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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Das Rechtsgefühl im Wandel der Zeiten

Diesen Grundsatz muß man mit den Auffassungen vergleichen, die durch
die katholische Kirche ausgebildet sind. Dort die Lösung der Ehe durch einen
Dritten, dessen Forderung nicht beglichen wird; hier die absolute Unlösbarkeit
der Ehe. Es handelt sich hier nicht um Gesetzgeber, die willkürlich diese oder
jene Institution begründen, es handelt sich vielmehr um tief eingewurzelte
Überzeugungen des Volkes selbst. Als vor einigen Jahren in Italien durch
ein Gesetz die Lösbarkeit der Ehe eingeführt werden sollte, entstanden in Süd¬
italien nicht unerhebliche Revolten, welche die Regierung zwangen, den Gesetz¬
entwurf zurückzuziehen. Aus alledem ergibt sich, daß der Wandel des Rechts¬
gefühls von wirtschaftlichen und religiösen Momenten abhängt, die an und für
sich mit dem Rechtsgefühl nichts zu schaffen haben. Die Hexenprozeße und
Ketzerverbrennungen hätten niemals eine so weite Ausdehnung erfahren können,
als sie ini ausgehenden Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit erfahren
haben, wenn nicht das religiöse Gefühl des Volkes dieses von dem Vorhanden¬
sein von Hexen und Zauberern überzeugt hätte, und wenn das Volk nicht über¬
zeugt gewesen wäre, daß es kein schlimmeres Verbrechen an der Menschheit
gäbe, als den Abfall vom rechten Glauben.

Die Gerechtigkeit verlangt, darauf hinzuweisen, daß die Hexenprozesse in
evangelischen Landen nicht weniger energisch betrieben worden sind als in
katholischen. Das religiöse Gefühl artete, wie zu der Zeit der Flagellanten, zu
einer Krankheit aus, welche auch das Gefühl des Volkes dem Rechte gegenüber
entscheidend beeinflußte. Und wenn wir an diesen Hexenprozessen schaudernd
erleben, wie ein krank gewordenes Rechtsgefühl das Leben und das Glück
Tausender zu vernichten vermag, so ergreift es uns noch tiefer, wenn wir uns
klar darüber werden, daß sogar bloße Zweckmäßigkeitsgründe das Rechtsgefühl
auf das stärkste beeinflußen können. Wenn heutzutage ein Mensch durch einen
anderen getötet wird, so machen wir bei der rechtlichen Beurteilung der Tat
die feinsten Unterscheidungen: Wer die Tat mit Vorsatz und Überlegung begeht,
wird als Mörder bestraft; begeht er sie mit Vorsatz, aber ohne Überlegung, so
ist er ein Totschläger; hat er den Getöteten nur verwunden, aber nicht töten wollen,
so spricht der Jurist von Körperverletzung mit tätlichem Ausgange; hat er ihn
ohne Vorsatz, aber infolge von Fahrlässigkeit verwundet, und ist der Verwundete
den Folgen der Verwundung erlegen, so nehmen wir fahrlässige Körperverletzung
an; hat nur ein unglücklicher Zufall die Körperverletzung und den Tod verursacht,
so ist der Verletzende strafrechtlich überhaupt nicht verantwortlich.

Diese Unterscheidungen entsprechen im wesentlichen dem heutigen Rechtgefühl.
Im Gegensatz dazu kennt das alte Recht und insbesondere das alte deutsche
Recht nur eine einzige Art der Tötung. Wer einen anderen getötet hatte, ver¬
fiel der Blutrache, gleichgültig, ob ein bösartiger Meuchelmord oder ob ein
bloßer unverschuldeter Zufall vorlag. Wir können uns nicht vorstellen, daß
auch in jenen Zeiten der Unterschied zwischen den verschiedenen Tatarten den
Deutschen nicht zum Bewußtsein gekommen sein sollte, der Schwierigkeit aber,


