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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Das Rechtsgefühl im Wandel der Zeiten

schaftlichen Beziehungen und Wechselbeziehungen. In dieser Hinsicht bietet die
Gesetzgebung des Athemlöcher Staates ein interessantes Beispiel. In Athen
wurde zuviel Handel getrieben und die wirtschaftlichen Verhältnisse waren zu
kompliziert, als daß man auf die Nichtbezahlung von Schulden die Todesstrafe
hätte setzen können. Wohl aber galt die Todesstrafe noch für den Handels¬
schuldner, welcher die vereinbarten Pfänder dem Gläubiger nicht stellte. Auch
bei diesen verhältnismäßig komplizierten wirtschaftlichen Verhältnissen verlangte
man doch vom Schuldner, daß er sein Wort, bestimmte Sachen zum Pfande
zu übergeben, einlöse, weil er die Tragweite dieses Versprechens übersehen
mußte.

Es kam die Zeit, in der man den Bruch des gegebenen Wortes und das
Unrecht, das dem Gläubiger zugefügt wurde, nicht weniger schwer ansah als
früher, in der mau aber das Leben des einzelnen höher einzuschätzen begann.
Man nahm von der Todesstrafe Abstand, aber man griff zu den merkwürdigsten
Einrichtungen, um den Schuldner zur Bezahlung der Schulden zu zwingen.
So wurde in Ägypten die Leiche der Eltern des Schuldners als Pfand gegeben;
der Gläubiger konnte deren Bestattung verweigern, bis seine Forderung bezahlt
war -- ein Zwangsmittel von ungemeiner Stärke, denn den alten Ägyptern war
das Gebot der Bestattung der Angehörigen heilig. Nach deutschem Rechte
wurde der Schuldner selbst solange nicht ehrlich begraben, ehe seine Angehörigen
nicht seine Schulden bezahlt hatten, und noch der Kirchenvater Ambrosius spricht
von den Bestimmungen einzelner Stadtrechte, welche es ausdrücklich für nötig
halten, den Frieden der Leiche vor dieser furchtbaren Profanierung zu wahren.
Man schilt unsere Zeit vielfach als eine materialistische; wird aber das heutige
Vorgehen den Schuldnern gegenüber mit jenen Zeiten verglichen, so wird das
Urteil milder ausfallen müssen, die Verletzung ideeller Güter lediglich um
materieller Vorteile oder Nachteile willen erscheint wenigstens in der Kraßheit,
in der sie in den alten Zeiten hervortritt, geradezu unfaßbar.

Auch in Indien wurde die Nichtzahlung der Schulden als ein schweres
Verbrechen angesehen; die Aufrechterhaltung der Kaste aber war und ist in
Indien ein so unumstößliches Dogma, daß der der niedrigeren Kaste ungehörige
Gläubiger dem der höheren Kaste ungehörigen Schuldner nicht gut ein Übel
antun kann. Man ist daher auf einen sonderbaren moralischen Druck gekommen.
Der Gläubiger setzt sich vor die Tür des Hauses des Schuldners und fastet.
Der Schuldner muß, solange der Gläubiger vor dem Hause sitzt, darin verweilen
und muß gleichfalls fasten, und dies wird solange fortgesetzt, bis entweder der
Schuldner seine Schuld bezahlt oder der Gläubiger es vor Hunger nicht mehr
aushalten kann.

Und eine noch eigentümlichere Einrichtung, die sich auf die geringe
Achtung vor der Frau im Orient gründet, findet sich im Islamitischen Recht.
Dort kann der Schuldner dem Gläubiger das Recht einräumen, für den Fall,
daß er seine Schuld nicht bezahlt, seine -- des Schuldners -- Ehe zu trennen.


Das Rechtsgefühl im Wandel der Zeiten

schaftlichen Beziehungen und Wechselbeziehungen. In dieser Hinsicht bietet die
Gesetzgebung des Athemlöcher Staates ein interessantes Beispiel. In Athen
wurde zuviel Handel getrieben und die wirtschaftlichen Verhältnisse waren zu
kompliziert, als daß man auf die Nichtbezahlung von Schulden die Todesstrafe
hätte setzen können. Wohl aber galt die Todesstrafe noch für den Handels¬
schuldner, welcher die vereinbarten Pfänder dem Gläubiger nicht stellte. Auch
bei diesen verhältnismäßig komplizierten wirtschaftlichen Verhältnissen verlangte
man doch vom Schuldner, daß er sein Wort, bestimmte Sachen zum Pfande
zu übergeben, einlöse, weil er die Tragweite dieses Versprechens übersehen
mußte.

Es kam die Zeit, in der man den Bruch des gegebenen Wortes und das
Unrecht, das dem Gläubiger zugefügt wurde, nicht weniger schwer ansah als
früher, in der mau aber das Leben des einzelnen höher einzuschätzen begann.
Man nahm von der Todesstrafe Abstand, aber man griff zu den merkwürdigsten
Einrichtungen, um den Schuldner zur Bezahlung der Schulden zu zwingen.
So wurde in Ägypten die Leiche der Eltern des Schuldners als Pfand gegeben;
der Gläubiger konnte deren Bestattung verweigern, bis seine Forderung bezahlt
war — ein Zwangsmittel von ungemeiner Stärke, denn den alten Ägyptern war
das Gebot der Bestattung der Angehörigen heilig. Nach deutschem Rechte
wurde der Schuldner selbst solange nicht ehrlich begraben, ehe seine Angehörigen
nicht seine Schulden bezahlt hatten, und noch der Kirchenvater Ambrosius spricht
von den Bestimmungen einzelner Stadtrechte, welche es ausdrücklich für nötig
halten, den Frieden der Leiche vor dieser furchtbaren Profanierung zu wahren.
Man schilt unsere Zeit vielfach als eine materialistische; wird aber das heutige
Vorgehen den Schuldnern gegenüber mit jenen Zeiten verglichen, so wird das
Urteil milder ausfallen müssen, die Verletzung ideeller Güter lediglich um
materieller Vorteile oder Nachteile willen erscheint wenigstens in der Kraßheit,
in der sie in den alten Zeiten hervortritt, geradezu unfaßbar.

Auch in Indien wurde die Nichtzahlung der Schulden als ein schweres
Verbrechen angesehen; die Aufrechterhaltung der Kaste aber war und ist in
Indien ein so unumstößliches Dogma, daß der der niedrigeren Kaste ungehörige
Gläubiger dem der höheren Kaste ungehörigen Schuldner nicht gut ein Übel
antun kann. Man ist daher auf einen sonderbaren moralischen Druck gekommen.
Der Gläubiger setzt sich vor die Tür des Hauses des Schuldners und fastet.
Der Schuldner muß, solange der Gläubiger vor dem Hause sitzt, darin verweilen
und muß gleichfalls fasten, und dies wird solange fortgesetzt, bis entweder der
Schuldner seine Schuld bezahlt oder der Gläubiger es vor Hunger nicht mehr
aushalten kann.

Und eine noch eigentümlichere Einrichtung, die sich auf die geringe
Achtung vor der Frau im Orient gründet, findet sich im Islamitischen Recht.
Dort kann der Schuldner dem Gläubiger das Recht einräumen, für den Fall,
daß er seine Schuld nicht bezahlt, seine — des Schuldners — Ehe zu trennen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/30>, abgerufen am 19.05.2024.