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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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immer von uns ab. Gerechtigkeit ist das einzige, was uns gehört, was wir
in unserer Gewalt haben, was uns kein Zufall, keine Macht, ja selbst der Tod
mit dem Leben nicht rauben kann."

Und wenn La Fontaine somit die Achtung vor der Gerechtigkeit, das
Rechtsgefühl als auf das innigste verwachsen mit dem Menschen darstellt, so
hat Euripides aus der Gefühlswelt heraus die Gerechtigkeit in den Kreis ewig
sich gleichbleibender Gewalten gestellt:


"Was ewige Zeit als Recht geehrt,
Das hat Natur auch selber gegründet."

Die moderne Forschung hat uns über diesen Satz des Euripides nicht
wesentlich gefördert: wir können uns außer Geisteskranken keinen Menschen ohne
Rechtsgefühl vorstellen. Wir wissen, daß auch der schlimmste Verbrecher ein
Rechtsgefühl besitzt; wir wissen, daß auch der Dieb es als ein schweres Unrecht
betrachtet, wenn einer seiner Genossen ihn bei der Verteilung der Beute betrügt;
wir wissen, daß es Diebeszünfte gegeben hat und gibt, welche unter sich ein
strenges Ehrengesetz aufrecht erhalten, das zwar von dem unseligen abweicht,
aber doch beweist, daß auch unter ihnen das Gefühl eines Rechtes lebt und
mächtig ist.

In stärkstem Widerspruch hiermit sind Erscheinungen zu verzeichnen, welche
daran zweifeln lassen, ob dieses Rechtsgefühl dem Menschen wirklich so innig
angeboren ist. daß es mit ihm entstehen muß und erst mit ihm vergehen kann.
Das Kind scheint kein Rechtsgefühl zu haben, soweit nicht seine eigenen egoistischen
Interessen im Spiel sind. Das Kind empört sich gegen die ungerechte Strafe,
aber es macht sich kein Gewissen daraus, einen Schwächeren oder ein Tier zu
schlagen, zu quälen, zu peinigen. Das Kind will das Spielzeug haben und
achtet nicht auf das bessere Recht des anderen Kindes, nicht aus Unkenntnis des
Eigentumsbegriffs; denn wenn ihm sein Spielzeug genommen werden soll, sucht
es sich dagegen mit aller Gewalt zu verteidigen, auch wenn es des Spielzeuges
in dem Augenblicke nicht bedarf, wohl aber, weil das Gefühl, daß auch das
andere Kind ein Recht an seinem Spielzeug habe, seinen kindlichen Egoismus
nicht überwinden kann oder nicht überwinden will. Das Kind verlangt die Lieb¬
kosungen derjenigen, die es liebt, steht aber neidisch Liebkosungen gegenüber,
die ein anderes Kind empfängt. Auch im Kinde wirkt keimhaft das ihm an¬
geborene Rechtsgefühl, aber es ist in ihm so wenig entwickelt, als daß es ihm
entgegenstehende Instinkte besiegen könnte.

Was von der Kindheit des Menschen gilt, gilt vielfach auch von der Kind¬
heit des Menschengeschlechts. Und so erhebt sich die Frage, ob in der Kindheit
des Menschengeschlechts ein Rechtsgefühl ebensowenig entwickelt war. wie es im
einzelnen Kinde entwickelt ist. Man weiß zu wenig über das Leben, die Gebräuche,
die Sitten der Urmenschen, um hierüber etwas Bestimmtes sagen zu können.
Wo uns die ersten Aufzeichnungen des Rechts entgegentreten, unter sie uns


immer von uns ab. Gerechtigkeit ist das einzige, was uns gehört, was wir
in unserer Gewalt haben, was uns kein Zufall, keine Macht, ja selbst der Tod
mit dem Leben nicht rauben kann."

Und wenn La Fontaine somit die Achtung vor der Gerechtigkeit, das
Rechtsgefühl als auf das innigste verwachsen mit dem Menschen darstellt, so
hat Euripides aus der Gefühlswelt heraus die Gerechtigkeit in den Kreis ewig
sich gleichbleibender Gewalten gestellt:


„Was ewige Zeit als Recht geehrt,
Das hat Natur auch selber gegründet."

Die moderne Forschung hat uns über diesen Satz des Euripides nicht
wesentlich gefördert: wir können uns außer Geisteskranken keinen Menschen ohne
Rechtsgefühl vorstellen. Wir wissen, daß auch der schlimmste Verbrecher ein
Rechtsgefühl besitzt; wir wissen, daß auch der Dieb es als ein schweres Unrecht
betrachtet, wenn einer seiner Genossen ihn bei der Verteilung der Beute betrügt;
wir wissen, daß es Diebeszünfte gegeben hat und gibt, welche unter sich ein
strenges Ehrengesetz aufrecht erhalten, das zwar von dem unseligen abweicht,
aber doch beweist, daß auch unter ihnen das Gefühl eines Rechtes lebt und
mächtig ist.

In stärkstem Widerspruch hiermit sind Erscheinungen zu verzeichnen, welche
daran zweifeln lassen, ob dieses Rechtsgefühl dem Menschen wirklich so innig
angeboren ist. daß es mit ihm entstehen muß und erst mit ihm vergehen kann.
Das Kind scheint kein Rechtsgefühl zu haben, soweit nicht seine eigenen egoistischen
Interessen im Spiel sind. Das Kind empört sich gegen die ungerechte Strafe,
aber es macht sich kein Gewissen daraus, einen Schwächeren oder ein Tier zu
schlagen, zu quälen, zu peinigen. Das Kind will das Spielzeug haben und
achtet nicht auf das bessere Recht des anderen Kindes, nicht aus Unkenntnis des
Eigentumsbegriffs; denn wenn ihm sein Spielzeug genommen werden soll, sucht
es sich dagegen mit aller Gewalt zu verteidigen, auch wenn es des Spielzeuges
in dem Augenblicke nicht bedarf, wohl aber, weil das Gefühl, daß auch das
andere Kind ein Recht an seinem Spielzeug habe, seinen kindlichen Egoismus
nicht überwinden kann oder nicht überwinden will. Das Kind verlangt die Lieb¬
kosungen derjenigen, die es liebt, steht aber neidisch Liebkosungen gegenüber,
die ein anderes Kind empfängt. Auch im Kinde wirkt keimhaft das ihm an¬
geborene Rechtsgefühl, aber es ist in ihm so wenig entwickelt, als daß es ihm
entgegenstehende Instinkte besiegen könnte.

Was von der Kindheit des Menschen gilt, gilt vielfach auch von der Kind¬
heit des Menschengeschlechts. Und so erhebt sich die Frage, ob in der Kindheit
des Menschengeschlechts ein Rechtsgefühl ebensowenig entwickelt war. wie es im
einzelnen Kinde entwickelt ist. Man weiß zu wenig über das Leben, die Gebräuche,
die Sitten der Urmenschen, um hierüber etwas Bestimmtes sagen zu können.
Wo uns die ersten Aufzeichnungen des Rechts entgegentreten, unter sie uns


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/25>, abgerufen am 26.05.2024.