Das Rechtsgefühl im Wandel der Zeiten

Diesen Grundsatz muß man mit den Auffassungen vergleichen, die durch
die katholische Kirche ausgebildet sind. Dort die Lösung der Ehe durch einen
Dritten, dessen Forderung nicht beglichen wird; hier die absolute Unlösbarkeit
der Ehe. Es handelt sich hier nicht um Gesetzgeber, die willkürlich diese oder
jene Institution begründen, es handelt sich vielmehr um tief eingewurzelte
Überzeugungen des Volkes selbst. Als vor einigen Jahren in Italien durch
ein Gesetz die Lösbarkeit der Ehe eingeführt werden sollte, entstanden in Süd¬
italien nicht unerhebliche Revolten, welche die Regierung zwangen, den Gesetz¬
entwurf zurückzuziehen. Aus alledem ergibt sich, daß der Wandel des Rechts¬
gefühls von wirtschaftlichen und religiösen Momenten abhängt, die an und für
sich mit dem Rechtsgefühl nichts zu schaffen haben. Die Hexenprozeße und
Ketzerverbrennungen hätten niemals eine so weite Ausdehnung erfahren können,
als sie ini ausgehenden Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit erfahren
haben, wenn nicht das religiöse Gefühl des Volkes dieses von dem Vorhanden¬
sein von Hexen und Zauberern überzeugt hätte, und wenn das Volk nicht über¬
zeugt gewesen wäre, daß es kein schlimmeres Verbrechen an der Menschheit
gäbe, als den Abfall vom rechten Glauben.

Die Gerechtigkeit verlangt, darauf hinzuweisen, daß die Hexenprozesse in
evangelischen Landen nicht weniger energisch betrieben worden sind als in
katholischen. Das religiöse Gefühl artete, wie zu der Zeit der Flagellanten, zu
einer Krankheit aus, welche auch das Gefühl des Volkes dem Rechte gegenüber
entscheidend beeinflußte. Und wenn wir an diesen Hexenprozessen schaudernd
erleben, wie ein krank gewordenes Rechtsgefühl das Leben und das Glück
Tausender zu vernichten vermag, so ergreift es uns noch tiefer, wenn wir uns
klar darüber werden, daß sogar bloße Zweckmäßigkeitsgründe das Rechtsgefühl
auf das stärkste beeinflußen können. Wenn heutzutage ein Mensch durch einen
anderen getötet wird, so machen wir bei der rechtlichen Beurteilung der Tat
die feinsten Unterscheidungen: Wer die Tat mit Vorsatz und Überlegung begeht,
wird als Mörder bestraft; begeht er sie mit Vorsatz, aber ohne Überlegung, so
ist er ein Totschläger; hat er den Getöteten nur verwunden, aber nicht töten wollen,
so spricht der Jurist von Körperverletzung mit tätlichem Ausgange; hat er ihn
ohne Vorsatz, aber infolge von Fahrlässigkeit verwundet, und ist der Verwundete
den Folgen der Verwundung erlegen, so nehmen wir fahrlässige Körperverletzung
an; hat nur ein unglücklicher Zufall die Körperverletzung und den Tod verursacht,
so ist der Verletzende strafrechtlich überhaupt nicht verantwortlich.

Diese Unterscheidungen entsprechen im wesentlichen dem heutigen Rechtgefühl.
Im Gegensatz dazu kennt das alte Recht und insbesondere das alte deutsche
Recht nur eine einzige Art der Tötung. Wer einen anderen getötet hatte, ver¬
fiel der Blutrache, gleichgültig, ob ein bösartiger Meuchelmord oder ob ein
bloßer unverschuldeter Zufall vorlag. Wir können uns nicht vorstellen, daß
auch in jenen Zeiten der Unterschied zwischen den verschiedenen Tatarten den
Deutschen nicht zum Bewußtsein gekommen sein sollte, der Schwierigkeit aber,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/31>, abgerufen am 26.05.2024.