zu gewähren, wie das Rechtsgefühl Wirkung geübt, ob und wie es sich entwickelt, wie es sich verschieden gestaltet hat. Bei Shakespeare, vielleicht dem besten Kenner der Menschen, dem darum auch ein tiefer Einblick in die Geschichte des Menschengeschlechtes offen stand.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/26>, abgerufen am 26.05.2024.